„WIR SIND EINE KLIMANEUTRALE BAND“ – NELIO IM MICA-INTERVIEW

Mit „Feuer“ haben NELIO zuletzt gezündelt. Beim Protestsongcontest von FM4 bekam das Wiener Quartett für ihre popmusikalische Klimahymne die zweitmeisten Stimmen des Publikums. Es ist ein Song, der nicht nach Soziologie-Seminar klingt, aber in einem besprochen werden könnte. So etwas wie Öko-Pop mit Bio-Gütesiegel. Fair, echt, ehrlich – Salzburger Mundart im Wiener Becken eben. Ein Ansatz, den CATRINA CASSIDY, MANUEL GODITSCH, JAKOB LINDSBERGER und SEBASTIAN OCHOA URIBE im letzten Jahr mit der EP „Ebbe und Flut“ bereits fortgesetzt haben. Warum der Grat bei NELIO schmal ist, wie weit FM4 und Bauer sucht Frau auseinanderliegen und was Voodoo-Puppen mit Wut im Wald zu tun haben, erzählten CATRINA und MANUEL im Gespräch mit Christoph Benkeser. 

Wir treffen uns bei Sonnenschein im Freien. Ihr müsst nachher weiter in den Proberaum. Das geht mit Testen mittlerweile gut, oder? 

Manuel Goditsch: Ja, dabei weiß ich nicht, wie die Zahlen immer noch so hoch sein können. Als Musiktherapeut teste ich mich zwei- oder dreimal die Woche. Würden sich alle testen lassen, die sich mit Leuten treffen, dann müsste das doch gehen!

Man sollte es annehmen dürfen. 

Manuel Goditsch: Ich arbeite in Mistelbach. In der Nachbargemeinde sei die Inzidenz derzeit bei über 1000. Der Grund: Es hat ein Gottesdienst stattgefunden, bei dem der infizierte Pfarrer die Hostien verteilte. Das ist etwas, das für die Personen vor Ort gefährlich ist – aber sich auf uns alle auswirkt.

Wenn Gottesfürchtigkeit den Hausverstand aussticht …

Manuel Goditsch: macht Bildung den Unterschied. 

Catrina Cassidy: Der Unterschied zwischen Stadt und Land ist aber auch wichtig!

Manuel Goditsch: Das stimmt schon. Über manche Zahlen muss man sich nicht wundern, wenn man Erzählungen von Bekannten hört. Man könnte glauben, nur noch Konzerte finden vor der Kamera statt.

Die Kultur leidet. Und ist leise, weil – abgesehen von großen Veranstaltungshäusern – kaum politische Schlagkraft da ist. 

Manuel Goditsch: Man muss sich nur die Salzburger Festspiele ansehen. Sie fanden letztes Jahr statt, sie werden heuer stattfinden. Es geht um viel Kohle, deshalb steht dahinter eine Lobby. Hinter der Independent-Szene steht niemand. Dafür ist es eigentlich beeindruckend, wie viel Musik veröffentlicht wird.

Nelio haben im letzten Jahr auch veröffentlicht.

Catrina Cassidy: Eine Lockdown-Veröffentlichung!

Manuel Goditsch: Ja, wir haben die Zeit genutzt, wo es ging. Trotzdem fiel unsere Veröffentlichung in eine schwierige Zeit, damals waren die Infektionszahlen wirklich hoch.

Davon sind wir zum Glück ein wenig entfernt. Im vergangenen Februar fand sogar der Protestsongcontest statt. Vor einer Kamera, ohne Publikum – aber immerhin mit euch! 

Catrina Cassidy: Ja, wir haben den zweiten Platz beim Publikumsvoting erreicht. Die Jury-Wertung war noch mal anders.

Manuel Goditsch: Deshalb haben wir uns auf die positiven Aspekte konzentriert und gesagt, dass wir den zweiten Platz beim Publikum und den siebten von über 200 Teilnehmer*innen gemacht haben.

Man muss ja nicht alles erwähnen.

Manuel Goditsch: Außerdem haben wirklich viele Leute für uns gevoted.

Catrina Cassidy: Und über den siebten Gesamtplatz freuen wir uns ja auch. Allein die Tatsache, dass wir ins Finale gekommen sind, hat uns richtig gefreut.

Manuel Goditsch: Und die Erfahrung, im Funkhaus unseren Song aufzunehmen, das war eine coole Sache, die aus dem Nichts kam. Schließlich hat Jana [Köck, Managerin von Nelio; Anm.] uns angemeldet. Unter normalen Umständen sind wir im Februar auf Reisen, wären also gar nicht für den Protestsongcontest dagewesen. Eigentlich Glück im Unglück.

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Ihr habt mit eurem Song „Feuer“ teilgenommen. Für mich ist das einer der wenigen popmusikalischen Klimahymnen, für die man sich nicht schämen muss. 

Catrina Cassidy: Das ist schön zu hören. Dabei hast du Recht: Das Thema könnte cringy sein.

Genau, es ist ein schmaler Grat, auf dem man sich damit bewegt. 

Manuel Goditsch: Der Nelio-Grat ist schmal!

Catrina Cassidy: Mundart und Pop zu vereinen ist ein Balanceakt zwischen cheesiness und cringiness. 

Manuel Goditsch: Manche wollten uns schon dem Schlager zuordnen. Eine Richtung, in die wir überhaupt nicht hinwollen. 

Wobei nicht alles am Schlager schlecht ist, oder? 

Manuel Goditsch: Keine Frage, identifizieren wollen wir uns damit aber nicht.

Catrina Cassidy: Dass wir mal so beschrieben wurden, hat uns überrascht. Vielleicht hat es damit zu tun, dass wir für die Sendung Bauer sucht Frau den Soundtrack beigesteuert haben.

Manuel Goditsch: Das habe ich davor übrigens noch nie gesehen.

Weil es keine Sendung ist, die man sehen muss? 

Catrina Cassidy: Ich kenn viele Leute, die das schauen.

Manuel Goditsch: Es is a andere Wöd als die unsere!

In die Nelio – zumindest von der Stimmung – mithineinpasst.  

Manuel Goditsch: Na ja, es ist schön, wenn man sie bespielen darf.

Catrina Cassidy: Und genauso schön ist es, dass wir mit unseren Songs zu FM4 gefunden haben.

Manuel Goditsch: FM4 und Bauer sucht Frau, das sind zwei Pole, die weit auseinander liegen.

In die Mitte passt mit „Feuer“ eine Popnummer, die die Auswirkungen des Klimawandels besingt. Konkret geht es darin um Australien, wo 2019 die Wälder brannten. Mittlerweile hat man das Gefühl, dass die Thematik wieder sehr weit weg ist.

Catrina Cassidy: Es ist ziemlich weit weg, obwohl das Thema überhaupt nicht weit weg ist. Es ist nur in den Hintergrund gerutscht.

Manuel Goditsch: In Österreich gab es zuletzt den wärmsten Februar-Tag seit Beginn der Temperaturaufzeichnungen. Das bringt das Thema wieder auf, aber es hat keinen akut explosiven Charakter wie der nächste Lockdown.

Catrina Cassidy: Man glaubt, die Klimakrise sei ein Thema der Zukunft – obwohl die Auswirkungen in der Gegenwart spürbar sind. Trotzdem kümmern sich viele nicht darum. Heute sind alle im Corona-Krisenmodus, aber niemand ist im Klima-Krisenmodus.

„ES SOLL NERVIG GENUG SEIN, DAMIT ES ALLEN UNTER DER DUSCHE EINFÄLLT.“

Deshalb habe ich von der popmusikalischen Klimahymne gesprochen. Es gibt wenig Künstler*innen, die sich an das Thema herantrauen. Es kann schnell cringy werden und ist derzeit weit weg. 

Manuel Goditsch: Klimaschutz ist nicht cool!

Ist er nicht? 

Catrina Cassidy: Doch, schon! Das Thema ist aber klar und offensichtlich, weil alles, was man darüber sagen kann, klar und offensichtlich ist.

Manuel Goditsch: Wir leben beide vegan, ich vor allem aus klimapolitischen Gründen. Wenn ich mir aber darüber Gedanken mache, was man alles richtig oder falsch machen könnte, entstehen überall Fronten: Welche Kleidung kaufe ich? Darf ich die Banane essen, die über das Meer geschifft wird? Fragen, bei denen Klimaschutz das verbindende Glied für eine Antwort ist. Deshalb braucht es manchmal einen pragmatischen Zugang.

Trotzdem ist die Gefahr, die aus der Zukunft kommt, in der Gegenwart oft nicht leicht zu erklären.

Manuel Goditsch: Es ist ein schwer einzugrenzendes Thema, das macht es so schwierig.

Und es ist ein Thema, das zwar jede*n Einzelne*n angeht, aber nur kollektiv gelöst werden kann. 

Catrina Cassidy: Individuelle Entscheidungen werden sicher nicht zu einer Lösung führen, ja. Jede*r Einzelne kann zwar etwas beitragen, aber es müssen politische Entscheidungen gefällt werden. Damit meine ich auch, dass es kein Luxus sein darf, klimafreundlich zu leben. Alle müssen es sich leisten können, weil es die günstigere Variante zu leben ist!

Manuel Goditsch: Wie kann es sein, dass ein Fleischlaberl nur ein Viertel so viel kostet wie eines, in dem kein Fleisch verarbeitet ist? Das ergibt keinen Sinn! Insofern haben wir uns gefreut, dass wir ein umfassendes Thema auf drei Minuten runterbrechen konnten.

Die Gefahr ist, dass der Popsong den Klimaschutz quasi für mich erledigt – und ich danach sagen kann: Jetzt habe ich ihn gehört, jetzt ist meine Pflicht erfüllt. 

Catrina Cassidy: Wir wollten es thematisieren, auf Vollkommenheit zu zielen, ist aber nicht unser Anspruch. Der Song ist das, was wir dazu beitragen können, um das Thema anzusprechen.

Bild Nelio
Nelio (c) Kerstin Musl

„Wir werden eich dabei ned zusehn“, singt ihr in Bezug auf die Klimazerstörung. Wie engagiert ihr euch gegen den Klimawandel? 

Manuel Goditsch: Wir sind zum Beispiel eine autofreie Band! Das macht es manchmal schwierig, alles zu transportieren.

Das heißt, ihr reist zu Gigs grundsätzlich mit den Öffis? 

Manuel Goditsch: Für größere Transporte borgen wir uns ein Auto aus. Wir spielen aber oft unplugged, dann geht es ohne. Deshalb sind wir quasi eine klimaneutrale Band.

Catrina Cassidy: So gut es geht, ja. Das Lied leitet aber nicht dazu an, klimaneutral zu leben. Es ist eher ein Aufruf, laut zu werden, Druck zu machen und Umweltorganisationen zu unterstützen.

Was mit einem eingängigen Refrain umso besser geht. Ich ertappte mich heute morgen dabei, wie ich ihn unter der Dusche mitsummte. 

Catrina Cassidy: Es soll nervig genug sein, damit es allen unter der Dusche einfällt.

Manuel Goditsch: Um dann die Dusche fünf Minuten früher abzudrehen!

Oder nur noch kalt zu duschen. 

Manuel Goditsch: Genau, das ist das eigentliche Ziel: Das Duschverhalten der Menschen zu manipulieren.

Spaß beiseite: Die Message des Liedes ist umfassend und wichtig. Besteht nicht das Risiko, dass sie von einer Melodie, die sich ins Unterbewusstsein bohrt, überlappt wird? 

Manuel Goditsch: Oder ist es umgekehrt – und die Melodie transportiert die Message?

Das wäre die andere Variante.

Manuel Goditsch: Hätte der Song eine schwierige Melodie, würde er es nicht mal ins Unterbewusstsein schaffen.

Das ist vielleicht aus musiktherapeutischer Sicht interessant!  

Manuel Goditsch: Witzigerweise wirkt sich mein Musiktherapeuten-Dasein, das ich drei Tage die Woche lebe, nicht sonderlich auf mein Musiker-Dasein aus.

Wie das? 

Manuel Goditsch: Es sind zwei unterschiedliche Zugänge zu Musik. Bis vor Kurzem habe ich Themen, die mich in meiner Arbeit als Musiktherapeut beschäftigen, nicht in meine künstlerische Arbeit eingebracht.

Catrina Cassidy: Ich habe schon das Gefühl, dass mich die Arbeit als Musiktherapeutin beeinflusst. Nicht im Sinne von: Ich schreibe über meine Arbeit. Aber auf die Art, dass sich mein Job und die Ausbildung, die wir gemacht haben, darauf auswirkt, über welche Themen ich nachdenke, schreibe – und wie ich darüber reflektiere.

Manuel Goditsch: Ein Stück in der Musiktherapie und ein Popsong, das sind trotzdem zwei Welten.

Inwiefern unterscheiden sie sich? 

Manuel Goditsch: In der Musiktherapie passiert viel im Moment, weil Aktion und Reaktion zusammenfallen. Ich verfolge zwar therapeutische Ziele im Hintergrund, aber die Therapie basiert auf der Begegnung zwischen zwei Menschen. Wenn ich im zuhause ein Lied schreibe, passiert das zwar auch im Moment, aber in der Begegnung zwischen mir und der Musik.

Catrina Cassidy: Meine Handlungen und Reaktionsweisen bedienen in der Musiktherapie die Anliegen des*r Klient*in. In meiner Musik kann ich mich frei ausdrücken.

Manuel Goditsch: Ja, Nelio drücken aus, was uns bewegt. Im musiktherapeutischen Arbeiten stehen die Gefühle von anderen im Vordergrund.

Der Fokus verlagert sich vom Außen, das einem gegenübersitzt, zu sich selbst.

Manuel Goditsch: Genau, die Ergänzung beider Welten ist wirklich schön. Deshalb versuche ich bewusst, Raum für die künstlerische Arbeit auf- und freizumachen. Im Lockdown habe ich zum Beispiel einen Gedichtband geschrieben.

Die lyrische Verarbeitung des Ganzen ohne Musik. 

Manuel Goditsch: Der Band heißt „Wellenberge“. Ich habe letztes Jahr fast 200 Gedichte geschrieben, war unfassbar produktiv – aber eben ohne Musik.

Trotzdem hast du die Zeit offenbar gut nützen können. 

Manuel Goditsch: Für mich war das Jahr 2020 das absolut kreativste und produktivste Jahr meines Lebens.

Und für dich, Catrina? 

Catrina Cassidy: Ich konnte die Zeit zwar zum Musizieren nutzen, aber mit dem produktivsten Jahr meines Lebens hatte das nichts zu tun.

Manuel Goditsch: Musikalisch war das Jahr für mich total unproduktiv. Ich hab nur ein Lied geschrieben. Aber eben viele Gedichte.

Die ja über Umwege auch wieder zurück in die Musik fließen können. 

Manuel Goditsch: Genau, wir proben später ein Lied, dessen Text aus dem Gedichtband stammt.

Der Text ist in eurer künstlerischen Arbeit wichtig, vor allem Themen der Natur treten häufig auf. 

Manuel Goditsch: Ja, die Natur als Synonym für die Stille.

Catrina Cassidy: Im Fall von „Feuer“ nicht unbedingt.

Manuel Goditsch: Stimmt. Alle anderen entstehen aber oft auf Reisen. Ich suche die Pause. Und finde sie in der Natur.

Catrina Cassidy: Die Texte sind aber, das stimmt schon, ein zentrales Element von Nelio. Sie sind das Fundament für Arrangement und Komposition. Auf unserer letzten EP hat sich der Fokus der Naturbezogenheit aber in eine politische Message gewandelt.

Was sich natürlich nicht ausschließt. 

Manuel Goditsch: Es verbindet sich. Innerhalb der Popschiene gibt es ja Statistiken, dass die meisten Stücke weltweit Love-Songs sind. Die haben wir gar nicht.

Catrina Cassidy: Zumindest keine fröhlichen, das wäre uns zu cringy.

Manuel Goditsch: Ja, es sind eher Themen, die uns beschäftigen.

„WIR SIND EHER AUF DER ZARTEN SEITE UNTERWEGS.“

Klar, sie müssen ja woher kommen. 

Manuel Goditsch: Es gibt Künstler*innen, die in eine Rolle schlüpfen und aus dieser Rolle herausschreiben.

Mit Nelio wählt ihr den Gegenpol. Es ist ein sehr nahbarer Zugang zu Themen, die man aus einer progressiv-linken Perspektive sofort unterschreiben möchte – weil sie offensichtlich sind.

Manuel Goditsch: Dadurch stellt sich die Frage, wie sehr wir damit anecken.

Wobei die Teilnahme am Protestsongcontest das Gegenargument liefert. 

Catrina Cassidy: Das war das aneckendste Erlebnis, das wir bisher hatten. Unser Anspruch ist das aber nicht. Anecken entspricht nicht unserer Persönlichkeit.

Manuel Goditsch: Schließlich kommt das, was wir machen, ziemlich authentisch aus uns heraus.

Catrina Cassidy: Nur weil ein Thema offensichtlich ist, kann man trotzdem ein Lied darüberschreiben. Die Klimakrise ist offensichtlich noch nicht offensichtlich genug. Sonst würde sich was tun!

In der Offensichtlichkeit schwingt auch Protest mit. Man darf wütend sein, weil sich nichts ändert. 

Catrina Cassidy: Protest und Wut können sich aggressiv oder sanft ausdrücken.

Manuel Goditsch: Wir sind eher auf der zarten Seite unterwegs.

Catrina Cassidy: Und trotzdem sind wir wütend.

Manuel Goditsch: Nelio ist die sanfte Wut!

Die leider seltener gehört wird, weil – und das trifft vermutlich nicht nur auf den Kontext des Internets zu – die wütende Wut mehr Resonanz und Aufmerksamkeit erzeugt. 

Manuel Goditsch: Da stellt sich die Frage: Was ist die intrinsische Motivation, kreativ zu schaffen? Ist das Ziel, mediale Resonanz zu ergattern? Auf Konventionen zu scheißen, weil man das, was man tut, machen will? Oder will man etwas ausdrücken, das einen bewegt? Würden wir darauf abzielen, mediale Resonanz zu schaffen, müssten wir viele Dinge anders machen. Aber das ist nicht unser Anspruch – weil wir keine Vollzeit-Musiker*innen sind und weil wir mit Nelio einen Rahmen geschaffen haben, innerhalb dem wir uns musikalisch ausdrücken können.

Catrina Cassidy: Deshalb geht es uns nicht um den Effekt und nicht um die Reichweite.

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Das ist ein sympathischer Zugang, den man sich von manch anderen wünschen würde. 

Catrina Cassidy: Dann gäbe es wohl weniger Aggro-Musik und nur noch sanften Pop.

Manuel Goditsch: Wobei ich Aggro-Musik manchmal richtig gut finde. Ich hatte eine Phase in meinem Leben, in der ich mit Totenkopf-Leiberln herumgelaufen bin und auf Konzerten vor lauter Gröhlen kein Wort mehr verstanden hat.

Das war die rebellische Jugendphase, nehme ich an. 

Manuel Goditsch: Ich habe viel Zeit im On The Rocks [Veranstaltungsort in Salzburg, Anm.] verbracht. Außerdem war das Nova Rock ein Teil meiner Jugend.

Da versteckt sich also der wütende Teil der sanften Wut! 

Manuel Goditsch: Ich mache gerade eine Psychotherapie-Ausbildung und beschäftige mich in diesem Zusammenhang viel mit meiner Wut. Die Erkenntnis ist: Wut und Traurigkeit sind zwei Seiten derselben Medaille. Ich bin zum Beispiel eher in meiner Wut als in meiner Traurigkeit.

Wie drückt sich das aus? 

Manuel Goditsch: Ich kann sehr klar sein.

Catrina Cassidy: Das kann er!

Manuel Goditsch: Die Wut drückt sich aber nicht in meiner Musik aus, sondern in zwischenmenschlichen Begegnungen. Der Kontakt zu meiner Wut ist relativ lebendig. Und ich habe therapeutische Methoden, wie man einen Ausdruck von Wut haben kann.

Jetzt bin ich gespannt. 

Manuel Goditsch: Man geht in einen Wald, sucht Stöcke und zerschlagt sie an Bäumen. Dem Baum passiert nichts, wenn er dick ist und eine große Rinde hat. Aber das Knacksen und Spritzen des Holzes ist wirklich super!

Ich kenne als körperlichen Ausdruck das Schreien im Freien. Am besten alleine. 

Manuel Goditsch: Wut ist immer körperlich. Beim Schlagen der Stöcke eignet sich Schreien auch gut als Ergänzung. Letztes Jahr hatte ich ein zweiwöchiges Selbsterfahrungs-Seminar in Vorarlberg. Das war sehr fordernd. Irgendwann bin ich in den Wald und hab geschlagen und herumgebrüllt – bis ein Radlfahrer gefragt hat, ob alles in Ordnung sei.

Wenn man Wut offen zeigt, reagiert die Umgebung oft irritiert. 

Manuel Goditsch: Ja, wo gibt es in Wien einen Ort, an dem ich mich austoben kann, ohne jemanden zu belästigen? Es wäre doch super, würde man in der Öffentlichkeit Schreiräume installieren, wo man die eigene Wut einfach rausbrüllen kann.

Ich kann mich leider nicht mehr an den Namen der Künstler*in erinnern, aber es gab vor einigen Jahren im Rahmen der Wiener Festwochen eine Schrei-Performance mit Freiwilligen. Das sei sehr belebend gewesen. 

Manuel Goditsch: Stichwort Fußballstadion!

Wobei die Masse dort meistens gegen etwas schreit – nicht immer mit netten Ausdrücken … 

Manuel Goditsch: Stimmt, wichtiger wäre der Ausdruck des Schreiens des Schreiens wegen.

Wie drückst du deine Wut aus, Catrina? 

Catrina Cassidy: Ich veranstalte manchmal Voodoo-Partys.

Bild Nelio
Nelio (c) Kerstin Musl

Oh, dann sollte ich vielleicht doch nettere Fragen stellen!

Catrina Cassidy: Es ist aber kein religiöses Ritual, sondern eine sozial verträgliche Methode, um Wut auszudrücken, ohne dabei sich selbst oder jemand anderen zu schaden.

Wie funktioniert eine Voodoo-Party? 

Catrina Cassidy: Man bastelt Voodoo-Puppen von Personen oder Themen, die einen individuell beschäftigen. An denen arbeitet man seine Wut ab und lässt sie raus.

Bei Nelio gründelt die Wut also doch, nur subtiler und nicht in der eigenen Kunst. 

Manuel Goditsch: Spannend, wie wir auf das Thema der Wut kommen – vor allem im Kontext von Nelio!

Das hätte ich auch nicht erwartet. 

Manuel Goditsch: Ich lese gerade „Das Ich, der Hunger und die Aggression. Die Anfänge der Gestalttherapie“ von Frederick Perls. Es geht darum, dass man einer lebendigen Aggression einen Raum gibt. Viele Menschen haben Verspannungen im Kiefer und schlafen mit Schienen im Mund, weil sie mit den Zähnen knirschen. Das sind oft Aggressionen, die nicht rausgelassen wurden. Und jetzt reden wir über Nelio und kommen zu diesem Thema!

Catrina Cassidy: Vielleicht sollten wir als nächstes ein Wut-Lied schreiben.

Ich will euch ja nicht auf falsche Ideen bringen.

Manuel Goditsch: Es ist aber spannend, darüber zu reden. Ich mach mir viele Gedanken, wohin sich meine Wut kanalisiert. Offensichtlich nicht in die Musik, das hört man.

Catrina Cassidy: Bei mir schon – zum Teil.

Manuel Goditsch: Ein Lied, das wir bisher nicht aufgenommen haben, hat den einprägsamen Refrain: „Fuck off“.

Gut, da ist es recht klar. 

Catrina Cassidy: Das Lied ist auf Englisch und heißt „Dead Fish“. Es ist mein Wut-Lied!

Manuel Goditsch: Die Message ist hart, aber eigentlich klingt der Song total sanft.

Catrina Cassidy: Weil man Wut mit jeder Stimme und in jeder Lautstärke ausdrücken kann.

Manuel Goditsch: Kennst du das Phänomen des Double Binds?

Ja, damit beschreibt man zwei Botschaften, die sich gegenüberstehen, oder? 

Manuel Goditsch: Ja, das zeigt sich auch in der Wut, die dauernd da ist, aber nicht raus kann.

Catrina Cassidy: Wobei das etwas anderes ist, als mit sanfter Stimme zu sagen, was man denkt.

Vielleicht habe ich eure Songs falsch interpretiert und mich von ihrer sanften Hülle einlullen lassen! 

Manuel Goditsch: Das glaube ich nicht. Aber die Beobachtung führt zu einer interessanten Frage: Welches Gefühlsspektrum deckt Nelio ab?

Ihr sprecht hier natürlich für euch. Eigentlich seid ihr aber zu viert. Welchen Teil des Spektrums bringen die anderen ein?

Catrina Cassidy: Musikalisch ergänzen wir uns mit Jakob [Lindsberger] und Sebastian [Ochoa Uribe] sehr. Bei unseren Proben- und Songwriting-Phasen greift das gut ineinander.

Manuel Goditsch: Weshalb wir vor Corona gern mal ein gemeinsames Wochenende auf einer Hütte verbracht haben.

Das Nelio-Retreat. 

Manuel Goditsch: Das letztes Jahr eskalierend geendet hat, weil … dürfen wir das überhaupt sagen, Catrina?

Catrina Cassidy: Ich habe schon über Voodoo-Partys geredet, von daher … 

Manuel Goditsch: Die ganze Dirtyness von Nelio liegt unter der Oberfläche.

Ich merk schon: Da gibt es einige ungeöffnete Aggressionen. 

Catrina Cassidy: Die Aggressionen sind schon geöffnet.

Manuel Goditsch: Sie kommen nur woanders raus!

Wir haben so viel über Wut gesprochen. Welchen versöhnlichen Abschluss finden wir? 

Manuel Goditsch: Weißt du, ich freu mich einfach darauf, wieder live zu spielen! Das letzte Konzert hatten wir im September.

Catrina Cassidy: Es war so toll und erfrischend, ein lauschiger Septemberabend im Gastgarten … ein Highlight!

Manuel Goditsch: Wie sehr mir das fehlt, habe ich zuletzt beim Streaming-Konzert von Mynth gemerkt. Ich tanzte in meinem Wohnzimmer. Beim letzten Song, einem David-Bowie-Cover, fing ich an zu weinen – die Tränen sind gespritzt vor lauter Live-Konzert-Abstinenz. Deshalb, ja: Wir freuen uns auf Live-Spielen.

Catrina Cassidy: Und aufs Live-Hören!

Vielen Dank für das Gespräch! 

Christoph Benkeser

 

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