More Ohr Less: Sommerakademie mit Abstraktion

Hans Joachim Roedelius und Team bitten zur neunten Ausgabe von More Ohr Less. In Lunz am See üben sich vom 2. bis 4. August Christopher James Chaplin, Stefan Schneider und Dorit Chrysler im freien Zugang zur Tonkunst. Liedermacherin Clara Luzia, Hotel Palindron und Cantlon, der Pianist Arnold Kasar und viele andere kreisen musikalisch um das Jahresthema „Zauber“. Die Natur soll zwischen Avantgarde, Experiment und Songwriting ihr Übriges tun.

„Es ist und bleibt ein Treffpunkt von Gleichgesinnten, von Menschen, die wach sind, die genau betrachten und verinnerlichen, was um sie herum passiert, um daraus für sich die richtigen Schlüsse zu ziehen“, sagt Roedelius über das Verbindende von More Ohr Less. Das Besondere dieses „Symposions und Festspiels”, wie die Eigendefinition des dreitägigen Reigens inmitten der Beschaulichkeit des niederösterreichischen Lunz am See lautet, erkläre sich somit quasi von selbst, so Roedelius. Er will More Ohr Less in kein gängiges Format eingereiht wissen. Seit über 25 Jahren ist der deutsche Elektronikpionier, dem Menschen von Brian Eno bis Portisheads Geoff Barrow, von David Bowie über U2s The Edge, Morgan Fisher, Daniel Lanois, die Musiker von Autechre und Boards of Canada ihre Referenz erweisen, mit dem Ort, den Menschen und der Landschaft von Lunz am See vertraut.

Davon zeugt nicht nur die genreübergreifende Programmierung, die heuer Christopher James Chaplin, Stefan Schneider und Dorit Chrysler ebenso ins Spiel bringt wie den einst für einen Grammy nominierten US-Komponisten Tim Story, die Schweizer Cellistin Clementine Gasser, den indischen Sitar-Spieler und Gitarristen Chandra Shukla, die US-Sängerin Elisa Faires, den jungen DJ Julian Horn, VJ Florian Tanzer aka Luma Launisch, die Ausnahme-Choreografin Lua Virtual mit ihren „Profilaien“ und Roedelius selbst. Dem Umstand geschuldet, dass sich das Festival jedes Jahr ein anderes Thema verordnet, gibt dem Außermusikalischen Raum und soll darüber zurück zum Hauptthema „Musik“ führen. Nicht nur weil geneigte Festivalbesucher durch die Landschaft ziehen können, um Holunderzweige zu schneiden, um daraus Holzflöten zu basteln –  wer will, erlernt in Lunz das Maultrommelspielen, bevor es am frühen Abend auf der Seebühne zur eigentlichen Sache geht. More Ohr Less überwindet die Dogmen klassischer Festivalveranstaltungen.

„Zauber” lautet das diesjährige Jahresthema. In der Vergangenheit waren es Begriffe wie „Zufall“ oder „Wurzelwerk“ mit denen sich More Ohr Less beschäftigte. Philosoph Leo Hemetsberger referiert zum Festivalauftakt darüber, und, weil die Natur in Lunz am See die Hauptrolle spielt, ist mit Martin Kainz ein auch im Kunstfach verhafteter Biologe geladen. Er bringt die Sicht der Naturwissenschaft ins Spiel. Das Interdisziplinäre hat bei More Ohr Less Tradition.

„Wie so vieles in meinem Leben wurde mir auch Lunz geschenkt“, erklärt Roedelius, der sich mit Wolff Baron von Keyserlingk sogar eine Zauber-Performance in die ohnehin „sehr zauberische Gegend“ geladen hat. Der gebürtige Deutsche entdeckte Lunz am See ähnlich unkonventionell wie sich seine Musik seit je her gibt. Es begab sich auf Korsika in den sechziger Jahren – in einem Naturistencamp. Roedelius musste lediglich nackt auf einer Brücke stehen. „Ich stand da, sah den Schildkröten zu, ein anderer Nackter blieb stehen und wir kamen ins Gespräch“, erzählt Roedelius, schelmisch mit den  Augen zwinkernd. Dass es sich beim Naturistenkollegen um Michael Hutterstrasser, den damaligen Besitzer der Bösendorfer Klavierfabrik handelte, stellte sich erst später heraus. Hutterstrasser besaß unweit von Lunz einen Sommerwohnsitz. Roedelius, der als gelernter Heilmasseur Hutterstrasser mittlerweile zum Klienten hatte, wurde eingeladen – mit dem Ergebnis, dass er fortan mit seiner Familie jährlich zur Sommerfrische nach Lunz reiste. Als Roedelius im Jahr 2004 einen Ort für die erste Live-Aufführung seines mit Tim Story entstandenen Albums „Lunz” suchte, das der idyllischen Landschaft, dem Ort und seinen Bewohnern einen elegisch-sphärischen Soundtrack schenkte, war es naheliegend die dortige Seebühne zu nutzen – gleichzeitig die Initialzündung für More Ohr Less.

„More Ohr Less ist eigentlich eine Sommerakademie“, sagt Roedelius. Der 77-Jährige spricht von gewissen Lerneffekten: „Es geht vor allem darum, zu zeigen, wie enorm wichtig die Freiheit für unsere Lebensgestaltung, vor allem aber unser geistiges Fortkommen ist.” Es gehe um Selbstbestimmung und Respekt, so Roedelius, der für sich selbst spricht, wenn er etwa an seinen eigenen Auftritt mit den Komponisten Christopher Chaplin und Stefan Schneider denkt. „Es wird eine sehr offene Form des Spielens sein. Gefragt ist zuallererst die Flexibilität aller am Prozess der Improvisation beteiligten Personen“, sagt Roedelius und wird konkreter: „Chaplin und auch Schneider werden vielleicht zuerst mir, oder ich ihnen, beim Spielen zuhören, damit wir schließlich im Zusammenspiel unserem Ideal von Tonkunst zu Diensten sein können, zu unserer eigenen Freude und zur Erbauung unserer Hörerschaft.“
Johannes Luxner

More Ohr Less 2012
9. Symposion und Festspiel 2. bis 4. August 2012
Jahresthema: „Zauber“
Seebühne Lunz am See, Niederösterreich