HANS-JOACHIM ROEDELIUS gilt weltweit als Pionier der elektronischen Musik. War die Band CLUSTER (mit Conrad Schnitzler und Dieter Moebius) noch ein typisches Produkt der wilden, ungehemmten Subkultur der sechziger Jahre – das Album „Cluster 71“ gilt vielen als Gründungsmanifest des deutschen Krautrock – nannte Brian Eno das erste Nachfolgeprojekt HARMONIA (mit Dieter Moebius und Michael Rother) „die wichtigste Rockgruppe der Welt“. Auch DAVID BOWIE und Gruppen wie THE HUMAN LEAGUE beriefen sich auf HARMONIA und deren Sound zwischen Krautrock, Ambient und Trance. Heute beschäftigt sich ROEDELIUS bevorzugt mit den klanglichen Resultaten, „die beim Herumspielen am Klavier zwischen unterschiedlich angeschlagenen Saiten als Interferenzen entstehen”, versucht, nur nach seinem inneren Rhythmus zu leben und bezeichnet seine Musik als „Tonmalerei”. Im Interview mit Markus Deisenberger erzählt der mittlerweile fast 86-Jährige vom Holzsammeln mit BRIAN ENO, dass man Schein und Wahrheit möglichst auseinanderfummeln sollte und wieso es so wichtig für ihn ist, sich als Person aus dem Spiel zu nehmen, damit das Werk für sich selbst sprechen kann.
„Was weiß der Wind, woher er weht”, schreiben sie in einem ihrer Texte („Adam”). Ein bisschen liest sich so auch Ihre Lebensgeschichte: Sie waren Kinderstar in UFA-Filmen, Mitglied in der Hitlerjugend, bzw. bei den sogenannten Pimpfen und schließlich in der Volksarmee der DDR, saßen als Dissident in DDR-Gefängnissen. „Mein Leben ist eine Art von Flucht gewesen, bis ich etwa 37 Jahre alt war…“, schreiben Sie in Ihrer Autobiographie.
Hans-Joachim Roedelius: Dass meine Eltern mich als Kinderakteur für Filmproduktionen der UFA hergeliehen haben und ich mich schon als Vierjähriger vorwiegend um mich selber kümmern musste, weil sie sich täglich kaum jemals länger als einige Stunden zuhause sehen ließen, war der Beginn eines außergewöhnlich ereignisreichen Lebensverlaufs, der sich bis in die Gegenwart fortsetzt.
Künstlerisch ging es, nach zaghaften solistischen Gehversuchen als Hippie-Straßenmusiker erst 1968 im Zodiac Artslab richtig los, einem kurzlebigen, aber dennoch sehr erfolgreichen Projekt in West-Berlin, dessen Existenz einen starken Einfluss auf die Entwicklung der zeitgenössischen, experimentellen vor allem der Berliner Live-Musik hatte. Was war der Antrieb, diesen Club zu gründen?
Hans-Joachim Roedelius: Es war nicht meine Initiative. Ich war damals mit Conrad Schnitzler befreundet. Er bot mir in seiner Familie eine bestimmte Zeit lang eine gewisse Sicherheit. Um über die Lebensrunden zu kommen, haben wir gemeinsam Wohnungen renoviert und daneben angefangen, in seinem winzigen Studio gemeinsam Musik zu machen. Und dann hatte er die Idee: „Lass uns doch eine Plattform für freischaffende Künstler aller Couleur – auch für Theater, für Tanz und Kleinkunst – schaffen.” Er hat dann dafür einen Platz in einem Gebäude am Halleschen Ufer gefunden und einen Vertrag mit der Stadt Berlin geschlossen. Er fragte mich, ob ich mitmachen wolle zusammen mit den Mitgliedern der Gruppe Human Being, einer Verbindung von Gleichgesinnten, die sich damals noch im Aufbau befand; Der ersten und wohl einzigen Musik-Kommune Berlins in jener Zeit, neben der „Liebeskommune“ von Uschi Obermayer und Rainer Langhans und der „Diskutier-Kommune“ K1, einer Gruppe von Anarchisten, zu der auch die späteren Mitglieder der RAF, Andreas Baader und Gudrun Ensslin, gehörten. Schnitzler war jemand, der Projekte ins Leben rief und dann ziemlich rasch wieder daraus ausstieg, um etwas anderes zu beginnen. Mit dem Artslab hat er es auch so gehalten. Nach kurzer Zeit verließ er es. Wir haben das Projekt dann ohne ihn weitergeführt, mit einem kleinen Gastronomiebetrieb, wo wir Butter- und Schmalzbrote schmierten und servierten, Suppen kochten, Bier ausschenkten usw. Zu Gast war alles, was damals Rang und Namen hatte in Berlin und zudem alle durchreisenden Künstler und Gruppen, die wir kannten.
Wie kann man sich das vorstellen? Eine dem System nicht zugehörige autonome Zone? Ein Paralleluniversum?
Hans-Joachim Roedelius: Es gab ja damals nichts, keine Veranstaltungsorte für die „Untergrundkultur“ Berlins. Es musste irgendwas passieren. Ein Neuanfang seitens freischaffender Künstler war dringend angesagt. Aber ich war nicht derjenige, der das Projekt initiiert hat. Das war Conrad Schnitzler. Ich habe mitgemacht und für einen Kredit mitgebürgt, der uns die Anschaffung einer für die damalige Zeit bereits hochwertigen Tonanlage erlaubte und damit ein immer volles Haus ermöglichte und war froh dabei sein und mitgestalten zu können, weil mir das die Gelegenheit gab, von der Heil- zur Tonkunst bzw. Kunst ganz allgemein zu wechseln. Bevor es das Zodiac gab, war ich ja u.a. auch als Straßenmusiker unterwegs. Ich trommelte und spielte Flöte, lief herum als Hippie, langhaarig und bärtig und mit Glöckchen an den Fußgelenken.
Da gab es dann auch eine lange Reise, die Human Being durch Europa und dann nach Afrika unternehmen wollte…
Hans-Joachim Roedelius: … die dann aber bereits in Casablanca auf einem Parkplatz endete.
Sie sagten einmal, dass ihr damals gar keine große Musik, nichts Visionäres machen wolltet. „Wir wollten nur das machen, von dem wir glaubten, es machen zu müssen.”
Hans-Joachim Roedelius: Genau. Wir wollten erleben und reagieren auf das, was geschieht, wenn wir öffentlich ausprobieren, was uns Spaß macht, was wir als Idee mit uns herumtrugen. Alles war im Umbruch. Es gab nach dem Naziwahnsinn ein kulturelles Loch, und dieses haben wir als Gruppe mit dem bezeichnenden Namen „Human Being“ mit verschiedensten Aktivtäten auszufüllen versucht. Wir waren damit Vorreiter für viele andere, die von uns durch das Zodiak angeregt anfingen, sich selbst kreativ zu betätigen. Edgar Froese z.B. mit seinen Tangerine Dream, Klaus Schulzes Ashra Temple mit Manuel Göttsching und so weiter. Es gab viele Aktivisten und Aktivistinnen in Berlin, die höchst Interessantes Neues zu machen begannen.
Nach einer etwa dreijährigen Odyssee als Aktionskünstler durch europäische Museen, Kunsthallen und Galerien haben Sie sich 1972 mit Dieter Moebius in einer Kommune von Kunstschaffenden in dem alten Weserhof in Forst niedergelassen. Sie selbst haben das immer wieder als ein “Ankommen” bezeichnet.
Hans-Joachim Roedelius: Ja, aber wir gründeten nicht wieder eine Kommune. Es gab uns zwei dort, Moebius und mich, mit unseren Gefährtinnen, jeder in seiner eigenen Wohnsituation. Ein Freund hatte den Hof für 99 Jahre in Pacht übernommen und uns eingeladen, den Hof mitzubewohnen. Als wir dort hinzogen, wussten wir nicht, dass aus einem maroden Atomkraftwerk flussaufwärts radioaktive Strahlung austrat. Deshalb mussten wir mit unserem ersten Kind wieder von dort wegziehen. Viele Menschen, vor allem Kinder erkrankten ringsum an Leukämie, ohne dass die Verseuchung in den Medien aktuell je zu diesem Zeitpunkt publik gemacht worden wäre. Wir haben bis zum endgültigen Gewahrwerden der Gefahr, in der wir uns befanden, in einer quasi Idylle gelebt. Es ist zwar viel entstanden in dieser Zeit, die Band Harmonia z.B. und ich habe mit den Arbeiten an meinen Selbstportraits begonnen, auf der Suche nach meiner eigenen Tonsprache, aber unter welchen Umständen? Es war aber quasi eine „gute Zeit“ für uns und unsere Entwicklung. Unser erstes Kind, Rosa Amanda, kam in einer Hausgeburt vor brennendem Feuer im Kamin zur Welt. Aber wir konnten froh sein, dass wir diesen Ort rechtzeitig verlassen haben, denn letztlich erkrankten insgesamt drei erwachsene Mitbewohner und ein Kind an Krebs und zwei Erwachsene und das Kind starben.
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Brauchen Sie den Rückzug, um künstlerisch etwas zu bewegen?
Hans-Joachim Roedelius: Es war damals und ist grundsätzlich für mich sehr hilfreich, ja. Ich brauche den Rückzug, um zu reflektieren; um zu überdenken, auszusortieren, was nur Ballast ist. Gelegentlich in den Elfenbeinturm klettern zu können, war damals und ist auch noch heute für mich ein immer wieder notwendiger Akt von Selbstbesinnung und -bestimmung. Alles, was mir auf meinem Weg passiert ist, hat dazu beigetragen, dass ich mich mit Kompostion/Kunst aus meiner ganz eigenen Sicht beschäftigen kann. Die vielen Menschen, die ich als Physiotherapeut berührt, die ich massiert habe, die mich zu ihrem Beichtvater machten; Ihre Erzählungen. Was ich seitdem künstlerisch, ob durch Musik, Texte, Poesie oder Projekte von mir gebe, geschieht gewissermaßen im „Widerhall“ von dem, was ich bei den Begegnungen erlebt habe, was mir erzählt wurde, wie sich mir Menschen zugewendet und dargestellt haben. Also letzten Endes künstlerische Arbeit, Musik, Poesie, Projekte auf der Basis von conditio humana.
Das heißt, vom Heilmasseur zum Musiker war es kein Bruch, sondern eine Fortführung der gleichen Tätigkeit, nur mit anderen Mitteln?
Hans-Joachim Roedelius: Ja, und ich bin sehr dankbar dafür.
Wie kann man sich das Arbeiten in Forst vorstellen?
Hans-Joachim Roedelius: Wir benutzten ein kleines provisorisches Studio. Viel Zeit verbrachten wir damit, im Wald Bruch-und Altholz für die kalte Jahreszeit zu sammeln, zum Hof zu bringen, zu zerkleinern und in runden Meilern aufzustapeln. Wir mussten ja die Riesen-Räume dieses alten Gemäuers mit Öfen und Kaminen beheizen. Mit Musik beschäftigten wir uns in den Pausen, wenn eben nicht etwas Anderes, Dringenderes anlag. Wir haben unser Brot selber gebacken und das Mehl dazu händisch gemahlen; Marmeladen aus Obst von Bäumen, Sträuchern aus der Umgebung des Weserhofes zubereitet. Wir haben von der Pike auf alles selbst gemacht, vor allem zuerst das lange Zeit zuvor unbewohnte Haus bewohnbar-, Wasserzu- und Abwasserleitungen gelegt, uns hauptsächlich beigebracht, wie man mit wenig Geld über die Runden kommt. Wir besaßen ja nichts. Was wir mit Cluster verdienten, war lächerlich. Die Tantiemen von einem einzigen Stück mit Brian Eno haben uns quasi jahrelang am Leben erhalten.
„By This River”. Eno, der damals mit David Bowie an den Alben „Low” und „Heroes” arbeitete, hat gesagt, er sei sich in Forst plötzlich „wie in einer Blase” vorgekommen.
Hans-Joachim Roedelius: Hat er gesagt, ja. Wir aber auch. So haben wir uns alle gefühlt. Aber für ihn schien es irgendwie ganz besonders wichtig gewesen zu sein, von uns eingeladen für eine gewisse Zeit teilnehmen zu können am Leben in unserer Gemeinschaft. Als er zu uns kam, um insgesamt elf Tage mit uns zu verbringen (auf der Durchreise in die Schweiz zu abschließenden Arbeiten mit David Bowie an „Low“ und „Heroes“), schien er am Scheideweg zu sein, ob er der Produzent werden wollte, der er dann ja auch wurde, oder Songwriter bleiben. Ob sich das dann während dieses Aufenthalts bei uns entschieden hat, weiß ich nicht. Auf jeden Fall hat er das Zusammensein mit uns genossen. Und: Er hat mich und meine Frau sehr entlastet, indem er z.B., Rosa, unser erstes Kind, das nur schlecht einschlafen konnte, nächtelang auf seinen Armen durchs Zimmer getragen hat, bis es eingeschlafen war und hingelegt werden konnte.
Ihr Output ist nicht ohne. Allein, um die Zahl der Kollaborationen aufzuzählen, bräuchte man Stunden. Nicht nur Kollaborationen, jede Menge Solo-arbeiten, Projekte, Aufträge.
Hans-Joachim Roedelius: Alles, was mit Musik/Kunst zu tun hatte, um schließlich als Produkt veröffentlicht werden zu können, ist mir quasi „zugefallen“ und so ist es bisher geblieben. Wenn Zeit war, wenn sich Muße einstellte, wenn mir etwas einfiel, hab´ ich mich ans Klavier oder ans Elektro-Equipment gesetzt, die Ergebnisse zur weiteren Nutzung elektrisch notiert und daran und an neuen Ideen und Aufträgen weitergearbeitet sowie mich mit den Kollaborationen beschäftigt, die sich „wie zufällig“ im Laufe der Zeit immer wieder von Neuem ergaben.
Gehen wir zu den vielen Kollaborationen. Gab es da ein Rezept, wie sie jede Zusammen-arbeit angingen?
Hans-Joachim Roedelius: Nein. Ich habe Menschen/Kollegen getroffen, mich im besten Fall mit ihnen befreundet, um das mit ihnen zu tun, was sich anbot und machen ließ und mit manchen von ihnen dauert die Zusammenarbeit bis heute an, weil die Chemie einfach stimmt und die Resultate überzeugend waren und sind.
Sie schreiben in Ihrer Autobiographie, Komposition und Improvisation machen keinen Unterschied?
Hans-Joachim Roedelius: Ich bin Ton-Klangmaler. Ich muss kommen lassen, was kommen will. Ich denke mir nichts aus. Wenn etwas entsteht, entsteht es aus einem günstigen Augenblick heraus. Der große Wert, den man meiner Musik zuschreibt, besteht sicher darin, dass sie aus dem Herzen und aus dem Bauch kommt. Es gibt keinerlei Absichten und Raffinessen bei/hinter ihrem Entstehungsprozess, außer, dass ich immer offen sein und bleiben muss. Wie gesagt: Ich muss kommen lassen können, was „von selbst“ kommen will.
Hat sich das im Laufe der Zeit geändert?
Hans-Joachim Roedelius: Für Studioarbeit teilweise schon: Brian hat uns beigebracht, nicht alle Spuren der jeweils benutzten Multitrack-Maschine mit irgendwelchen Tönen und Klängen vollzuklotzen. Er hat mich/uns, den jeweils Beteiligten, bei solcherlei Arbeiten jedenfalls Reduktion auf Wesentliches gelehrt, mir aber auch für meine gesamte künstlerische Tätigkeit sehr damit weitergeholfen, sich auf meinen Wunsch hin mit Vorworten, Kommentaren zu bestimmten Projekten und Produktionen und mit den Aussagen über mich in meiner Autobiografie einzubringen.
Was hat Eno von euch gelernt?
Hans-Joachim Roedelius: Ich weiß es nicht genau. Er meinte später, er hätte sich bei uns wie in einer Blase gefühlt, habe erstaunt miterlebt, was und wie wir dieses machen. Ich weiß noch, dass er im Wald – weil ich ihm eine Axt und eine Säge gekauft hatte – damit er beim Holzholen mitarbeiten kann, erst einmal ziemlich ratlos herumsaß. Er hat schließlich sein Notizbuch herausgeholt und ausgerechnet, wie viel Geld ich verdienen müsste, um das Holz nicht mehr selber im Wald sammeln und nachhause tragen zu müssen. „Wenn du fleißiger wärest, könntest du dir jemanden leisten, der dir das Holz ins Haus bringt“, sagte er. „Verbring den Tag nicht im Wald, sondern im Studio”. Aber ich wollte doch unbedingt in den Wald. Ich liebte Pilze und Beeren zu sammeln, das herumliegende Alt- und Bruchholz aufzuklauben, zum Hof zu bringen, dort zu zerkleinern und in Meilern aufzustapeln. das gehörte zu meinem/unserem Leben. Ich wollte insgesamt nur nach den sich ergebenden Notwendigkeiten unserer ruralen Lebensweise im inneren Rhythmus damit tätig sein. Zuerst die notwendige Überlebensarbeit, dann die Musik bzw. die Kunst.
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War es das, was der eine am jeweils anderen anziehend fand?
Hans-Joachim Roedelius: Eno mochte meine frühen Soloarbeiten, die später als „Selbstportraits” herauskamen. Als er mit Daniel Lanois und U2 in Canada an „Joshua Tree“ zusammenarbeitete, schrieb er mir eine Postkarte, in der er anmerkte, dass er, seine damalige Freundin und Daniel sich jeden Morgen an meiner Musik erfreuen würden, weil sie so „absichtslos einfach” sei. Das hat mich natürlich sehr aufgebaut. Brian sagte einmal im Zusammenhang mit meiner Abneigung, bzw. meines eingeborenen Widerstands gegen Eingriffe seitens anderer in meine Kompositionsarbeit: „Mach dir keine Sorgen. Du musst dich nicht produzieren lassen. Du machst Deinen Weg auf Deine Weise.” Das hat mich enorm darin bestärkt, das zu machen, was ich meiner Meinung nach und vor allem wie ich dieses zu tun habe.
Und die gemeinsame Arbeit? Wie lief die?
Hans-Joachim Roedelius: Er hat mit uns an verschiedenen Produktionen mitgewirkt. Eine davon haben wir mit ihm In Forst aufgenommen, als er uns dort besuchte, die aber von der technischen Qualität, vom Klang her schlecht war. Mit diesem Material haben wir uns, nachdem neue Technologie (Sonic Solution) es möglich machte, als Erstes beschäftigt. Und dabei ist das Album herausgekommen das sich „Harmonia tracks & traces” nennt, dessen Inhalt er, wie er selbst sagt, als „magisch“ empfand. Vier Musiker, je ein Track auf der benutzten Vierspuraufnahme-Maschine. Keine Overdubs, Eine wunderbar ausgeglichene Musik, entstanden aus dem Augenblick heraus, gänzlich Im Sinne der Arbeitsweise von Cluster. Auch bei den Arbeiten in Conni Planks Studio an „Cluster & Eno“ und „After The Heat“ waren wir ähnlich motiviert zugange, wobei erstere Produktion noch ganz im Clusterstil entstand, die zweite aber deutlich Brians Handschrift trägt und auch die Mitarbeit Konrad Planks als Supertonmeister und Mitspieler in der entstandenen Musik ihren konkret hörbaren Niederschlag findet.
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Sie nennen in Ihrem Buch Lincoln und Snowden in einem Atemzug. Es gibt viele, die das vielleicht nicht verstehen können.
Hans-Joachim Roedelius: Abraham Lincoln sagte, nachdem the National Banking Act of 1863 beschlossen wurde: “The money power preys upon the nation in times of peace and conspires against it in times of adversity. I see in the near future a crisis approaching that unnerves me and causes me to tremble for the safety of my country. Corporations have been enthroned, an era of corruption in high places will follow, and the money power of the country will endeavor to prolong its REIGN by working upon the prejudices of the people until the wealth is aggregated in a few hands and the Republic is destroyed.” Wem diese seine Aussage nicht unter die Haut geht, der ist blind und taub, bzw. versteht nichts von Realität und ist somit unfähig, in irgendeiner Weise Einfluss auf sie zu nehmen, um das Leben der Menschen wenigstens ein bisschen hin zum Besseren verändern zu können. Edward Snowdon und Chelsea Manning sind große Vorbilder für mich.
Ihre Musik wurde in „War Machine“, einer von David Michod inszenierten und von Brad Pitt produzierten Anti-Kriegssatire verwendet.
Hans-Joachim Roedelius: Nick Cave ist dazu beauftragt worden, den gesamten Soundtrack dieses Films zu produzieren, bzw. zusammenzustellen und dabei jene Teile meiner Musiken, die David Michod als Regisseur bereits vorher für bestimmte Filmpassagen genauestens positioniert hatte, in die Chronologie des gesamten Soundgeschehens einzuarbeiten.
Der Film demaskiert die amerikanische Außenpolitik auf eine sehr überzeugende Art und Weise. Ich habe der Verwendung meiner Musik zuerst nicht zustimmen wollen, mich aber dann von den Bildern und vor allem von den Inhalten der Dialoge überzeugen lassen. Dieses Opus Magnum Brad Pitts, dessen Produktion er mit $ 60 Millionen obendrein aus der eigenen Tasche bezahlt hat, hätte eigentlich einen „Academy Award“ verdient gehabt.
Sie kuratieren und organisieren das Musikfestival More Ohr Less, das viele Jahre in Lunz, einem kleinen Ort in Niederösterreich, stattfand. Wieso Lunz? Irgendwie wirkt dieser idyllische Ort am Fuße des Ötschers mit seinem Gebirgssee wie aus der Zeit gefallen. Wenn man hinkommt, wähnt man sich in den 1950ern.
Hans-Joachim Roedelius: Die Idee war, das von Tim Story und mir komponierte Album „Lunz“, das wir im Gedenken an eine gemeinsame Wanderung von unteren zum oberen Lunzer See produziert hatten, im Ort Lunz auf der Bühne des vom Lunzer Künstler Hans Kupelwieser gestalteten Seetheaters ur-aufzuführen. Wir – meine Frau und ich – haben das Festival dort ins Leben gerufen, nachdem es nicht möglich gewesen war, die Geburt dieses Werkes im Rahmen eines anderen dort stattfindenden Festivals gebührend zu feiern. Die Lunzer Seebühne inmitten einer intakten Natur ist alleine ein Fest für die Augen. Von Natur war und bin ich schon immer fasziniert. Schon als Kind habe ich mich mehr dort, als in städtischer Umgebung wohlgefühlt. Unsere Kinder habe ich sogar nachts in einem Fahrradanhänger über die umliegenden Felder unseres Wohnortes Blumau hinter mir hergezogen, sie sollten die Sterne sehen, die Geräusche der Nacht hören.
Und sie haben nicht geschrien?
Hans-Joachim Roedelius: Nein. Ich weiß, es hat ihnen sehr gutgetan und sie träumen heute noch davon.
Warum haben Sie sich aus Lunz zurückgezogen?
Hans-Joachim Roedelius: Nachdem der Bürgermeister, der das Festival mit ins Leben gerufen hat, frühzeitig in Pension gegangen war, gab es nicht mehr die Rückendeckung, die es früher einmal gegeben hatte. Mit Schlechtwetter hatte man immer zu kämpfen, aber das letzte Mal war es dann echt grenzwertig. Wir konnten nur einen Tag/Abend die Bühne bespielen. Der verbleibende Rest des Programms musste in einem Turnsaal stattfinden. Vikingur Olafsson war gezwungen, mit der schlechten Akustik dieses Saals zurechtzukommen. Das hatte dieser jüngste Großmeister sensibelsten Klavierspiels nicht verdient. Überhaupt standen die Zeichen nicht gut. In der ersten Nacht bin ich gestürzt, habe mir dabei zwei Wirbelkörper verletzt und kann mich jetzt nach einem Jahr immer noch nicht normal bewegen.
Mit Ihrer Autobiographie wollen Sie dem eigenen Leben auf den Grund gehen. Kann man einem so vielfältigen Leben überhaupt auf den Grund kommen?
Hans-Joachim Roedelius: Der Anstoß zum Schreiben der Bio kam von einem Freund, der meinte, ich solle doch die Erinnerungen zu den einzelnen Produktionen niederschreiben, die ich Zeit meines Lebens erarbeitet habe, die Gedanken dazu zusammenfassen und veröffentlichen, mich mit Schein und Wahrheit des von mir Getanen gründlich auseinanderzusetzen. So hat es begonnen und schließlich hat es mehr als zwei Jahre gedauert, bis das Buch fertig war und nun endlich auch in einer englischen Fassung erhältlich ist.
Schein und Wahrheit ist ein gutes Stichwort. Man bekommt im Laufe seiner Karriere zahlreiche Zuschreibungen. „Godfather of Krautrock” etwa, obwohl Ihre Musik mit Rock nur noch wenig zu tun hat. Wie geht man damit um? Gibt´s auch Zuschreibungen, die Ihnen gefallen?
Hans-Joachim Roedelius: (lacht) Klar. Vor Kurzem schrieb jemand über meine Arbeit: „The voice that changed the world.” Die einzige Absicht hinter meiner künstlerischen Arbeit ist, wie bereits erwähnt die Bereitschaft kommen zu lassen, was sich gewissermaßen „wie von selbst“ äußern will. Wenn das als „Stimme“, die die Welt verändert hat, wahrgenommen wird, na dann soll’s doch wohl so sein, oder?
Beeindruckend fand ich auch, was Sie in Ihrem Buch über die Zukunft der Musik sagen. Man hört heute sehr oft, alles sei in der Musik schon gesagt, es gehe kaum noch ohne Wiederholungen. Sie dagegen sagen: „Wir dürfen alle noch auf große Überraschungen hoffen.” Das kling unglaublich hoffnungsfroh. Was macht sie so sicher?
Hans-Joachim Roedelius: Es gibt doch außer mir und meinem Forscherdrang noch andere Persönlichkeiten im aktuellen Musikgeschehen, die sich wie ich mit bisher unerschlossenen Gebieten im Bereich der Tonkunst beschäftigen und dabei etwas in Richtung klanglichen Neulands weiterbewegen und somit der ständigen Weiterentwicklung von Klangkunst und ihren vielseitigen Wirkungsmöglichkeiten zu Diensten sind.
Sie werden 86 Jahre alt, Ihr Tatendrang scheint aber ungebrochen. Was haben Sie musikalisch noch vor?
Hans-Joachim Roedelius: Was ich als Tonmaler weiterbringen kann, versuche ich unentwegt. Momentan beschäftige ich mich bevorzugt mit Saitenklängen. Wenn eine angeschlagene Saite ausschwingt, setzt sie dabei eine Klangwelt frei, die je nach Anschlagsdruck bei jedem Mal anders klingt. Schlägt man dazu eine zweite Saite an, entsteht zwischen den ausklingenden und den anklingenden Tönen ein unglaublich komplexes, faszinierendes Klanguniversum. Den Möglichkeiten in Hör/Horchgefilden herumabenteuern zu können, die nicht nur für mich, den Abenteurer, einen bleibenden psycho-akustischen Mehrwert in sich tragen, bin ich damit auf der Spur, denn Klang ist mir heilig.
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Ist das religiös oder transzendent gemeint?
Hans-Joachim Roedelius: Was ist der Unterschied?
Motörhead-Mastermind Lemmy Killmister hat das einmal schön beschrieben: Ein Journalist meinte damals im Interview, Johann Sebastian Bach wäre ohne die Kirche gar nicht vorstellbar. „Absoluter Unsinn”, entgegnete Lemmy. „Bach wäre ohne Transzendenz nicht vorstellbar. Die Kirche hat ihn benutzt. Und er hat sich benutzen lassen. So waren die Zeiten. Die Leute mussten ja von was leben.”
Hans-Joachim Roedelius: Das hat Lemmy Killmister gesagt? Toll. (lacht) Okay, dann nehme ich Transzendenz. Ist ein klangvolles Wort.
Vielen Dank für das Gespräch.
Markus Deisenberger
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Hans-Joachim Roedelius wurde am 26.Oktober 1934 in Berlin-Steglitz geboren. Er gehört mit zu den Hauptproponenten der Elektronikavantgarde der späten 1960er und frühen 1970er Jahre. Im Laufe seines Lebens hat er unzählige Berufe ausgeübt – Kinderstar, Bau- und Bergarbeiter, Physiotherapeut, Sterbebegleiter und Privatmasseur in Berlin und Paris, Animateur, Reiseleiter, Bergführer in den korsischen Alpen, hat mitgewirkt am Bau eines der schönsten Naturistencamps an der cote occidental von Korsika, usw. Er ist als Komponist und Musiker Autodidakt, hat sein Handwerk im praktischen Umgang mit jeglicher Geräuschmaterial erlernt.
Etwa 200 Tonträger tragen seinen Namen. Neben seinen Band- und Soloarbeiten finden sich darunter Kollaborationen mit Lloyd Cole, Brian Eno, Michael Rother, Conrad Schnitzler, Dieter Moebius, Arnold Kasar, Christopher James Chaplin, Christoph H. Mueller (Gotan-Projekt) Tim Story u.v.a.
Hans-Joachim Roedelius wurde vehement durch den mit ihm befreundeten Herbert Grönemeyer über dessen Label Groenland-Records gefördert, auf dem Label große Teile des Roedelius-Werkes erscheinen bzw. wiederaufgelegt werden. Mit dem von ihm und seiner Frau Christine Martha ins Leben gerufenen Symposion/Musikfestival More Ohr Less fungiert er auch immer wieder als Förderer der jungen österreichischen Musikszene. Heute lebt er in der beschaulichen Kurstadt Baden bei Wien.
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Pressestimmen:
Chicago Tribune:
„one of the best kept secrets of 20th Century music“
ORF / Kultur:
„Musik für Körper und Seele“
Brian Eno
… „the distrust of pomposity and grandeur that seems to have characterized the new German scene is particularly strong in his work…“…„discreet almost to the point of self-effacing introspective almost to the point of hermeticism, Roedelius music nonetheless has a quiet intensity and conviction that burns stronger on repeated listenings. More than anything else, you have the sense of someone completely alive in the present; alive to nuance, alive enough to stay balanced…
The Times
… „An inspiration to artists as diverse as Red Hot Chili Peppers, Brian Eno and Julian Cope, Roedelius has pursued his unique and extraordinarily beautiful vision for half a century. He has also lived a life that screams out to be told in a movie, but this will do nicely for starters…“
Los Angeles Times
… „die Aufführung war für viele der Anwesenden ein religiöses Erlebnis…“
Hessischer Rundfunk
… „Roedelius hat seine Musik immer aus dem Augenblick heraus entstehen lassen, kühle Kalkulation war nie seine Sache. Dadurch haben seine Stücke bis heute etwas Spielerisches Neugieriges und Unvorhersehbares bewahrt. Er hat sich nie zum Maschinenbediener machen lassen, sondern ist immer Musikant geblieben…“
Noel Akchote, Skug Magazin
… „Es geht dabei um Weltmusik in dem Sinne, dass eine Vision reflektiert wird. Es geht um einen Blick, oder einen Ort, der jenseits seiner Akteure liegt. Zufluchtsort ist vielleicht das richtige Wort. Man besitzt nur wenige Produktionen, auf die man immer wieder zurückkommt, weil sie etwas enthalten, das nicht anders gesagt werden werden kann. Etwas, das sich eben nur so sagen lässt, eine Musik, die alles, oder fast alles ist: Klavier, Momente am Violoncello. Diese Folge von Variationen hat etwas vom Erhabenen, vom Licht, von der Luft, sowie von der Erde, oder dem Wasser. Natürliche Musik…“
Sounds
… „bei dieser Musik kann man im Unterschied zur sogenannten zeitgenössischen Elektronik assoziativ empfinden, sie ist also keine mathematisch strenge Lautmalerei, sondern körperliche Musik.“
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