Gestern war die Premiere, von Montag bis Samstag gibt es Folgaufführungen. „Oper unterwegs“ zeigt in der wunderbaren Anker-Halle im 10. Wiener Bezirk ein Stück Theater von Franz Kafka mit Tonband-Zuspielungen von Olga Neuwirth. Die weitere Musik zum Stück liefern drei Alphörner. Konzept und Inszenierung dieser Dramatisierung sind von der Osttirolerin Helga Utz, die nach 16 Jahren Tätigkeit an der Staatsoper Stuttgart als Dramaturgin 2009 die „Oper unterwegs“ gründete und die im Vorjahr bereits „Undine geht“ (Musik:Olga Neuwirth) in einem fahrenden historischen Opernuraufführungszug inszenierte.
Der Jäger Gracchus ist eine fragmentarische Erzählung von Franz Kafka, die 1917 entstand und posthum von Max Brod veröffentlicht wurde. Sie beschreibt einen Toten, der nicht zur Ruhe kommen kann. Die Erzählung schrieb er in Riva am Gardasee. Ein Bezug des Namens Gracchus zu seinen Namensvettern aus der römischen Geschichte, den Volkstribunen, ist nicht ohne weiteres erkennbar. Die lateinische Bedeutung „der Gnadenreiche“ wird hier auf jemanden angewendet, dem ausdrücklich die Gnade des ersehnten Todes versagt wird. Kafka könnte eher an das Wort gracchio, das im Italienischen Dohle heißt (im tschechischen Kavka = Dohle), erinnern wollen und so seine Identifizierung mit der Gestalt dieses Jägers deutlich gemacht haben.
Egal: Was Utz in der Dramatisierung mit großem Personal – aber es gibt eigentlich nur eine Sprechrolle, die des Gracchus, mit dem Bürgermeister von Riva und zwei Fremdenführern sind es vier – im Spielraum der Halle vor sich gehen lässt (Dauer weniger als eineinhalb Stunden) ist höchst virtuos und rätselhaft zugleich. Hingehen!
Und wie kommt nach Riva? – Machen Sie sich darauf gefasst, dass Sie vor dem Betreten der Halle Eintrittskarten mit vierstelligen Nummern von 1001-9999 erhalten werden, die einzeln per Lautsprecher aufgerufen werden. Stellen Sie sich folgsam in einer Warteschlange auf, neben dieser vollführt eine ältere grauhaarige Frau Arbeiten an eine Nähmaschine. Sie werden dann einzeln von einer strengen Empfangsdame der Reihe nach durch eine kleine Tür eingelassen, eine freundlichere weiter drinnen kontrolliert dann ihre Eintrittskarte (zu mir sagte sie „Sie werden hier eine schöne Heimat haben“) und entlässt Sie in einen dichten, fast dunklen Tannenwald (Ausstattung: Thomas Unthan). Sie suchen sich zunächst einen Platz unter einem schönen Baum, gehen dann aber zögernd weiter, stoßen auf eine Gruppe von Mädchen in weißen Kleidern, die sie stumm alle mit einer Handbewegung in eine bestimmte Richtung zu gehen ermuntern, dort empfängt Sie ein Mann, in der Haltung eines Oberkellners und weist Ihnen nach der Kontrolle Ihrer Nummer einen Platz auf einer festlich gedeckten Tafel zu. Wenn alle eingelangt sind – man sitzt nebeneinander fast auf Tuchfühlung – kann das Spiel beginnen … Den Jäger Gracchus spielt Manfred Hemm, den Bürgermeister von Riva Christoph Leszczynski, beide großartig. Aber auch alle anderen.
Ein Theater auf allen Ebenen, auch bloße Choreographie oft, Gestik, faszinierende Geräuschmusik der Gehenden, ihrer Schritte, der rauschenden weißen Falten der langen Kleider der Kinder von Riva, Fremdenführungen in fremden Sprachen, die Fremden machen Fotos und steigen auf Gracchus, den sie gar nicht zu sehen scheinen, gegen Ende ein feierliches Begräbnis mit Trauerzug und Blumenspenden aller Bewohner von Riva; die Alphornspieler, die man mit ihren Instrumenten sieht und die unermüdlich immer wieder schön auf ihnen blasen, haben Vogelköpfe (Rabenköpfe?); sind alle Tote?
Man will eigentlich gar nicht alles preisgeben, was den Zuschauer in der Ankerbrothalle erwartet. Hier ein Auszug aus Kafkas Erzählung. Gracchus trifft auf den Bürgermeister und führt mit diesem das folgende Gespräch: „Hier liege ich seit damals, als ich, noch lebendiger Jäger Gracchus, zu Hause im Schwarzwald eine Gemse verfolgte und abstürzte. Alles ging der Ordnung nach. Ich verfolgte, stürzte ab, verblutete in einer Schlucht, war tot und diese Barke sollte mich ins Jenseits tragen. Ich erinnere mich noch, wie fröhlich ich mich hier auf der Pritsche ausstreckte zum erstenmal. Niemals haben die Berge solchen Gesang von mir gehört wie diese vier damals noch dämmerigen Wände.
Ich hatte gern gelebt und war gern gestorben, glücklich warf ich, ehe ich den Bord betrat, das Lumpenpack der Büchse, der Tasche, des Jagdgewehrs vor mir hinunter, das ich immer stolz getragen hatte, und in das Totenhemd schlüpfte ich wie ein Mädchen ins Hochzeitskleid. Hier lag ich und wartete. Dann geschah das Unglück.“
„Ein schlimmes Schicksal“, sagte der Bürgermeister mit abwehrend erhobener Hand. „Und Sie tragen gar keine Schuld daran?“
„Keine“, sagte der Jäger, „ich war Jäger, ist das etwa eine Schuld? Aufgestellt war ich als Jäger im Schwarzwald, wo es damals noch Wölfe gab. Ich lauerte auf, schoß, traf, zog das Fell ab, ist das eine Schuld? Meine Arbeit wurde gesegnet. ›Der große Jäger vom Schwarzwald‹ hieß ich. Ist das eine Schuld?“
„Ich bin nicht berufen, das zu entscheiden“, sagte der Bürgermeister, „doch scheint auch mir keine Schuld darin zu liegen. Aber wer trägt denn die Schuld?“
„Der Bootsmann“, sagte der Jäger. „Niemand wird lesen, was ich hier schreibe, niemand wird kommen, mir zu helfen; wäre als Aufgabe gesetzt mir zu helfen, so blieben alle Türen aller Häuser geschlossen, alle Fenster geschlossen, alle liegen in den Betten, die Decken über den Kopf geschlagen, eine nächtliche Herberge die ganze Erde. Das hat guten Sinn, denn niemand weiß von mir, und wüßte er von mir, so wüßte er meinen Aufenthalt nicht, und wüßte er meinen Aufenthalt, so wüßte er mich dort nicht festzuhalten, so wüßte er nicht, wie mir zu helfen. Der Gedanke, mir helfen zu wollen, ist eine Krankheit und muß im Bett geheilt werden. Das weiß ich und schreie also nicht, um Hilfe herbeizurufen, selbst wenn ich in Augenblicken – unbeherrscht wie ich bin, zum Beispiel gerade jetzt – sehr stark daran denke. Aber es genügt wohl zum Austreiben solcher Gedanken, wenn ich umherblicke und mir vergegenwärtige, wo ich bin und – das darf ich wohl behaupten – seit Jahrhunderten wohne.“
„Außerordentlich“, sagte der Bürgermeister, „außerordentlich. – Und nun gedenken Sie bei uns in Riva zu bleiben?“
„Ich gedenke nicht“, sagte der Jäger lächelnd und legte, um den Spott gutzumachen, die Hand auf das Knie des Bürgermeisters. „Ich bin hier, mehr weiß ich nicht, mehr kann ich nicht tun. Mein Kahn ist ohne Steuer, er fährt mit dem Wind, der in den untersten Regionen des Todes bläst.“
Helga Utz über die Rolle der Musik, für die Olga Neuwirth einen Kompositionsauftrag erhielt: Die Musik sei es, die als einzige die Geheimnisse dieses ganzen Geschehens und der Worte „versteht“. „Es sind Kafkas rätselhafte Worte, die dem Grauen einen unbestimmten Sog verleihen, weil wir uns durch ihn verstanden fühlen, ohne dass man es genau benennen könnte. Jeder fühlt sich von Kafka verstanden, aber an Kafka gleitet das Verständnis ab wie Regenwasser an Schwertlilienblättern; die verstehenden Worte ragen nach ihrem Konsum genauso kristallen jungfräulich in den kalten Nachthimmel, wie Kafka sie geschrieben hat. Der Jäger wird sich Riva entziehen, dem mehltauigen Frieden, dem kümmernden Dasein. Er wird sich entziehen auf geheimnisvolle Weise, er, der Fehlerhafte, der Ausgestoßene, der Hinausgeschleuderte. Sein Geheimnis versteht nur die Musik, die ihn mit sich nimmt, die er mit sich nimmt, die uns zurücklässt am Ufer, am Land, an einem Land, nach dem wir uns nie gesehnt haben.“ Heinz Rögl
Der Jäger Gracchus – die Reise nach Riva
ein Stück Theater nach Franz Kafka
Ton-Zuspielungen von Olga Neuwirth
Spielplan:
Sonntag 27. Juni, 21:00 Uhr (Premiere)
Montag 28. Juni, 21:00 Uhr
Dienstag 29. Juni, 21:00 Uhr
Mittwoch 30. Juni, 21:00 Uhr
Donnerstag 01. Juli, 21:00 Uhr
Freitag 02. Juli, 21:00 Uhr
Samstag 03. Juli, 21:00 Uhr (letzte Vorstellung)
Fotos Der Jäger Gracchus: Michele Joerg-Ronceray
Foto Olga Neuwirth: Charlotte Oswald