Er war ein ganz Großer der Neuen Musik. Seit Jahrzehnten prägte er das Musikgeschehen in aller Welt mit – gab Entwicklungen vor, an denen man sich schulen oder die man rigoros ablehnen konnte. Kalt ließ sein Wirken wohl kaum jemanden, der sich mit Musik unserer Zeit befasste. Christian Heindl zum Tod des französischen Komponisten und Dirigenten PIERRE BOULEZ.
Kompromisslos im Blick nach Vorne
Betrachtet man das Wirken von Pierre Boulez (26. März 1925 – 5. Jänner 2016) aus der Sicht des 21. Jahrhunderts, so fällt es sehr leicht, ihm ausschließlich Rosen zu streuen. Längst befand sich der ebenso greise wie weise Maestro außerhalb aller Kontroversen, die es in früheren Jahrzehnten um seine kompromisslose Haltung gegeben haben mag. Nur so ein Kompromissloser ist es freilich, der in der Musikgeschichte Chance auf einen der hervorgehobenen Plätze beanspruchen darf. Boulez darf dies in vielerlei Hinsicht.
Es war sein paralleles Wirken als schöpferisch Tätiger wie als Dirigent, das den großen Franzosen zu einer auf seine Art singulären Persönlichkeit machte. Dass er sich am Pult keineswegs ausschließlich aktuellem Schaffen widmete, sondern bei den Neuerern früherer Zeiten ansetzte, zeigte seinen Sinn und sein Verständnis für die großen Zusammenhänge. So wurden denn der legendäre „Chereau-Ring“ – die von Boulez dirigierte Bayreuther Tetralogie-Inszenierung 1976 – anfangs teils auch angefeindet, in der nachfolgenden Rezeption freilich bald zu einem grandiosen Meilenstein der Interpretation erklärt.
Sein Verständnis für die Aufbrüche Wagners, die Franzosen der Jahrhundertwende und schließlich insbesondere die Erkenntnisse aus der Beschäftigung mit seinem Lehrer Olivier Messiaen und der Musik der „Wiener Schule“ führte konsequent zu seinen eigenen Entwicklungsschritten zur seriellen Musik.
Darüber hinaus prägte er das internationale Musikleben auch als Gründer des Ensemble intercontemporain wie auch des IRCAM, das sich rasch zu einem federführenden Institut für die Entwicklung und den Einsatz elektronischer Mittel in der Musik herausbildete.
Wien als Ort für Wien modern
Es war keineswegs nur, aber in einem hohen Maß auch Boulez, der die Offenheit und die Ohren von heimischen Konzertveranstaltern und -besuchern weitete. Wer sich in Österreich für die internationale Musik einsetzte, konnte und wollte an seinem Schaffen nicht vorbei. So standen seine Werke etwa von Anfang an auf den Programmen des 1958 von Friedrich Cerha und Kurt Schwertsik gegründeten Ensembles die reihe. Viele junge österreichische Komponistinnen und Komponisten pilgerten auch zu seinen Vorträgen bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik.
Pflegte zeitgenössische Musik in Wien dennoch vielfach ein Orchideendasein, so wurde dem Neuen mit dem 1988 gegründeten Festival Wien modern ein Platz geboten, an dem es unmissverständlich ernst genommen wurde. Die besten Interpretinnen und Interpreten an den exponierten Spielstätten wurden aufgeboten, die finanziellen Mittel der öffentlichen Hand nicht als Alibi-Aktion gewährt. Auch wenn er selbst an dessen Etablierung nicht aktiv mitgewirkt hatte: Die Zeit dafür war reif, weil Boulez – AUCH Boulez – so hartnäckig für eine Bewusstseinsänderung gewirkt hatte, dass man schließlich daran nicht mehr vorbeisehen konnte. Dass er und seine eigene Musik bei Wien modern Fixpunkte waren, versteht sich und muss gutgeheißen werden. Unabhängig davon, wie man individuell zu seinen Kompositionen steht, kann man sie in jedem Fall als wertvolle Prüfsteine des eigenen Zugangs zur Musik verstehen.
Anerkennung von allen Seiten
Von New York bis Wien gelang es dem Kosmopoliten Boulez, ein Vorkämpfer, ein Rufer für die neue und neueste Musik zu sein und damit naturgemäß einem „klassischen“ Konzertpublikum in seiner gelegentlichen Bequemlichkeit auf die Zehen zu treten, auf der anderen Seite aber auch bei den „konservativsten“ Veranstaltern – etwa den Salzburger Festspielen oder der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien – uneingeschränkte Anerkennung für seine Interpretationen vor allem von Werken der klassischen Moderne von Mahler über Webern und Strawinsky aufwärts zu erzielen. Meine persönlichen Favoriten: die auf CD festgehaltene Aufnahme von Béla Bartóks Konzert für Orchester mit dem Chicago Symphony Orchestra – dort, wo einst Georg Solti nahezu ein Bartók-Monopol besessen hatte, gelang für mich eine unvergleichliche Sternstunde dieses Werks – und sein Dirigat der 2007 im Theater an der Wien gezeigten Chéreau-Inszenierung von Leoš Janáčeks „Aus einem Totenhaus“, das sich auf DVD annähernd nacherleben lässt.
Mit den Wiener Philharmonikern hat er sich ohne Zweifel außergewöhnlich gut verstanden. Er, der „Revolutionär“ verstand sich mit ihnen in einer Sprache, die ein Ergebnis stets weit über dem Durchschnitt zeitigte. Das war nie bloß nur Mittelmaß. Und durch ihn ließ sich das Orchester ganz offenbar auch gerne animieren, sich dem neuen und neuesten Schaffen zu öffnen. Wer so ehrlich und leidenschaftlich für die Sache unterwegs war, dem war man gerne zu folgen bereit.
Würdig verabschiedet
Zum Glück, wenn man es in diesem Moment so schreiben darf, blieb Österreich Pierre Boulez nichts schuldig. Sein 90. Geburtstag war Anlass wirklich würdigen Feierns, insbesondere in Form des Schwerpunktes bei den Salzburger Festspielen und auch beim Paradefestival Wien modern stand er einmal mehr im Scheinwerferlicht, indem man mit „Pli selon pli“ eines seiner Hauptwerke ansetzte. Die Aufführung durch Marisol Montalvo und das ORF Radio-Symphonieorchester Wien unter der Leitung von Cornelius Meister wurde somit in gewisser Weise zu einer Verabschiedung des großen Schaffenden von dieser Welt.
Christian Heindl