1936 von einem einheimischen Neue-Musik-Enthusiasten gegründet, fanden die Wittener Tage für Neue Kammermusik anfangs sporadisch statt. 1963 wurde der Westdeutsche Rundfunk aufmerksam, seit 1969 schneidet der WDR als Mitveranstalter alle Konzerte mit. Und nicht erst seit Zeiten des Live-Streamings sind die in Witten uraufgeführten Werke international on air zu hören. Das traditionsreiche Uraufführungsfestival für zeitgenössische Kammermusik findet alljährlich im Frühjahr im kleinen Städtchen Witten statt. In diesem April richtete sich das Ohrenmerk nach Österreich. Der Komponist Friedrich Cerha, Pionier der Nachkriegsavantgarde wurde mit einem kleinen Schwerpunkt bedacht. Das renommierte Klangforum Wien war im Jahr seines 25-jährigen Bestehens als zentrales Ensemble geladen.
Erinnerungen – Spuren
„Be quiet“ schreibt der Schlagzeuger des Ensemble Recherche mit kratzender Kreide an die Tafel. Doch die Stille währt nicht lange. Das Ensemble stört immer wieder die gespannte Ruhe. Die schwedische Komponistin Malin Bang, Jahrgang 1974, arbeitet mit verschiedensten Reibeklängen zwischen Ton und Geräusch, mal raffiniert klangfarblich geschichtet, mal von rhythmischen Impulsen durchzogen. Spielte Malin Bang mit vagen Erinnerungen an Alltagsgeräusche, so erinnerte sich Georg Friedrich Haas an eigene, längst abgelegt geglaubte Kompositionstechniken. Georg Friedrich Haas hatte sich einige Jahre lang intensiv der Mikrotonalität gewidmet und seine in vielen mikrotonalen Stücken gelungene und faszinierend umgesetzte Klangsprache mit der Zeit doch ein wenig überreizt. Der Blick zurück entpuppte sich in AUS.WEG zugleich als Blick voraus – liegende, durch mikrotonale Schichtung entstandene, sphärig wirkende flächige Texturen kontrastierte Haas mit rasenden Läufen und Schlagzeugeinwürfen, u.a. auf verschiedene Glocken und Bleche, die an fast zwei Meter langen Seilen aufgehängt waren.
„Erinnerungen, Spuren, Speicher“ – so lautete das Motto einiger Konzerte, das sich bei der Programmgestaltung als gemeinsame Klammer herauskristallisiert hatte. „Erinnert“ hat sich Harry Vogt, Redakteur für Neue Musik beim WDR und künstlerischer Leiter der Wittener Tage für Neue Kammermusik, auch an einen der wichtigsten Gründerväter des zeitgenössischen Musiklebens in Österreich nach 1945: an Friedrich Cerha.
Wenn man sich ansieht, wie bekannt der Name Cerha in Deutschland ist und auf der anderen Seite mitbekommt, wie wenig er in Deutschland gespielt wird, das ist schon eine ziemliche Diskrepanz, die ich auffallend fand in den letzten Jahren. Als wir an die Planung dieses Festivals gegangen sind mit dem Klangforum Wien, war Cerha einer der Komponisten, die eine Rolle spielen sollte. Und aufgrund der Unbekanntheit seiner Musik in Deutschland, dachte ich, wäre es sinnvoll, nicht nur sein Debut als Komponist hier zu organisieren, sondern ihm auch einen kleinen Schwerpunkt zu widmen, um seine Vielseitigkeit zu zeigen, nicht nur in der Zeit seiner Entwicklung, sondern auch in der Vielseitigkeit seiner Schreibweise.
Bei den Wittener Tagen für Neue Kammermusik war Friedrich Cerha bislang nämlich erst einmal zu Gast gewesen: in den 1970er Jahren, damals „nur“ als Dirigent. Ihn daher jetzt in Witten auch als Komponisten zu würdigen, einen Ausschnitt aus seinem Schaffen zu hören, selbst wenn man seiner Musik nicht unkritisch gegenübersteht, war daher nur konsequent und interessant.
Friedrich Cerha war bekanntermaßen nicht nur als Komponist in der Nachkriegszeit ein Pionier in Österreich. Er war es, der in den 1950er Jahren das erste Spezialistenensemble für zeitgenössische Musik ins Leben rief: diereihe – quasi ein wichtiges Vordenker-Ensemble des Klangforum. Cerha wollte die Kompositionen der Gegenwart wie der zweiten Wiener Schule aufführen, wie er in einem Dialog-Portrait-Konzert dem Wittener Publikum erzählte. Denn im restaurativen, musikalisch damals extrem rückwärtsgewandten, rein der klassisch-romantischen Traditionspflege verschriebenen Wien herrschte großer Nachholbedarf. Erst der Weg nach Darmstadt machte ihm die Welt der längst brodelnden Nachkriegsavantgarde zugänglich. Neues entdecken und Eigenes finden: Schon früh, Mitte der 50er Jahre, bekannte sich Cerha dazu, Expressivität in seiner Musik niemals auszuschließen. Sei es in der Kombination mit Reihentechnik in prägnanten kleinen Stücken für Violine und Klavier, sei es in den großbesetzten Orchester-Klangmasse-Stücken „Die Spiegel“, die in den 60er Jahren entstanden und für seine kurze avantgardistische Phase stehen. Noch deutlicher wurden seine Vorlieben auch für Traditionsbezüge, für melodische Fragmente bis hin zu lyrischen Passagen aber seit den 80er Jahren. In seinen Chansons nach Texten von Jandl, Achleitner, Rühm u.a. versucht er gar, entfernte Elemente aus Wiener Lied, Chanson und einfacher Textausdeutung humorvoll, aber letztlich manchmal gar voraussehbar ausdeutend, zu verbinden. Auch hiervon waren Ausschnitte in Witten zu hören gewesen.
Ein neues Streichtrio blieb leider – Vulkanasche-bedingt – unaufgeführt. Die Musiker des „Zebra-Trio“ konnten nicht alle anreisen. „Bruchstück.geträumt“ von Friedrich Cerha allerdings konnte in Witten seine Uraufführung durch das Klangforum Wien erleben. Aus liegenden hohen Streicherflächen entwickeln sich expressiv-lyrische Linien, Röhrenglocken markieren „die verrinnende Zeit“, so Cerha. Durch allzu traditionelle Harmonik und Melodik fühlte man sich vom Gestus her allerdings manchmal ein gutes Jahrhundert zurückversetzt.
Klangforum zum 25.!
Vor 25 Jahren wurde das Klangforum Wien von Beat Furrer gegründet. Ein Grund, es in diesem Jahr gleich mit mehreren Konzerten in Witten zu präsentieren. Nach Witten kamen die Musiker diesmal vor allem mit Werken österreichischer Komponisten. Die Programme bestimmt nicht Kurator Harry Vogt alleine, wie er betont:
Das spielt eine ganz große Rolle bei allen Programmen: die Gespräche, die ich mit Komponisten, v.a. aber auch mit Interpreten führe, um Aufträge zu erteilen an bestimmte Komponisten, die wir haben wollen. Ohne geht es nicht, schon gar nicht gegen die Musiker, es ist ein zusammen an einem Strang ziehen.
Für eine gute Aufführung ist es zweifelsohne von Bedeutung, dass die Interpreten sich mit den Stücken „wohlfühlen“. Neben genügend Probenzeit, die für ein Konzert evtl. – vulkanaschebedingt (?) – nicht ausreichend schien. Gerade in der Interpretation von Bernhard Langs im vergangenen November im Rahmen von Wien Modern uraufgeführten Werk „Monadologie VII“, hier unter der Leitung von Stefan Asbury, wurde wieder einmal deutlich, wie wichtig die Aufführungsqualität für den ersten Eindruck eines zeitgenössischen Werkes ist. Im Gegensatz zur Uraufführung war die Wittener Darbietung wenig geglückt: Statt harte Schnitte wackelige Einsätze, statt vorwärts weisender rhythmischer Motivik schleppend wirkende Wiederholungen. Doch zum Glück: Das Klangforum war auch von seiner besten Seite zu hören; etwa im Abschlusskonzert, unter der Leitung seines einstigen Gründers Beat Furrer. Furrer dirigierte sein eigenes neues Werk „Xenos-Szenen“ für acht Stimmen und Ensemble. Ein Höhepunkt des Festivals. Thematisch um seine neue Oper „Wüstenbuch“ kreisend, geht es um „das Unbekannte“, Metapher für Tod, das Nichts, Sehnsucht, Utopie. Musikalisch zeigt Furrer wieder einmal seine hohe Kunst der Klangmischung aus Instrumentaltönen und – Geräuschen, die nicht Selbstzweck, sondern Basis für formal-strukturelle und rhythmische Gestaltung sind. Selbst im Piano laufen Repetitionen, rhythmische Motivik durch die Instrumente, stets verschoben, sich neu generierend, wie getrieben.
Neue Versuchsfelder in Witten
Seit einigen Jahren gibt es in Witten immer wieder auch Konzerte, die sich experimentelleren Spielformen musikalischen Schaffens widmen. Dabei sucht Harry Vogt immer verschiedene Räume und Orte in Witten, die in das Festival integriert werden.
Ich versuche jedes Jahr einen eigenen Zuschnitt für das Programm zu finden. Dieses Jahr gibt es keine Klanginstallationen, Outdooraktionen. Dafür aber mehr Performances. Und wir präsentieren in Ausschnitten einen ganz spezifischen Punkt der Wiener Neue-Musik-Szene, nämlich die sehr starke Elektronik-Szene. Das war mir wichtig, diesen Punkt auch hinein zunehmen, auch wenn es nur ein kleiner Akzent ist, zu dem großen Klangforum.
Als Location für diese „Wiener Nächte“ wählte man den Unikat-Club im Bahnhof. Experimentelles zu Hören war wohl für das sich leider am ersten Abend lautstark unterhaltende Stamm-Publikum zu ungewohnt. Am zweiten Abend jedoch kamen Interessierte Zu-Hörende – nicht nur Festivalbesucher. Sie konnten einer konzentrierten Schlagzeug-Turntable-Improvisation von Martin Brandlmayer und Dieb 13 lauschen, in der rhythmische Einwürfe und melodische Schnipsel aus geräuschhaft-flächigen Texturen immer wieder herausleuchteten. Dass als dritter Wiener der Elektroniker Franz Pomassl geladen war, war ein Zugeständnis an die eher tanzbarere Clubkultur und damit auch an den Ort der Veranstaltung, allerdings mit eher mäßigem Erfolg.
Songlines
Songlines – diese dreiteilige Konzertreihe galt Liedhaftem im übertragenen Sinne. Auch hier: Erinnerung. Auf denkbar plakativ-rückwärtsgewandte Art bezog sich Jörg Widman in seinen Etüden für Violine solo auf Paganinis Capricen und Bachs Solosuiten. Sie dienten ihm nicht als entfernte Reverenz, um die Idee des Virtuosenwerks für Solovioline neu zu denken. Nein, seine Etüden fügen sich musikalisch in die Klangwelt dieser Werke ein, hochvirtuos, aber allzu zitathaft, allzu ermüdend. Carolin Widman freilich erwies sich nicht nur als hochvirtuose, sondern auch als hochmusikalische Interpretin. Dass hier, wie Widman im Programmtext schreibt, neue Spieltechniken entwickelt wurden, ist, mit Verlaub, eine Anmaßung – und eine Entlarvung. Was bitte hat Herr Widmann im Laufe seines Lebens gehört bzw. anscheinend nicht gehört?
Songlines 2: Cerhas „Chansons“; Songlines 3 schließlich, mit Werken, in denen die Komponisten Bezug nahmen auf je einen Jazzstandard, zeigten, dass es auch heute noch schwierig ist, sich kompositorisch dem Jazz zu nähern, viele Jahrzehnte nach den ersten Integrations-Versuchen und eine hlabes Jahrhundert nach dem Boom des „Third Stream“. Dabei wählten die Komponisten eher einen abstrakten Zugang, weder Roland Dahinden noch Evan Johnson oder Bernhard Lang biederten sich dem Jazz an.
Witten 2010 – Wie meist bei Uraufführungsfestivals war viel Mittelmäßiges zu hören, aber doch gab es auch das ein oder andere Stück, das ein wenig mehr bot als eben jenen gängigen Durchschnitt.
Nina Polaschegg