„Mit gemeinsamer Stimme auftreten, um die gleichen Rechte wie die Großen zu erkämpfen“ – ALEXANDER HIRSCHENHAUSER (VTMÖ) im mica-Interview

Der VTMÖ, der Verband unabhängiger Tonträgerunternehmen, Musikverlage und Musikproduzenten Österreich, feiert sein 20-jähriges Bestehen. Alexander Hirschenhauser, Sprecher des VTMÖ, zeichnet im Interview mit Markus Deisenberger die Entwicklung von einem „Debattierclub“, der noch um Richtung und Gemeinsamkeit rang, zu einem ernstzunehmenden und schlagkräftigen Player im Musik-Biz nach und spricht über Erfolge der Vergangenheit und Ziele für die Zukunft.

In einem Text, den du anlässlich des Jubiläums für Film Sound & Media geschrieben hast, schilderst du die Anfänge des VTMÖ folgendermaßen: „Niemand von uns hatte Erfahrungen beim Aufbau einer Interessensvertretung. Wir wussten bloß, dass die kleinen Labels an allen Ecken benachteiligt sind und mit einer gemeinsamen Stimme auftreten müssen, um gehört zu werden.“ Es war also die absolute Notwendigkeit, die euch zusammengeführt hat?

Alexander Hirschenhauser: Ja, es lag damals auch im Zeitgeist. Ein Jahr zuvor war der deutsche VUT [Verband unabhängiger Musikunternehmer*innen e.V.] gegründet worden.
Die entsprechende englische Vereinigung gab es schon deutlich länger. Aber es zog sich eine Bewegung quer durch Europa, die nationale Indie-Verbände entstehen ließ.

War der VUT Vorbild für euren Zusammenschluss?

Alexander Hirschenhauser: Für uns eigentlich nicht. Aber für Peter Rantasa, den damaligen mica-Geschäftsführer, schon, glaube ich. Er und Helge Hinteregger waren wichtige Geburtshelfer. Für Rantasa war der VUT schon ein Vorbild. Er hat die europäische Entwicklung beobachtet, und das war die Motivation, das auch bei uns anzustoßen.

Wenn man sich die Namen der Protagonisten der ersten Stunde durchliest – Zauner, Quendler, Hirschenhauser, Pinzolits, de Goederen – geht es von den Typen, aber auch von der Musik, die ihr damals repräsentiertet, wohl kaum unterschiedlicher. Trotzdem hat man es geschafft, einen gemeinsamen Nenner zu finden. Wie schwer oder leicht war das?

Alexander Hirschenhauser: Das war nicht tragisch, weil uns allen klar war, dass wir gemeinsame Interessen haben. Die Probleme sind die gleichen, die Gesetze gelten für alle gleich. Die Verteilungsregeln der Verwertungsgesellschaften und die Intransparenz – auch für alle gleich. Wie haben alle mit den gleichen Problemfeldern, etwa dem ORF-Airplay, gekämpft. Für mich persönlich aber war es ein großer Lernprozess.

Inwiefern?

Bild Alexander Hirschenhauser
Alexander Hirschenhauser (c) Alexander Hirschenhauser

Alexander Hirschenhauser: Ich war mit dem Black Market und der Soul Seduction Distribution damals in einer Situation, in der wir uns vom Selbstbild her beinahe extraterritorial fühlten. Wir hatten eine eigene Szene, die boomte, die Wiener Elektronik. Wir hatten wirtschaftlich Erfolge mit Leuten wie dZihan & Kamien, den Sofa Surfers, Kruder & Dorfmeister, Pulsinger & Tunakan u. a. – das alles hat sich gut verkauft und wir hatten ein gutes Auskommen, was dazu führte, dass wir glaubten, mit dem ganzen anderen rundherum nichts zu tun zu haben. Für uns gab es kein Radio – FM4 gab es damals noch nicht oder war gerade erst gegründet worden. Wir mussten uns das also alles selber machen und haben es auch selber gemacht. Zu sehen, dass ganz andere Baustellen ähnliche Problemstellungen haben, war aus meiner sehr persönlichen Sicht heraus mit einem großen Aha-Effekt verbunden. Vielleicht sollten wir ja doch besser mit denen kooperieren, mit denen wir glaubten, gar nicht so viel gemeinsam zu haben.

Und es gab dann auch sehr schnell erste große Erfolge zu verzeichnen, den Rahmenvertrag mit der austro mechana etwa, der auch den Kleinen, d. h. den VTMÖ-Mitgliedern, auf einmal jene Lizenzierungsbedingungen ermöglichte, wie sie die großen Companies hatten …

Alexander Hirschenhauser: Ja. Das hat eine Zeitlang gut funktioniert. Leider wollte die austro mechana den Deal nach ein paar Jahren nicht mehr mit uns verlängern. Ich habe nie kapiert, warum. Wahrscheinlich ein Politikum. In dieser Zeit haben physische Produkte aber ohnedies an Bedeutung verloren.
Die Lizenzierungen mit der austro mechana wurden unwichtiger, weil die Auflagen an physischen Produkten von Jahr zu Jahr weniger wurden.

Im Artikel in Film Sound & Media sprichst du davon, dass damals die Eigendynamik der digitalen Ökonomie erbarmungslos zuschlug. Durch das Internet war ja eine zunächst verheißungsvolle Zeit herangebrochen. Artists erwarteten sich eine Demokratisierung der Marktbedingungen und eine Erleichterung des Absatzes ihrer Kunst, eine Eindämmung der „Middlemen“ – die waren ja nicht mehr in dem Ausmaß vonnöten wie all die Jahre davor – und einen ungleich direkteren, einfacheren Vertrieb. Doch es kam ganz anders: Urheberinnen und Urheber mussten dabei zusehen, wie monopolartig agierende Unternehmen, um es metaphorisch zu formulieren, die Weltmeere leerfischten, und alle schauten hilf- und tatenlos dabei zu.

Alexander Hirschenhauser: Das unterschreibe ich so voll und ganz. Das war die große Frustration, die wir alle fühlten.

Wie hat man sich dagegen gewehrt? Das Merlin Network entstand, die Entstehung der Urheberechts-Richtlinie wurde durch Lobbying-Arbeit begleitet.

Alexander Hirschenhauser: Die Richtlinie kam erst viel später, aber Merlin hat heuer sein fünfzehnjähriges Bestehen gefeiert, und global gesehen war das der Einschnitt. Plötzlich bestand wieder Chancengleichheit.

Wie kann man den Leser:innen Merlin, und wofür dieser Zusammenschluss steht, erklären?

Alexander Hirschenhauser: Das ist eine global agierende Agentur für Onlinerechte. Es gab und gibt den europäischen Dachverband für Indie-Labels IMPALA und den weltweiten Dachverband, das Worldwide Independent Network For Music. Dort entstand die Idee, dass es ein gemeinsames Instrument braucht, wenn man mit den Großen, die zu diesem Zeitpunkt bereits alle Anteile an Spotify hielten und damit direkt im Aufsichtsrat mitbestimmen konnten, was läuft, mithalten wolle, also auf Augenhöhe Deals abschließen wolle. In der Eigendefinition ist Merlin eine non-exclusive Agentur für Rechtewahrnehmung, „online only“. D.h. die Wahrnehmung beschränkt sich auf online und will nicht in andere Deals eingreifen, die Rechteinhaber haben könnten. Das heißt: Es muss niemand, es darf aber jeder. Das ist nebenbei gar nicht so einfach wegen der Antitrust-Gesetzgebung im angloamerikanischen Raum. Da die Agentur weltweit agieren wollte, musste darauf geachtet werden, dass diese Regeln nicht gebrochen werden. Merlin begann, nach und nach mit den Plattformen Verträge auszuhandeln. Die Gründung war ein Meilenstein. Ich saß in den Board-Meetings beider Strukturen, und das Startkapital kam, wenn mich nicht alles täuscht, aus einem gewonnenen Prozess gegen eines der Major-Labels, die in einem ihrer vielen Mergers Marktmacht missbraucht hatten und deshalb zu einer beträchtlichen Strafzahlung verdonnert worden waren, die an IMPALA ging. Daraus konnte die Finanzierung von Merlin gestemmt werden.

Als ein wichtiges Jahr hast du mehrfach 2008 bezeichnet. In dieser Zeit habe eine wichtige Konsolidierung stattgefunden …

Alexander Hirschenhauser: Ja. Da gab es insofern eine Zäsur, weil wir von der Arbeitsweise her Weichen legten, ohne die dieses Wachstum zum heutigen Stand nicht möglich gewesen wäre. Wir waren von Anfang an sehr basisdemokratisch organisiert. Ich bin Sprecher des Leitungsteams, d. h. gewähltes Teil des Leitungsteams. Das Leitungsteam kann aus seiner Mitte heraus eine Person bestimmen – so haben wir das in den Statuten einmal geändert –, die mit bestimmten Zusatzaufgaben betraut wird und bis zu einer bestimmten Grenze zeichnungsberechtigt ist. Das waren Dinge, die sich entwickelt haben, und ohne die man nicht schlagkräftig genug gewesen wäre, um ein solch rapides Wachstum zu stemmen. Bis dahin habe ich uns immer auch ein wenig als „Debattierclub“ empfunden. Herauszufinden, wer wir sind, wohin wir wollen, was wir dafür brauchen und wie der Weg dorthin am besten zu beschreiten ist, hat gedauert. Das gemeinsam für alle zufriedenstellend festzulegen, konnte nur durch lange Debatten entstehen. Es war zwischen 2008 und 2010, dass sich für uns herauskristallisierte, wohin der Weg geht und wie er zu bestreiten ist.

Eine notwendige Professionalisierung?

Alexander Hirschenhauser: Ja, in den Managementmethoden und Arbeitsweisen.

Die Debatte über den Anteil österreichischer Musik im Radio, die durch die Initiative SOS Musikland Österreich angestoßen wurde, dauert bis heute an. In regelmäßigen Abständen von zwei, drei Jahren gibt es wieder einen medialen Aufruhr. Geht die Gesamtentwicklung aus deiner Sicht in die richtige Richtung?

20 Jahre VTMÖ
Bild (c) VTMÖ

Alexander Hirschenhauser: Es geht seitwärts. Im Börsendeutsch nennt man das immer eine Seitwärtsentwicklung, wenn etwas stagniert, es also kein Wachstum gibt. Witzig, dass du sagst, alle zwei, drei Jahre kommt etwas in den Medien. Denn diese Charta-Agreements, die zwischen ORF und SOS Musikland abgeschlossen wurden, sind immer auf eine Dauer von ein paar Jahren abgeschlossen. Und immer, wenn es um die Verlängerung geht, hörte man wieder etwas, dann wird verhandelt und von beiden Seiten Öffentlichkeitsarbeit betrieben, Argumente ausgetauscht. Man muss sagen: Der ORF hat sich an die Vereinbarungen, die die Charta getroffen hat, durchaus gehalten. Drei Verträge gab es, der vierte wird seit Jahren verhandelt, weil er ausgelaufen ist. Noch immer aber ist keine Einigung in Sicht, weil sich der ORF querlegt. Man ist nur bereit, das zu verlängern, was bereits da ist, will aber keine weiteren Zugeständnisse machen. Seit ungefähr einem Jahr stehen die Verhandlungen still.

Was werden die Schwerpunkte der nächsten Zeit, sein, die der VTMÖ setzen möchte?

Alexander Hirschenhauser: Streaming und nutzungsbezogene Abrechnung der öffentlichen Aufführungen.

Du sprichst die geforderte Umstellung auf „pro rata temporis“ für Streams an, oder?

Alexander Hirschenhauser: Genau. Die Summer der Einnahmen geteilt durch die Anzahl der Streams ergibt einen Wert, und der wird pro Stream ausgezahlt. Wir fordern hingegen im ersten Schritt eine Umstellung auf „pro rata temporis“, wo mittels mehrerer Zählpunkte pro Song sichergestellt wird, dass 15 Minuten Hörvergnügen deutlich höher abgegolten werden als jene 2,5 Minuten langen Liedchen, die mittlerweile zur ertragsoptimierenden Norm im Charts-Sektor geworden sind. Um ein Vielfaches längere Songs sollten auch ein Vielfaches abwerfen. Das sollte eigentlich selbstverständlich sein.
Und es muss bei den Streamingdiensten auch endlich möglich werden, nach Urheberinnen und Urhebern zu suchen. Du kannst heute noch immer nicht nach einer Komposition oder einem Label suchen. Nach einem Stil ja, einem Song, einem bestimmten Artist auch. Aber das, was ein Label in Wirklichkeit ausmacht, wofür es steht, nämlich eine gewisse Credibility, auch im Sinne einer kulturellen Filterfunktion, bleibt unberücksichtigt. Nehmen wir an, du bist ein Fan von Ninja Tune. Die stehen für dich für etwas, und du möchtest wissen, was Ninja Tune in letzter Zeit herausgebracht hat? Geht nicht. Das muss endlich möglich sein.
Darüber hinaus müssen wir uns fragen, ob es beim Streaming nicht mehr in Richtung Usercentrics gehen sollte. Wir sind uns zwar aber im Klaren darüber, dass das sehr umstritten ist, es gibt auch gute Argumente dagegen, aber ich denke, man könnte das Beste aus den unterschiedlichen Welten miteinander vereinen.

Was sind die Vorteile von Usercentrics?

Alexander Hirschenhauser: Im Gegensatz zum Pro-Rata-System wird das, was du zahlst, auch genau unter jenen Songs aufgeteilt, die du gehört hast. Das bedeutet, dass über einen Family-Account die 15,99 Euro unter den Songs aufgeteilt werden, die gehört wurden. Die nutzen ja mehr als einzelne User und verteilen dadurch auch mehr als der Einzel-User. Da wäre eine user-centric-Einhebung eine Abhilfe. Es würde aber auch verschiedene Modelle des Missbrauchs sinnlos machen.
Hunderte Pods, die Playlists streamen, die man selbst hochgeladen hat, wären sinnlos.
Missbräuchliche Fake-Streams, die nur betrieben mit der Absicht werden, Lizenzen in die eigene Tasche zu spielen, wären plötzlich sinnlos. Aber auch im sozialen Bereich gibt es aktuell einige interessante Ansatzpunkte.

Zum Beispiel?

Alexander Hirschenhauser: In England gibt es Bestrebungen, jene 10%, die am meisten an Revenues bekommen, zur Einzahlung eines bestimmten Prozentsatzes in einen Topf zu verpflichten, und diese Einnahmen dann unter jenen Artists zu verteilen, die „up and coming“ sind und Potenzial haben.

Wer entscheidet das?

Alexander Hirschenhauser: Das ist der springende Punkt und nicht so einfach. Aber die Idee, „emerging artists“, die knapp vor dem Durchbruch sind, die Möglichkeiten zu geben, es zu schaffen, damit sie rascher in einen Vollerwerbstatus kommen und mehr Zeit und Energie in die eigene Karriere stecken können, ist gut. Trotzdem bin ich kein 100-prozentiger Freund der Geschichte.

Ein Satz zu Fair Pay?

Alexander Hirschenhauser: Das geht in die richtige Richtung. Es muss halt wirklich verpflichtend werden.

Haben wir etwas vergessen?

Alexander Hirschenhauser: Ja, der VTMÖ fordert Beiträge der Streaming-Plattformen zur Förderung lokaler Musikproduktionen in Form einer Abgabe auf alle in Österreich erzielten Umsätze, denn derzeit fließen mehr als 90% der Streaming-Wertschöpfung ins Ausland ab. Eine Abgabe, um regionale Produktion zu fördern und zu stärken – dafür müssten wir auch nicht auf die EU warten, das könnte man auch in Österreich tun.

Wie realistisch ist das?

Alexander Hirschenhauser:
Im Film gibt es das schon. Egal ob Netflix oder wer auch immer, muss einen Anteil der Einnahmen aus einer Produktion direkt regional investieren oder, wenn sie das selbst nicht tun, abführen, sodass der Filmfonds darüber verfügen kann. Etwas Vergleichbares wäre auch für die Musik wünschenswert. Eine ganz logische Geschichte eigentlich. Wenn 90% ins Ausland fließen, ist das eine berechtigte Forderung, dass man regionale Wirtschaft und Vielfalt fördern will. Wenn man das will, muss man von den 90% einfach ein bisschen etwas umverteilen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Markus Deisenberger


Der VTMÖ wurde im Jänner 2003 als „Dachverband unabhängiger Tonträgerunternehmen, Musikverlage und Musikproduzenten Österreichs“ in Wien gegründet. Ziel des VTMÖ ist die Zusammenfassung, der Schutz und die Förderung kleiner und mittelständischer Unternehmen der gesamten Musikbranche, insbesondere der Tonträgerunternehmen, Musikverlage und Musikproduzenten sowie die Unterstützung seiner Mitglieder in der Wahrnehmung ihrer kulturellen Aufgaben und ihrer sonstigen gemeinsamen Belange.


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