Spurensuche – Lukas Ligeti im Porträt

„Jede Musik ist tanzbar, wenn man versteht, worum es in ihr geht“, sagt der in Wien geborene und in New York lebende Komponist und Percussionist Lukas Ligeti. Wirklich jede Musik? Auch eine Klaviersonate von Boulez? „Ja!“  Die Überzeugung, mit der er einem dieses „Ja“ entgegen schmettert, verwundert, ist letztlich aber nur einer von vielen Gründen, weshalb es sich lohnt, den Spezialisten in Sachen afrikanische Musik und rhythmische Polyphonie zu treffen. Wer mit ihm plaudert, taucht unweigerlich tief ein in einen Kontinent voller Geheimnisse und voller Magie.

Eigentlich könnten die Umstände für ein Treffen mit Lukas Ligeti ungünstiger kaum sein, hat er doch gerade nach seiner Zwischenlandung in Wien feststellen müssen, dass sein ganzes Gepäck verloren ging und der Wiener Feierabendverkehr dem seiner Heimatstadt New York an Zähigkeit und Dichte um nichts nachsteht. Zu spät und leicht verwirrt, wie es sich für einen herausragenden Komponisten gehört, und ohne jede Ersatzkleidung trifft er also im vereinbarten Café ein. Dennoch scheint seine Begeisterung für afrikanische Musik unter dem Stress der letzten Stunden nicht gelitten zu haben.

„Man stelle sich vor, zwei Vibraphonisten sitzen einander gegenüber“, beginnt er. „Der zweite Spieler übernimmt das Tempo des ersten, beide sind sich aber nicht einig darüber, wer von beiden den Takt vorgibt. Gleichzeitig spielen sie aber so schnell und präzise, dass man als Zuhörer die einzelnen Melodien nicht mehr voneinander unterscheiden kann und das menschliche Gehirn beginnt, das Gehörte in einzelne Frequenzbereiche aufzusplitten.“ Mein fragender Blick scheint ihm nicht entgangen zu sein, denn er fährt sogleich fort: „Dass es möglich ist, zusammen zu spielen ohne Einigkeit darüber zu haben, wer den Takt vorgibt, war eine unglaubliche Erkenntnis, die mich die Auseinandersetzung mit ugandischer Musik lehrte.“ Überhaupt arbeite die afrikanische Musik, so Ligeti, sehr stark mit Illusion und den Grenzen der menschlichen rhythmischen und metrischen Wahrnehmung „Das ist es, was mich an ihr so reizt.“ „Wenn ich etwas derartig Komplexes spiele, fügt er erklärend hinzu, finde ich die Melodie anhand der Position meiner Hände.“ Die Musik werde so zur Choreografie, sagt er und klopft mit seinen Händen einen schwungvollen Takt auf den Kaffeehaustisch.

Vergessene Koffer & Instrumente
Weltenbummler Ligeti ist in seinem Element angelangt: dem Rhythmus, bei dem man immer mit muss, so komplex er auch sein mag. Längst vergessen scheinen seine Koffer, die irgendwo zwischen New York und Wien herum geistern. Wer so viel unterwegs ist wie er, hängt sein Herz ohnedies nicht gern an Dinge. Außer an die speziellen Instrumente vielleicht, die er bei seinen Konzerten wie ein Derwisch bedient und die unsereiner nur aus dem ethnologischen Museum kennt. Seine Marimba Lumina etwa, eine Art elektronisches Marimbaphon, von dem weltweit nur etwa dreißig Stück produziert wurden und das er äußerst virtuos zu spielen vermag. Oder seltene Schlaginstrumente. Und genau da auch liegt der Hund begraben: Solch seltene Drum-Sticks nämlich befanden sich im verloren gegangenen Gepäck. Im Telefonat mit der für derartige Verluste zuständigen Stelle setzt er dann auch ganz auf deren Wiedererkennbarkeit. „Sobald Sie den Koffer öffnen, springen Ihnen sofort merkwürdige Holz-Schlägel entgegen.“ Nein, so ein geheimnisvoller Koffer sei noch nicht aufgetaucht, wird ihm versichert. Man verspricht aber ihn zurückzurufen, sobald man Näheres weiß.

Ligeti? Als er gegen Ende des Telefonats seinen klingenden Namen nennt, stellt man gleich sein Ungarisch auf eine Belastungsprobe. Doch auch wenn er Sohn des legendären György Ligeti ist, des Ungarischen ist er nicht ausreichend mächtig, um sich begreiflich zu machen. Ein schöner Übergang: Hat es wie eingangs angedeutet bislang tatsächlich jede Musik, die er hörte, geschafft, sich bei ihm begreiflich zu machen? Nein, in Zimbabwe konnte selbst nach mehreren Tagen nicht verstehen, was die Musiker dort spielten. „Einzelne Stimmen ja, einzelne Linien auch, aber das große Ganze nicht. Vielleicht wenn ich mich zwei Wochen daneben gesetzt hätte“, sinniert er. „Wer weiß…“

Dass sich Lukas Ligeti schon sehr früh für afrikanische Musik unterschiedlicher Traditionen und mannigfacher Spielarten interessierte, ist vielen Zufällen zu verdanken. Da waren einmal die Phantasiewelten, die er als Kind schon entwarf. Afrika habe dabei immer wieder eine wichtige Rolle gespielt. Malawi etwa: „Ein Platz von dem man so weiß, ist bestens geeignet, um seine ganze Phantasie rein zu projizieren.“ Zum Teil funktioniere das noch heute so. Und dann begann sich auch sein Vater für afrikanische Musik zu interessieren. Vater und Sohn tauschten plötzlich Kassetten mit der Musik zentralafrikanischer Pygmäen.

Letztlich ist Ligetis Begeisterung für den schwarzen Kontinent aber vor allem Gerhard Kubik, einem Wiener Musikethnologen zu verdanken, mit dessen Schriften er während seines Studiums in Kontakt kam. „Es war 1986/87, als ich das erste Mal einen Bleistift in die Hand nahm, um Musik zu notieren. Und ziemlich genau um diese Zeit stieß ich auch erstmals auf afrikanische Musik“, erzählt er. „Musik und Tanz sind Konzepte, die in den meisten afrikanischen Musiken nicht voneinander zu trennen sind. Das und der mir bis dahin unbekannte Denkansatz, wie dort mit Rhythmus und Zusammenspiel umgegangen wird, faszinierte mich von Anfang an, denn mit der Trennung zwischen Emotionellem und Intellektuellem konnte ich noch nie etwas anfangen.“ Zahlreiche Afrika-Reisen zu Studienzwecken folgten.

„Forsch in die Zukunft“
Schon in „Pattern Transformation“, dem Eröffnungsstück seines ersten Albums „Mystery System“ und einem der ersten Stücke, das er überhaupt komponierte, ist der Einfluss des schwarzen Kontinents und seines musikalischen Kosmos, eindeutig erkennbar. Heute hat eigentlich fast alles, was Ligeti komponiert, einen stark afrikanischen Einschlag. Nur präsentiert wird es in völlig unterschiedlichen Kontexten. So könnten seine beiden aktuellen, Projekte, unterschiedlicher nicht sein: Da wäre einmal seine Band „Burkina Electric“, deren  Debut-CD, “Paspanga”, 2010 auf Cantaloupe Records erschien, und „Afrikan Machinery“, sein von Kritikern (darunter Steve Reich) hochgelobtes Solo-Werk.

Auch wenn die Musik Burkina Electrics schon des Öfteren als Afro-Beat bezeichnet wurde, hat es mit dem klassischen, von Fela Kuti in den 70er und 80er Jahren geprägten Sound und seinem Revival, das seit einiger Zeit um sich greift, und Bands wie die Antibalas, die Daktaris oder die Budos Band hervorgebrachte, erst einmal wenig zu tun. Wenngleich Ligeti viele dieser Bands und auch das Protest-Element, das dem Afro-Beat stets innewohnte, schätzt, zeigt sich Burkina Electric doch von vielen unterschiedlichen Arten afrikanischer Musik beeinflusst, von denen Afro-Beat nur eine ist. „Wir sind keine Retro-Band, sondern gehen forsch in die Zukunft!“

Vor allem aber sucht die Band nach neuen Möglichkeiten, afrikanische Musik auf eine organische Art und Weise mit Elektronik zu verbinden. Das heißt: „Keine DJ-ästhetische Veredelung, indem instrumentale Musik später in einem zweiten Produktionsschritt durch Remixing aufpoliert wird, sondern die Elektronik ist von Anfang an fixes Bestandteil der Musik“, so Ligeti. Stilistisch bewegt man sich am Rande dessen, was heute gemeinhin als World Music gelten kann.

Mitunter weit darüber hinaus geht Ligetis Solo-Album „Afrikan Machinery“, das eine Reihe seiner Kompositionen versammelt, die jede globale Vereinheitlichungstendenz afrikanischer Musik ordentlich gegen den Strich bügeln. Schließlich habe man als Künstler auch eine soziale Verantwortung, so Ligeti. Komplex und doch tanzbar ist „Afrikan Machinery“. Als „kühne Musik“ bezeichnete sie Christoph Wagner von der Neuen Zürcher Zeitung. Weiter hieß es dort: „…lässig tanzt Ligeti auf dem Seil, das er zwischen Tradition und Zukunft spannt.” So ist es. „Afrikan Machinery“ ist die Suche nach dem musikalischen Ursalz, der Essenz des Lebens, mit modernen Mitteln, mal heiter beschwingt wie auf „Great Circle´s Tune I und II“, mal dunkel und bedrohlich wie auf „Chimaeric Procession“, immer aber spannend und subtil zugleich. „Afrikan Machinery“ ist ein Glücksmenu der besonderen Art: Komplex und tiefgründig, aber dennoch immer verständlich.

Naiver Entdeckergeist
Doch was bringt die Zukunft? Kann sich Ligetis Musik in der World Music-Szene etablieren? „Ich würde gerne sehen, dass diese an sich sehr sympathische Weltmusik-Szene, die weder das Haifischartige des Pop-Business noch das Pseudointellektuelle der Klassik-Szene in sich trägt, auch schrägere Spielarten akzeptiert“ sagt Ligeti. Noch sei man dort größtenteils auf akustischen Pop spezialisiert, was dazu geführt habe, dass es für afrikanische Musiker in erster Linie Anpassung bedeutet, um in dieser Szene wahrgenommen zu werden. Ein Traum sei es auch, mit Burkina Electric einmal in Sibirien zu spielen. „So könnte man die Exotik auf die Spitze treiben.“

Die Dame, die gerne Ungarisch mit Herrn Ligeti gesprochen hätte, ruft schließlich zurück. Nach wie vor gibt es keinen Hinweis auf den Verbleib seines Gepäcks. „Merkwürdig“, staunt er. „Üblicherweise gibt es wenigstens eine erste Spur…“ Von Frustration ist er dennoch weit entfernt. Was ihn mehr bewegt als das verlorene Gepäck sei ein ehemaliger Schulkollege, der aus der Familie des ehemaligen angolesischen Diktators stammte und mit ihm die Schulbank der internationalen Schule in Wien drückte. „Er war elf, als er aus Wien wegging, um im Bürgerkrieg zu kämpfen“, erzählt der Komponist. Und trotz Google und Facebook fehlt seither jede Spur von ihm. Wie in diesem verschollenen Schulfreund steckte auch in ihm das naive Bedürfnis die Welt zu verändern. In der Schule noch stand ihm der Sinn eher nach Mathematik und Physik. Aber irgendwann habe er begriffen, dass er in der Mathematik nicht die Begabung für eine große Entdeckung hatte. Komponist zu werden war hingegen völlig normal – bei diesem Vater. „Was soll ich sonst sein? hab ich mich gefragt.“

Und ist es gelungen, die Welt zu verändern? Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten. „Ich habe die Welt bereits verändert“, lacht er. „Nur die Welt hat es noch nicht bemerkt.“ Ein schöner Satz, der so allerdings nicht stimmt, denn vor wenigen Tagen wurde Lukas Ligeti der hoch angesehene Alpert-Award verliehen.
Markus Deisenberger

Plattentipps:
Lukas Ligeti: Afrikan Machinery (Tzadik/Sunny Moon Distribution)
Burkina Electric: Paspanga (Cantaloupe Music)

http://www.lukasligeti.com/