Das Unterrichten ist wie eine ständige Fortbildung – Enrique Mendoza im mica-Interview

Im Rahmen seines Artists-in-Residence-Programms stellt das BUNDESKANZLERAMT in Kooperation mit KULTURKONTAKT AUSTRIA ausländischen Kulturschaffenden Stipendien zur Verfügung. 2017 war der mexikanische Komponist ENRIQUE MENDOZA zu Gast in Österreich. Marie-Therese Rudolph sprach mit dem Künstler über seine Ausbildung in Mexiko, seinen Ansatz des Unterrichtens und seine ungewöhnlichen Werktitel.

Bitte erzählen Sie etwas über die Anfänge Ihrer musikalischen Laufbahn in Mexiko. Wie kam es dazu, dass Sie Komposition studierten?

Enrique Mendoza: Es war eine sehr spezielle Reise, oft auf verschlungenen Pfaden. Ich begann sehr spät, lernte erst mit fünfzehn Jahren E-Gitarre zu spielen. Ich mochte damals vor allem Rock ’n’ Roll, Heavy Metal und solche Art von Musik. Doch dann begann mein Gitarrenlehrer mit einem Kompositionsstudium und ich wollte es ihm gleichtun. Also nahm ich mit achtzehn Jahren mein klassisches Kompositionsstudium auf. Das war ein sehr eindrücklicher und prägender Moment: Ich hatte ja wenig musikalische Vorbildung – viele spielen bereits als Kind Klavier oder Geige. Ich war begeistert von all diesen neuen Dingen, die auf mich einwirkten.

Ich studierte Komposition in Mexiko City am Centro de Investigación y Estudios de la Música (CIEM). Dort werden Studierende sehr gut vorbereitet, es ist phasenweise recht intensiv und wirklich hervorragend. Meine Band löste sich auf und ich hörte auf, Rock zu spielen. Daher widmete ich mich voll und ganz der Neuen Musik. Als ich mit dem Studium fertig war, wusste ich eigentlich nicht genau, was ich tun sollte. Ich hatte sieben Jahre studiert und schloss 2003 mit dem Diplom ab.

Wie entstand Ihr Entschluss, nach Europa zu gehen?

Enrique Mendoza: Mir stellte sich die essenzielle Frage, wie meine Musik aufgeführt werden könnte, wie ich Kontakte zu Festivals und Ensembles herstellen könnte. Ich arbeitete dann auch als Kopist, was meine Verbindung zur Musik noch vertiefte. Nach und nach wurden meine Werke in Mexiko City gespielt. Die Zeit verging und mir wurde klar, dass ich aus dieser Stadt wegmusste. Ich wollte mehr kennenlernen und daher entschied ich mich, nach Europa zu gehen. Es wäre zwar einfacher gewesen, in die USA zu gehen und dort zu studieren, aber mich hat Europa immer schon mehr angezogen. Hier vor allem die nördlichen Länder mit ihrer Fahrradkultur und vielem mehr – ein großer Kontrast zum Leben im Mexiko. Ich zog also in die Niederlande.

Mein erster Ausflug nach Europa brachte mich 2003 nach Paris, wo ich das Land Mexiko beim 51. International Rostrum of Composers Festival mit meiner Komposition „Los Mensajeros“ für Bläserquartett vertrat. Von dort aus besuchte ich die Niederlande und war sofort begeistert. Hier wollte ich hin. Es dauerte aber noch ein paar Jahre, bis ich diesen Schritt vorbereitet hatte. In Mexiko unterrichtete ich Musik an einer Schule, dafür hatte ich einige zusätzliche Kurse etwa in Pädagogik belegt. Das Unterrichten ist ein ganz wichtiger Bereich in meinem Leben, der Fokus hat sich allerdings ein wenig in Richtung Technik verschoben – Komposition und Medien unterrichte ich aber natürlich auch.

„Aber mit dem Ziel Europa vor Augen war es machbar.“

Was studierten Sie in Amsterdam?

Enrique Mendoza: In den Niederlanden habe ich dann Filmmusik studiert. Ich war wirklich glücklich, nachdem ich die Aufnahmeprüfung geschafft hatte. Allerdings war ich schon dreißig Jahre alt, als ich mit meinem Master begann. Ich hatte davor zwei Musik-Schulbücher – eines für die Schülerinnen und Schüler und eines für die Lehrenden – für die Unterstufe geschrieben. Damit hatte ich etwas Geld angespart und konnte mir die Übersiedlung nach Europa leisten. Es war sehr viel Arbeit und ich hatte neun Monate keinen einzigen freien Tag, weil ich parallel dazu auch unterrichtete und komponierte. Aber mit dem Ziel Europa vor Augen war es machbar. Das erste Jahr Studentenleben in Amsterdam war damit finanziert.

Was erwartete Sie in Amsterdam?

Enrique Mendoza: Am Conservatorium van Amsterdam öffneten sich mir dann zum zweiten Mal die Augen: Ich hatte bisher nicht allzu viel über Technik, Technologie und elektronische Musik gewusst. Es war atemberaubend. Es gibt dort das Studio for Electro-Instrumental Music, kurz STEIM, es ist eine Art IRCAM der Niederlande.

Dort traf ich Jos Zwaanenburg, einen der wichtigsten Mentoren in meinem Leben. Ich war extrem beeindruckt von seiner Persönlichkeit, seinem Schaffen als Musiker, als Flötist und Programmierer. Er hat auch den Masterlehrgang für Live-Elektronik am Konservatorium von Amsterdam begründet. Ich studierte bei ihm am Konservatorium und am STEIM, lernte viel Software kennen und begann, mit Live-Electronics erste Stücke zu komponieren. Die Zeit verging und eigenartigerweise interessierte mich das Filmemachen, das ich zuvor so intensiv betrieben hatte, bald gar nicht mehr. Es stellte sich also heraus, dass nicht Filme, sondern Live-Elektronik meine Leidenschaft ist. Aber ein wenig arbeite ich immer noch für Film und Theater.

Was waren Ihre Pläne nach Beendigung des Studiums in den Niederlanden?

Enrique Mendoza: Nach meinem Aufenthalt in den Niederlanden von 2008 bis 2012 ging ich nach Mexiko zurück. Dort – und auch in Europa – gab ich Performances in Kinos gemeinsam mit Sandra Real aka Chana mit Live-Elektronik und Live-Visuals. Mein Plan war, nach Europa zurückzukehren, da es hier viele unterschiedliche Musikszenen gibt, die ich kennenlernen und von denen ich lernen wollte. In den letzten zehn Jahren hat sich aber auch in Mexiko viel getan. So wurde etwa das Mexican Center for Music and Sonic Arts (CMMAS) in Morelia, einem fantastischen Ort, eröffnet. Dort werden „Residencies“ vergeben, man kann arbeiten, das Institut ist bestens ausgestattet.

Durch das Unterrichten bleibe ich auf dem Laufenden, was die Entwicklung der Technik betrifft. Das ist wie eine ständige Fortbildung. Für mich ergänzt sich das perfekt mit dem Komponieren. Ein Kollege sagte einmal zu mir: „Die Studierenden werden dir, was das Technische betrifft, immer voraus sein, weil sie es leben. Aber du sollst immer mit den Ideen voraus sein. Du musst ihnen zeigen, was sie alles machen können.“

Die professionelle Beschäftigung mit Technik eröffnet viele Möglichkeiten. Wie nutzen Sie diese?

Enrique Mendoza: Ich mixe und mastere gerne und die Kombination von Bild und Musik fasziniert mich sehr. Ich mag es, wenn zu meiner Musik auch eine bildliche Ebene existiert, doch die kann ich derzeit nicht selbst liefern. Da müsste ich mich vier bis fünf Jahre einem Studium widmen, denn ich glaube nicht an das „Da-Vinci-Syndrom“: „Ich bin in allem der Beste.“ Außerdem arbeite ich gerne mit anderen Menschen zusammen.

Das Ambiente in einem Konzertraum ist mir sehr wichtig, aber leider fühle ich mich in manchen Räumen wie in einem Krankenhaus: weißes Licht, sterile Atmosphäre. Oft sind gerade Live-Elektronik-Aufführungen öd, weil hier und da am Laptop ein Knopf gedrückt wird und dann ein anderer.

Konzerte mit visuellen Zutaten wie Licht, Video, Live-Visuals oder Mapping mag ich besonders, für mich korrespondiert das perfekt mit elektroakustischer Musik. Ein weiterer sehr faszinierender technologischer Aspekt sind Multi-Channel-Sound-Systeme.

„Oft empfinde ich es als sehr schade, wenn gute Musik schlecht präsentiert wird.“

Sie haben eine Vergangenheit als Rockmusiker. Vermissen Sie diese emotionalen Momente auf der Bühne?

Enrique Mendoza: Ja, schon, vor allem bei Konzerten mit Musik, in der es keine Taktstrukturen gibt. Ich versuche aber, manche Zugänge zu transferieren: etwa, dass sich das Publikum während des Konzerts mit mir auf eine gemeinsame Reise begibt. Oft empfinde ich es als sehr schade, wenn gute Musik schlecht präsentiert wird. Bildhaft gesprochen: Das ist wie ein Hamburger mit hervorragenden Zutaten, nur dass das Fleisch außerhalb des Brötchens liegt. In der elektronischen Musik ist das leider öfter der Fall hinsichtlich der Form, da selten auf die über Jahrhunderte bewährten Formen mit narrativen Erzählstrukturen zurückgegriffen wird. Struktur und Form sind mir einfach sehr wichtig, das spiegelt sich ja auch in meiner Auseinandersetzung mit Film und Theater wider.

An Film- und Theatermusik schätze ich besonders die Zusammenarbeit mit den Regisseurinnen und Regisseuren. Das ist ein Dialog, ein Pingpongspiel. Auch wenn wir nicht dieselbe Sprache sprechen, es funktioniert über Beispiele, wenn es darum geht, Vorstellungen oder Ideen mitzuteilen. Der Vorteil, wenn man Livemusik im Theater einsetzt, ist, dass man auf das jeweilige Tagesspieltempo eingehen kann. Das emotionale Moment beim Spielen kann auf vielen unterschiedlichen Erfahrungen beruhen, daher kann ich nachvollziehen, wenn es sehr persönlich wird.

In Ihrer Werkliste gibt es unglaublich viele Kompositionen für Saxofon. Was hat es damit auf sich?

Enrique Mendoza: Am Amsterdamer Konservatorium fragte mich eine befreundete Saxofonistin, ob ich nicht ein Stück für ihre Abschlussprüfung schreiben möchte. Es wurde „Cassiopeia“ für Altsaxofon und Live-Elektronik. Bei der öffentlichen Prüfung hörten viele andere Saxofonistinnen und Saxofonisten zu – und waren sehr angetan von meiner Musik. Da das Saxofon zu den jüngeren Instrumenten zählt, gibt es auch nicht so viel Literatur, die speziell dafür geschrieben wurde, auch wenn viele Arrangements und Transkriptionen existieren. Und so schloss sich ein Arbeitsauftrag an den nächsten. Ich genieße die Zusammenarbeit, weil ich nicht einfach ein Stück abliefere. Ich möchte verschiedene Dinge mit den Musizierenden ausprobieren, auf ihre Stärken und Vorlieben eingehen, um die jeweilige Persönlichkeit herauszustreichen. Das Saxofon ist ein geniales Instrument mit unglaublichen klanglichen Facetten: Es kann beweglich und agil wie eine Flöte spielen, sehr laut wie Blech und ganz weich. Ich habe für fünf verschiedene Typen dieses Instruments komponiert.

„Mir ist es auch wichtig, mit dem Titel Interesse zu erzeugen, er soll neugierig machen.“

Die Titel Ihrer Kompositionen sind sehr auffällig. Sie haben einen speziellen Wortklang und sind oft in anderen Sprachen. Steckt da ein System dahinter? Oder einfacher gefragt: Wie finden Sie Ihre Titel?

Enrique Mendoza: Ich sehe bei meinen Studierenden oft, dass sie zuerst ein Stück komponieren und sich dann Gedanken über den Titel machen. Ich bevorzuge es genau umgekehrt, weil ich zuerst Aufbau und Struktur skizziere, dann geht alles relativ einfach. Zum Beispiel „Cassiopeia“: Ein Sternenbild aus fünf Hauptsternen inspirierte mich dazu, fünf Teile, die durch Brücken verbunden sind, zu konzipieren. Ich setze mich auch damit auseinander, an welchem Ort ich lebe, welche Sprache hier gesprochen wird. Früher dachte ich, weil ich ein mexikanischer Komponist bin, der Spanisch spricht, meine Anmerkungen in den Partituren auf Spanisch machen zu müssen. Mit der Zeit wurde mir aber klar, dass das eigentlich gar nichts mit Identität oder Nationalität zu tun hat, und stellte das ein. Manchmal kombinierte ich ein lateinisches Wort mit einer anderen Sprache. „Die unendliche Geschichte“ von Michael Ende inspirierte mich früher sehr. Daraus stammen auch einige Titel meiner Werke, die ich von den Figuren übernommen habe, wie zum Beispiel „La Muerte Multicolor“, „Sikanda“, „Los Mensajeros“ und „El Viejo Errante“. Oder ein anderes Beispiel: Im „Dictionary of Obscure Sorrows“, in dem Gefühle verzeichnet sind, für die es noch kein Wort gibt, findet man etwa „Zenosyne“. Das bedeutet das Gefühl, dass die Zeit schneller vergeht. Mir ist es auch wichtig, mit dem Titel Interesse zu erzeugen, er soll neugierig machen.

Welchen Ihrer Titel halten Sie für besonders skurril?

Enrique Mendoza: Als ich in Amsterdam lebte, musste ich jeden Tag auf dem Weg zur Uni über eine Brücke gehen. Von dort aus sah ich auf eine andere, die wie ein Büstenhalter aussah. Das inspirierte mich zu einem Stück: zwei Teile, deren Intensität sich verdichtet, ansteigt und dann abfällt. Der Architekt hatte die Brücke übrigens als Wellen konzipiert. Mein Professor hat mir dann vorgeschlagen, das Stück „De Brug der Spenen“ („Die Brücke der Zitzen“) zu nennen, das hat mir gefallen.

Hier in Wien habe ich an einem Stück für das Black Page Orchestra komponiert, das „Federkrone“ heißt. Es bezieht sich auf den mexikanischen Federschmuck, der im Weltmuseum Wien zu sehen ist. Mir hat dieser Titel sehr gut in mein Werkregister gepasst.

Was haben Sie noch in Wien komponiert?

Enrique Mendoza: Ich habe während meines Aufenthaltes in Wien ein Stück für das Ensemble Reconsil und eines für das Ensemble Platypus fertiggestellt. Während meiner Residency hatte ich sehr viel zu tun, etwa auch eine Aufführung im Klanghaus im steirischen Untergreith. Dieses Stück nannte ich „Rhetorik“ – es ist eine Reflexion über das Verhalten von Politikerinnen und Politikern. Es war großartig, an so einem reizvollen Ort in Österreich gemeinsam mit so wunderbaren Künstlerinnen und Künstlern aufzutreten.

„Ehrlich gesagt: Ich will in Wien bleiben.“

Was sind Ihre Pläne nach Ihrem Aufenthalt in Wien? Bleiben Sie in Europa?

Enrique Mendoza: Ehrlich gesagt: Ich will in Wien bleiben. Ich fange schon an, Deutsch zu lernen. Ich liebe diese Stadt mit ihrer Geschichte und es gibt hier viele Möglichkeiten und Plätze für meine Musik – das Kulturleben ist fantastisch. Ich kann mir auch vorstellen, hier in Wien zu unterrichten. Wenn ich in die Niederlande zurückginge, würde ich wahrscheinlich dort weitermachen, wo ich aufgehört habe. Aber ich will mich weiterentwickeln. Und von Wien aus kann ich problemlos überall hin in Europa reisen. Schließlich habe ich in Amsterdam sehr viele Freunde. London ist mir zu groß, da könnte ich gleich in Mexiko City bleiben, da ist es zumindest billiger. Mal sehen, was ich nach meinem ersten Winter in Wien sage …

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Marie-Therese Rudolph

Enrique Mendoza stammt aus Mexiko City und komponiert hauptsächlich elektroakustische Musik mit Schwerpunkt auf Live-Elektronik. 2014 erschien seine CD „Below Sea Level“ bei „Future Music Records“ in London. Er arbeitet eng mit Musikerinnen und Musikern zusammen, um neue Felder zu erschließen und auf die speziellen Eigenheiten der Instrumente eingehen zu können. Enrique Mendoza erhielt Kompositionsaufträge von Fonds Podiumkunsten, KulturKontakt Austria u. a. Sein Stück „Cassiopeia“ für Altsaxofon und Live-Elektronik wurde den Independent Music Awards in New York in der Kategorie nominiert. Er schloss sein Kompositionsstudium am Conservatorium van Amsterdam Konservatorium mit dem Master ab.

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