Wien Modern – Höhepunkte zwischen 10.11 und 15.11. 2009 (Tagebuch und Nachbericht)

Wien  Modern – Höhepunkte zwischen 10.11 und 15.11. 2009 (Tagebuch und Nachbericht)Der große Pionier Edgard Varèse (1883-1965) war, auch mit einer audiovisuellen und “akusmatischen” Reise, Star einer umfassenden Retrospektive, weiters Ole-Henrik Moe und auch wieder Iannis Xenakis (1922-2001). Der Fokus Eva Reiter endete mit ihr als Solistin an der Gambe mit einem Konzert englischer Alter Musik, aber auch mit neuen Kompositionen von Burkhard Stangl und Gerd Kühr. Elektronik war mit Philipp Quehenberger vertreten, der Londoner Elektronikmusiker Robin Rimbaud aka Scanner erweckte Varèses Klangwelten mit einem Live-Soundtrack zum Stummfilm “Dr. Jekyll and Mr. Hyde”. Ein Höhepunkt auch: Das Konzert des RSO Wien, im ersten Teil mit Aufführungen von Friedrich Cerha und Johannes Maria Staud.

Eine für den Rezensenten mehr als vollgepackte Woche, zumal man ja auch in das von Mirjam Jessa (ORF/Ö1) moderierte ÖKB-Gesprächskonzert “lauschergreifend” (Ensemble xxi. Jahrhundert/Burwik) gehen musste – mit Werken von Gerald Resch und Reinhard Fuchs, die diese auch verbal erläutern sollten. Zwischendurch musste man immer wieder (und viel zu wenig!) fernsehen gehen, ins brut im Konzerthauskeller zu den Televisionen: Da gab es etwa am Dienstag die beeindruckenden, von SFB und RBB getätigten TV-Mitschnitte der – auch in Zusammenarbeit mit der Technischen Universität Berlin – entstandenen Reihe “Musik im technischen Zeitalter” von 1962/63, mit dem sich zeitlebens unermüdlich auch für die aktuelle Neue Musik einsetzenden Musikwissenschaftler Hans Heinz Stuckenschmidt (1901-1988) als Präsentator: Mit Boris Blacher, Hans Werner Henze, besonders beeindruckend John Cage & David Tudor (herrlich schräg – Cage pafft Zigaretten und schreibt auf einer mikrophonverstärkten Schreibmaschine Manuskripte, während Tudor zwei Steinway-Flügel präpariert und bearbeitet, die Fragen Stuckenschmidts werden von einem würdigen Übersetzer ins Englische übertragen und von Cage teils schlagfertig, teils wie geistesabwesend beantwortet .). Tags darauf dann ungemein berührend die “Vorlesung” von Roman Haubenstock-Ramati mit Bandzuspielungen seiner in neuen Notationsformen als Mobiles und graphisch organisierten Stücke wie “Sequences” und zum Schluss vor allem der “Credentials or think, think Lucky”. Man erinnert sich, dass Haubenstock  1994, nur drei Wochen nach einem Geburtstagskonzert für ihn mit dem Klangforum Wien (mit eben diesen Werken) verstarb.

 

Dann wird auch noch “Der Prinz von Homburg” (1960), die Oper von Hans Werner Henze nach Kleist (Libretto: Ingeborg Bachmann) ab Donnerstag vier Mal im Theater an der Wien gespielt (Noch zu sehen: 17., 20.11.!). Und Haydn-Freaks, die es seit Maria-Theresia gibt (“Wenn ich gute Oper hören will, dann gehe ich nach Esterhaz”, hat die Dame 1773 gesagt), mussten am Samstag oder Sonntag auch unbedingt im Wiener Musikverein eine von Haydns besten Opern (“L’infedeltà delusa”) mit dem Concentus Musicus unter Nikolaus Harnoncourt hören (wenn sie noch Karten  bekamen).

Doch zurück zu Wien Modern: Dort vieles von und mit Ole-Henrik Moe, mit diesem auch als Geiger – etwa “Persefone Perceptions”, oder “The Sheriffs of Nothingness” (das ist der Name des Improvisations-Duos von Ole-Henrik Moe und dessen Ehefrau Kari Rönnekleiv). – In der Ruprechtskirche lautete am Donnerstagabend dann das Motto “Time stands still” nach dem Titel eines wunderbar melancholischen  Stücks von Dowland (1563-1626). Das “Ensemble Unidas” besteht aus Eva Reiter (Viola da gamba), Christopher Dickie (Laute) und der sehr schön alte Musik timbrierenden Sopranistin Theresa Dlouhy.  Die Zeit stand still bei Musik von John Dowland, Tobias Hume oder Thomas Campian, aber auch bei Kompositionen bzw.  Kommentaren von Burkhard Stangl und Gerd Kühr zu Dowlands Musik, beide ausgesprochene und ausgewiesene Liebhaber von diesem und jedweder Musik, gleich ob der Gegenwart oder der auch ferneren Vergangenheit. Eva Reiter – das konnte man in dem ihr gewidmeten “Fokus” bei Wien Modern überprüfen – stellt sich der Herausforderung, der sich auch die guten alten Engländer von  damals stellten, zugleich Interpretin und Komponistin zu sein und dazu noch Alte und Neue Musik mit derselben Leidenschaft und Hingabe zu spielen.

 

RSO Wien (Römisch) I

So ist das erste Wien Modern-Konzert des ORF Radio-Symphonieorchesters Wien im Almanach übertitelt und das Orchester spielte unter Bertrand de Billy im Großen Saal des Musikvereins natürlich – sehr gut. Eröffnet wurde es mit dem “Monumentum für Karl Prantl” (1988/89) für großes Orchester von Friedrich Cerha, für deren 9 Abschnitte (von “Anrufung” über “Meditationen” und “Kreuzweg” bis “Verzweigungen (weißt du, dass die Bäume reden)” der Komponist jeweils eine Skulptur Prantls als Anstoß bezeichnet. Cerha schreibt: “Ich empfinde die Hektik, die Erregtheit in vielen Formen von Musik unserer Zeit als sinnlos. Prantl hat einmal gesagt: Kunst ist Hilfe. Die konzentrierte, einfache Ruhe und Kraft seiner Steine war für mich eine Hilfe, die Sprache des ,Monumentum’ zu finden. Ich verstehe es als Dank und wäre glücklich, wenn ich damit Hilfe weiterreichen könnte.”

Johannes Maria Staud beschäftigt sich in “Segue. Musik für Violoncello und Orchester” (2006/08) mit der Tradition – auch des Konzerts, will seine Musik aber nicht “Cellokonzert” nennen. Ausgangspunkt seiner Musik ist das – nunmehr für Solocello und Orchester gesetzte -Zitat einer nie vollendeten Skizze von Mozart für Violoncello und Tasteninstrument, einem Andantino (KV Anh.46, 374g). Zu “Segue” (italienisch: es folgt, es geht weiter) schreibt Johannes Maria Staud: “. Ein Musikland braucht seine großartigen Komponisten der Vergangenheit ebenso, wie es auf seine wunderbaren Interpreten der Gegenwart angewiesen ist. Um aber lebendig zu bleiben, eine Tradition für morgen zu schaffen, braucht es vor allem, und das wird leider allzu oft vergessen, auch seine im Hier und Jetzt schaffenden und erfindenden Künstler. Wer dem Neuen die Existenzberechtigung abspricht und zufrieden ist, einzig und allein medial aufgepepptes Altbekanntes wieder und wieder zu konsumieren (wie zum Beispiel die 249. ,Traviata’ in Starbesetzung), ist mit einem Gourmand zu vergleichen, der sich jeden Tag an seiner Leibspeise satt isst und irgendwann doch an Mangelernährung verkümmert.” Einen ausgezeichneten solistischen Interpreten für sein Stück hatte Staud in Jean-Guihen Queyras zur Verfügung, gebürtig aus Montreal und langjähriges Mitglied des Ensemble Intercontemporain.

 

Im zweiten Teil es Konzertes dann “Metastaseis” (1953/54) – 65 Musiker spielen 65 verschiedene Stimmen – für die Streicher verwendete Xenakis Glissandi, wie er sie später auch für die Vorstellung des von Le Corbusier errichteten Philips-Pavillons (Brüssel 1958) einsetzte. Dieses Stück ist “der Versuch zu beweisen, dass ein menschliches Orchester fähig ist, durch neue Klangwirkungen und Feinheiten die neuen elektromagnetischen Mittel zu überbieten, die es überflüssig machen wollten” (Xenakis) [Merks ORF!!!]  “Arcana” (1925-27/1960), ein Stück für (sehr großes) Orchester mit herausfordernden Aufgaben für vor allem die Blechbläser und Schlagzeuger von Edgard Varèse beschloss diesen Abend.

 

Varèse stellte auch das von vielen Besuchern subjektiv als das beste empfundene Stück des Spätabends “Akusmatik I” im wunderschön adaptierten Kuppelsaal der Technischen Universität Wien dar: Sein Poéme electronique (1958) stand im Zentrum mehrer akustischer Kompositionen, die Thomas Gorbach (Akustische Inszenierung & Klangregie) zusammengestellt hatte und in einer Rundumbeschallung des Raums mit über einem Dutzend Lautsprechern ablaufen ließ, darunter auch eine eigene Uraufführung: “Hommage aux ,Déserts’ d’Edgard Varèse” (2009). Gorbach, Schüler u. a. von Günther Rabl, ist der Begründer von “The Electroacoustic Project” und arbeitet als Lehrbeauftragter für das Wahlfach “Elektroakustische Musik” der TU.

Diese Lautsprecheranordnung “United Banal Orchestra”  ist – wer’s genau wissen will – “eine Sammlung von Lautsprechern verschiedenster Charakteristiken und Einsatzmöglichkeiten, darunter auch legendäre Modelle aus den 70er Jahren sowie Sonderanfertigungen, beispielsweise die Kugelboxen österreichischen Pavillon bei der Expo Sevilla 1992. Das Instrumentarium . basiert auf dem Lautsprecherorchester von Günther Raul, das dieser seit vielen Jahren für die Aufführung seiner Musik im Einsatz hat, und wird nun durch die Sammlungen von Thomas Gorbach, Gilbert Handler und Wolfgang Musil erweitert.” (Wien Modern Almanach) Die anderen ausgewählten Stücke des Abends stammten von Ilhan Mimaroglu, sie entstanden zwischen 1965 und 1971, und von Frank Zappa (!) aus “We’re only in it for the Money” (1968).

 

Am Samstagabend ein “Oral-History” Abend zu Varèse mit dem OENM (Österreichisches Ensemble für Neue Musik) unter Johannes Kalitzke mit dem Komponisten und Varése-Schüler Chou Wen-chung als Moderator, später am Abend  dann im Gartenbaukino der bereits erwähnte Film “Dr. Jekyll and Mr. Hyde” (USA 1920) mit Live-Musik. von Robin Rimbaud aka Scanner. Am Sonntagabend dann eine weiteres Varèse-Dokukonzert mit dem OENM und Filmen von Frank Scheffer, der bei Wien Modern auch heuer wieder zu Gast ist und dessen Film über Varèse “The  One All Alone” (NL 2009), der im September beim Filmfestival in Venedig seine Premiere feierte,  als Österreich-Premiere  am Montag, 16. November um 21.30 im Stadtkino zu sehen ist (zu Frank Scheffer siehe auch mica-Musiknachrichten: Wien Modern 2007, Rückblick Woche 1).

 

Alte Schmiede: Gesprächskonzert mit zwei Uraufführungen (Jaime Wolfson, Hannes Dufek)

 

Bummvoll die Alte Schmiede am Sonntagnachmittag. Aufgeboten: Musikerinnen und Musiker des Ensemble Platypus. Die Gesprächskonzerte der Alten Schmiede erlaubt es, die vorgestellten (neuen) Stücke zweimal hören und darüber auch mit den Komponisten in einer moderierten Diskussion sprechen zu können. Auf dem Programm diesmal zwei Auftragskompositionen von Wien Modern, die an den aus Mexiko stammenden Jaime Wolfson (*1973), der dann in auch in Wien Komposition, Dirigieren und Klavier studierte und an Hannes Dufek – einem Platypus-Mitbegründer – ergingen.

Wolfsons Stück “Gedanken aus dem Tagebuch” (2009) bezieht sich auf Gogols “Tagebuch eines Wahnsinnigen” und ist der Versuch zwei Episoden und Elemente dieses Tagebuchs herauszugreifen. Die Mitwirkenden sind zwei Flöten, von denen eine der Spielerinnen dann auf eine Schreibmaschine wechselt, schreibend, nachdenkend, weitertippend, sich manchmal von einem Geräusch der anderen gestört fühlend . [um die Wirkung solcher theatralischer Mittel wusste schon John Cage, siehe weiter oben in diesem Artikel]), zwei Klarinetten, eine im Raum herummäandernde Violaspielerin, die aus einem Umhängtäschchen kleine Notenzettel  zieht, das , was da draufnotiert ist, durchliest und stehend oder hockend spielt, sowie Elektronik. Ein Schmiedehammer, betätigt nacheinander von allen Mitwirkend auf einem  Amboss in der Alten Schmiede, spielt auch mit. Unüberhörbar, wie gut theatralisch-szenische Mittel in der Musik beim Publikum “ankommen”.

 

Hannes Dufek versucht sich in seinem Stück für Flöten, Klarinetten, Violine, Viola, Violoncello und Tuba an das Thema “große Musik” heranzuarbeiten, indem er, wie er meint, nicht musikhistorisch in solcher herumrecherchieren will, sondern sich an Laotse halten will: “Die (wirklich, große) Musik ist still. Eine “stille Dramatik des Nicht-Fortgangs”.  Auf mehren Blättern, die das Publikum an sich nehmen kann (samt Anweisung, die Sitznachbarin fragen zu können, ob man tauschen könne oder alle Blätter haben kann) sind verschiedene Zitate versammelt. Während der Aufführung – die Musik (oft Fermaten und neue ,Gedankenfäden’ ):  ” . der Wind weht, das Wasser fließt, das Leben geht voran .” (Dufek) – darf das Publikum eine beliebige Textstelle zu jedem beliebigen Zeitpunkt – auch mehrere Personen gleichzeitig – ein solches Zitat verlesen, auch öfter, oder ein anderes das einem gerade gefällt oder vielleicht zur Musik zu passen scheint. Sehr hübsche Idee! Das Gespräch mit den Komponisten und dem Dirigenten Gergely Mafares führte als Diskussionsleiter Michael Zacherl.
Heinz Rögl