Zukunftsweisendes von gestern und heute. Bilanz und Abschlussbericht Wien Modern 2019

Mit einem Überblick soll hier die zweite Halbzeit (18.11.–30.11.) von WIEN MODERN 2019 Revue passieren. Das Festival endete am letzten Novembersamstag mit dem abendlichen Abschlusskonzert im Großen Saal des Wiener Konzerthauses, bei dem noch einmal die gestellten Themen „Minimal – Maximal“ sowie das Hauptmotto „Wachstum“ als Hörerfahrungen gestellt wurden. Mark Andre bewegt sich in „über“ (für Klarinette, Live-Elektronik und Orchester) am Rand des Verschwindens und der Nicht-Mehr-Hörbarkeit, während Peter Eötvös in  „Multiversum“ (für Orgel, Hammond-Orgel und Orchester) Raum und Zeit wie in einer „Space“-Odyssee zu durchmessen sucht. Zum Finale dann Peter Ablingers Komposition für sprechendes Orchester: „Wachstum. Massenmord“.

Bleiben wir beim letzten Wien-Modern-Tag: Denn am Nachmittag, im kleinen, aber atmosphärisch für die Wiedergabe optimalen Raum der Alten Schmiede präsentierten Ernst Kovacic und Mathilde Hoursiangou an Violine und Klavier eine repräsentative Auswahl an Werken von Friedrich Cerha. Das von Violinsonaten und anderen bahnbrechenden Opera für Violine und Klavier der Jahre 1946 bis 1956/57 geprägte Programm zeigte beeindruckend die Entwicklung der Kompositionen Cerhas in diesem Zeitraum: Man musste verblüfft sein, wie „modern“ der Komponist bereits 1946 die erste dieser Sonaten noch in Unkenntnis der damals nirgendwo in Wien und Österreich verfügbaren Werke der Wiener Schule und des Stands internationaler Kompositionen Neuer Musik formulierte, wie die Dritte Sonate (1954) dann bereits (auch technisch frappierende) Kenntnisse etwa von Strawinsky aufweist. Man konnte aber auch verfolgen, wie „Deux éclats en reflexion“ und ganz besonders „Formation et solution“ den nunmehr sich in Richtung der Darmstädter Kompositionsweise bewegenden Cerha ab 1956 zu geradezu zukunftsweisenden Stilmitteln greifen ließen – etwa auch dem ausgiebigen Gebrauch der Möglichkeiten des Innenklaviers, wie sie erst viel später Platz griffen.

Wunderbar und sinnlich spielte Kovacic auch die frühen „Zwei Stücke für Violine und Klavier“ von 1948 und 1951 („Meditation“/„Altes Lied“), die, wie der im Konzert anwesende Komponist verriet, auf dessen Erwerb einer Sammlung russischer Musik in der sowjetischen Buchhandlung und die Beschäftigung damit zurückgingen. Auch das virtuose, 1950 entstandene „Capriccio“ für Violine und Klavier machte klar, dass Cerha selber damals ein ausgezeichneter Geiger gewesen ist. Der Nachmittag wurde durch ein viel später entstandenes Solowerk abgerundet, das der Komponist dem Geiger Ernst Kovacic gewidmet hat: den Sechs Stücken für Violine solo (1997). Nach der Wiedergabe bedankte sich Kovacic bei Cerha noch einmal nachdrücklich für dessen Jahrzehnte währende Lehrer- und Mentorenschaft und erinnerte daran, in seiner Frühzeit in einigen reihe-Konzerten auf einer Tournee als zweiter Geiger mit ihm als erstem Geiger Streichquartette gespielt zu haben. Dieses Alte-Schmiede– Konzert für Friedrich Cerha war bestimmt eines der berührendsten Ereignisse des diesjährigen Wien-Modern-Festivals.

SOLI FÜR TASTEN UND SAITEN

Um weiter in der Chronologie des Festivals zu bleiben: Am Montag, dem 18.11. fand im Konzerthaus ein instruktiver und wunderschöner Konzertabend unter dem Titel

Saiten-Tasten statt, der wiederum von Mathilde Hoursiangou als Kuratorin und natürlich auch als Auftretende für die mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst entwickelt wurde. Zusammen mit jungen Studierenden erforschte und versammelte dieses Projekt 21 Innenraumstudien und Kompositionen für Klavier überwiegend neueren und neuesten (Uraufführungs-)Datums.

Der volle Berio-Saal vereinigte da auch viele Komponistinnen und Komponisten pro Quadratmeter – es war fast so etwas wie ein Klassentreffen! Das besonders Beeindruckende des Abends war aber auch die Live-Video-Gestaltung, die auf zwei großen Leinwänden die Arbeit der Hände der Spielenden (oft auch zu vier Händen) auf den Tasten und an den Saiten im Klavierinneren genau sichtbar und zauberhaft nachvollziehbar machte. Die kurzen Stücke von meist vier bis sechs Minuten Dauer vereinten unterschiedliche Zugänge und (oft auch persönlich zuordenbare) Stile und Eigenheiten folgender Urheber*innen, die hier nur alphabetisch aufgelistet genannt werden können: Jérôme Combier, Reinhard Fuchs, Beat Furrer, Elisabeth Harnik, Michael Jarrell, Katharina Klement, Bernhard Lang, Klaus Lang, Marco Momi, Gérard Pesson, Simeon Pironkoff, Gerald Resch, Rebecca Saunders, Charlotte Seither, Alexander Stankovski, Johannes Maria Staud, Wolfgang Suppan, Germán Toro Pérez, Jaime Wolfson, Johanna Wozny.

Die Reihe wurde noch durch zwei Sätze einer beeindruckenden Komposition von Georges Crumb aus Anlass dessen 90. Geburtstags ergänzt („Celestial Mechanics“, 1979).

Weitere Solo-Auftritte: Den Ausklang des Abends „Danza permanente“ im Tanzquartier (21., 22.11. – siehe weiter unten) gestaltete die US-Amerikanerin Zeena Parkins auf ihrer auch live-elektronisch genutzten Harfe für ihre Stücke „Captiva“ für Harfe und Objekte, die die vielfältigen klanglichen Erweiterungsmöglichkeiten dieses Instruments unter Beweis stellten. Fein auch die spätabendliche letzte „Minimal Night Music“ am 28.11. im Reaktor mit dem Trompeter Franz Hautzinger im Duo mit der französischen Stimmkünstlerin Isabelle Duthoit, die unter Einsatz aller Mittel und Röhren (auch ihrer tiefliegenden Bauchstimme und geräuschhaftem Stimmeinsatz) sowie mit ihrer Klarinette mit ihm zusammen eine experimentelle Improvisationsmusik („Instant Composition“) ablieferte.

Ingrid Schmoliner (c) Thomas Plattner

Am vorletzten Festivaltag (29.11.) schließlich spielte Frederic Rzeswki im Konzerthaus seine berühmten 36 Variationen über das chilenische Revolutionslied „El pueblo unido jamás sera vencido“ unter dem Titel „The People United“. Völlig unpathetisch folgte der heute 81-jährige Komponist und Pianist seinem Partiturtext – einem „Meilenstein in der Geschichte der Klaviermusik“ (New York Times) – und vermochte in der letzten Dreiviertelstunde des Werks am Klavier regelrecht zu „singen“. Die angestrebte Dauer von 75 Minuten konnte er aber nicht einhalten – er brauchte an die 100 Minuten für die Wiedergabe. Nach so viel komplexer und auch emotionalisierender Musik fiel es manchen im Publikum schwer, der nachfolgenden Darbietung von Ingrid Schmoliner und ihrem Extremstück „MEEM“ für präpariertes Klavier und Verstärkung zu folgen, trotz ausgefuchster Technik und Präparation mit Materialien wie Holzstäben, Plastik und Metall (auch an den Tasten mittels an den Daumen befestigten Plättchen betätigt), Erweiterungen von Glockenspiel, Gamelan, Xylophon und Schlagwerk im Klavier, wirkten die fast mechanischen ständigen Figurenwiederholungen der Finger auf die Dauer monoton. Ein „Ballet mécanique“?

ENSEMBLE-AUFTRITTE

Auch in der der vierten und fünften Festivalwoche gab es Konzerte mit wichtigen Ensembles der Neuen Musik, beginnend am Dienstag, 19.11. mit dem Ensemble Wiener Collage unter der Leitung von René Staar. Der vom Komponisten Alexander Stankovski kuratierte Abend im Casino Baumgarten leuchtete „extreme Stücke“ von minimaler Dauer aus (wie etwa die berühmt gewordenen „Swell Pieces“ von James Tenney, deren Partituren jeweils auf den Raum einer Postkarte passen, oder die nur etwa einminütige Kammermusik Nr. 17 von Dietmar Hellmich), extrem aber auch im Hinblick auf den Bezug auf die Rockgruppe „Motörhead“ bei Bernard Gander in dessen Stück „ö“, dicht und knapp auch das Solostück „… eine Blume für Tabea…“ für Soloviola von György Kurtág genauso wie Anton Weberns „Drei kleine Stücke“ op. 11 für Violoncello und Klavier. In der „extremen“ Besetzungskombination von hoch und schrill klingender Piccoloflöte, Tuba und Klavier fertigte Galina Ustwolskaja 1970 ihre Composition Nr.1 „Dona nobis pacem“. Eindrücklich auch die dunkel getönte Uraufführung von Alexander Stankovski („Dunkle Räume“ für zehn Instrumente). Das Ensemble und seine Solisten spielten durchwegs erstklassig.

Johannes Hiemetsbergers Vokalensemble Company of Music bestritt am Samstag, 23.11. zwischen 11.00 und 17.00 Uhr in den Räumen und Treppen des Kunsthistorischen Museums Miniaturen für Vokalensemble, die eigens von jungen Studierenden der mdw zu diesem Anlass komponiert wurden. Die Klangexponate, Textvertonungen, Soli und chorischen Stücke in verschiedenen Besetzungen stammten von Afamia Al-Dayaa, Gabriel Bramböck, Yuheng Chen, Dominik Förtsch, Ari Rabenu, Daniel Serrano und Juan Uribe, ergänzt von einer posthumen Aufführung von „Mariens Wiegenlied“ von Francis Burt.

Wien Modern 2019: Miniaturen für Vokalensemble (c) Markus Sepperer.

Im Reaktor gab es am 27. November schließlich einen Auftritt des Collegium Novum Zürich mit überaus interessanten Stücken von dem in Berlin lebenden Russen Alexander Newski („La Nuova Gioventù“ auf Worte von Pier Paolo Pasolini in friulanischem Dialekt) und von Heinz Holliger mit der Sopranstimme von Sarah Maria Sun, ein Werk von Isabel Mundry (Klarinette, Akkordeon, Streichtrio) sowie das erste Werk des das Wien-Modern-Finale prägenden Komponisten Mark Andre („Drei Stücke für Ensemble“ aus 2018 – auch schon bei den Klangspuren Schwaz heuer in österreichischer Erstaufführung) . Tags darauf hörte man dort abermals Musik von Mark Andre – 17 Miniaturen für Sopran und Klavier „Der Wind bläst, wo er will“ sowie „… selig sind…“ mit Jörg Widmann an der Klarinette (und durch die Klangregie und Live-Elektronik des SWR Experimentalstudios mit sich selbst).

TANZ UND PERFORMANCE

Eine bahnbrechende, heute als „modern“ erkannte Musik Ludwig van Beethovens, nämlich dessen a-Moll-Streichquartett op. 132, führte Wien Modern am 21. / 22. November ins Tanzquartier Wien. Akustisch konnte man dort das Werk nicht hören, denn nach der Choreografie von der lange in New York, jetzt in Frankreich lebenden, im Bereich Tanz und Musik arbeitenden DD Dorvillier verkörperten die vier Performerinnen und Performer in dem Projekt „Danza permanente“ die Musik, die Instrumente (quasi als 1. und 2. Geige, Bratsche und Violoncello), ihre Dynamiken und formalen Strukturen tanzend – was viele verblüffte, andere faszinierte, die vermeinten, diese Musik tatsächlich „hören“ zu können.

Der Komponist Clemens Gadenstätter und Choreografin Rose Breuss produzierten am 23.11. im Studio Molière eine eineinhalbstündige Abfolge von Solostücken samt dazugestellten Solo-Tanzchoreografien (@solo.tänze). Seit Jahren sich beschäftigt Gadenstätter in diesen Stücken für ausgewählte Instrumentalisten mit dem „Begreifen“ und „Hören jenseits des Begrifflichen“, was nun noch zusätzlich durch Tänzerinnen und Tänzer sinnfällig gemacht wurde. Die Spielenden der so vorgestellten Instrumentalsolostudien waren Olivia De Prato (Violine), Theo Nabicht (Kontrabassklarinette), Yaron Deutsch (E-Gitarre), Teodoro Anzellotti (Akkordeon) und Antonio Politano (Blockflöten).

Wien Modern 2019: Land of the Flats (c) Markus Sepperer

In einer ebenfalls spektakulären, aber ganz anderen Musik- und Tanzperformance (die Gruppe nennt sich „andother stage“) folgten Jorge Sánchez Chiong + Brigitte Wilfing in ihrer choreografischen Komposition „Land of the Flats“, selbst auch als Performer im Reaktor (24./25.11.) beteiligt, einer von Edwin A. Abbot 1884 als „Flatland“ beschriebenen zweidimensionalen Welt, die sie mit den an und mit Musikinstrumenten spielenden Performern ins Mehrdimensionale steigerten. Nach der Vorführung eines 3D-Films gelangte man in den Hauptraum des Reaktor-Etablissements, in dem die zunächst regungslos im Raum verteilten und liegenden Künstler nach und nach Leben und Aktivitäten entfalten. Von Jorge Sánchez-Chiong wird an seinen Geräten das akustische und elektronische Geschehen miterzeugt und gesteuert, im Verlauf der Performance, bei der das Publikum beliebig umherstreifen kann, erlebte man u.a. Clara Frühstück (Tasteninstrumente), auch ein auf unterschiedliche Weisen mit dem Körper traktiertes Akkordeon, den großartigen Perkussionisten David Panzl (der etwa auch mit seinen Zehen die Trommel zu schlagen vermag oder zum morsenden Signalfahnenträger mutiert), oder den Komponistensohn Samuel Toro Pérez an der E-Gitarre. Die im besten Sinn dialektische Form von Choreografie, Komposition und Klangerzeugung (TE + R, also Louise Linsenbolz und Thomas Wagensommerer waren auch für die Elektronik zuständig) erlebte man wirklich als „neuen“ Weg in der heutigen Musik. Am 26.11. stellte auch das aus der Schweiz kommende Kollektiv Mycelium (an der Violine HannaH Walter sowie weitere Performer und Klangkunstmacher) im Studio Molière eine „Entwicklung formatübergreifender Musiktheaterformen“ in Form von „Cyber String Species“ vor, die aber weniger überzeugen konnte.

Heinz Rögl

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