Die Konzerte von 2.-7. November Die Uraufführung von Pierluigi Billones 1 + 1 = 1 (an zwei Bassklarinetten Petra Stump und Heinz-Peter Linshalm) und die Gesamtaufführung von Friedrich Cerhas Spiegel I-VII (1960/61) durch das SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden waren Höhepunkte des auch nach den Eröffnungskonzerten weiter spannenden Festivals Wien Modern.
Zwei Pole – ein KlangPetra Stump (mit dem Titel BA-CA Artist of the Year geehrt) und Heinz-Peter Linshalm haben als Klarinetten-, vorzüglich Bassklarinetten-Duo schon etliche eigens für sie komponierte Werke realisiert. Stücke von Bernhard Gander, Christoph Herndler, Jorge Sánchez-Chiong, Beat Furrer, Salvarore Sciarrino oder Bertl Mütter kann man auf einer 2005 bei einklang_records erschienenen Doppel-CD (“born to be off-road”) finden. Pierluigi Billone schuf nun mit seinem siebzigminütigen Stück 1 + 1 = 1 (ermöglicht durch einen Kompositionsauftrag der BA-CA) einen neuen Glanzpunkt in diesem Repertoire. Pünktlich zur Uraufführung bei Wien Modern, veranstaltet von der Jeunesse in der MUMOK-Hofstallung, präsentierte das Label kairos auch schon die vorab produzierte CD-Aufnahme des Werks.
Billone ist ein “ökologischer” Komponist. Beim Umgang der Spieler mit Instrumenten sucht er deren körperliche Fähigkeiten, Traditionen und Wahrnehmungen bei der Klangerzeugung miteinzubeziehen. Die organische “Verlängerung” des Instruments durch die Interpreten hindurch, der Raum, in dem die Musik erklingt, nicht zuletzt die rituelle Dimension gemeinschaftlichen Zuhörens sieht er als ganzheitliche Klangwelt. Insofern haben die Ausführenden, in diesem Fall zwei famose Solisten, die nicht nur alle erdenklichen Mehrklang-Spieltechniken drauf haben, sondern mit ihrem totalen Engagement auch der Idee des Werks den Weg nach außen bahnen, am Gelingen des Stücks maßgeblichen Anteil.
“Ein Tropfen plus ein Tropfen ergibt einen größeren Tropfen, nicht zwei”, sagt der eigensinnige Domenico in Andrej Tarkowskis Film Nostalghia und das ist das titelgebende Motto für Billones Stück. Auf zwei Podien, im Abstand von fünfzehn Metern voneinander räumlich entfernt, entfalten die beiden Solisten einen engen Dialog, werfen einander wie Bälle ihre Statements zu, niemals (eine ganz kurze Stelle ausgenommen) im Unisono-Einklang, stets asymmetrisch. Zart aber auch heftig, meditativ und expressiv ist diese Zwiesprache, die so etwas wie Multiphonie und auch “impersonelle Dimension” im Raum entwickelt, mal verdünnt, mal gestreut, einmal artikulierter, einmal unbestimmter. Silben werden zu Sätzen geformt, das bricht immer wieder ab, andere Töne, auch des Unsagbaren, Magischen, emotional Mehrdeutigen werden gesucht. Billone schreibt dazu: “Die Arbeit äußert und entwickelt sich in Stationen, jede von ihnen steht in einer anderen Dimension. Sie folgt einer besonderen Hierarchie und Gradationen von Verbindungen, die oft sehr entfernt voneinander liegen. Station um Station entsteht eine dishomogene Galaxie aus Erscheinungen und gleichzeitig öffnet sich ein weiterer Raum des rituellen Wort-Klanges. Die Möglichkeit und der Sinn, alle diese Ebenen zu integrieren, das ist die offene Frage für das Hören.” Jedenfalls: Ein großer Abend für das Hören mit offenen Ohren.
Cerhas Klang-Welttheater – in exemplarischer Wiedergabe
114 Musiker, davon allein 12 Schlagzeuger, exekutierten in einer der raren Gesamtaufführungen (eine solche passierte zuletzt 1996 in Salzburg) Friedrich Cerhas unbestreitbares Hauptwerk für großes Orchester: Der 1960/61 entstandene, siebenteilige Spiegel-Zyklus in der Realisation durch das SWR-Sinfonieorchester Baden Baden und Freiburg unter Sylvain Cambreling hatte schon im Sommer den Auftakt zu den Bregenzer Festspielen gebildet und erklang nun im Wiener Konzerthaus im Rahmen von Wien Modern.
Den faszinierten Hörer von heute bewegt dieses monumentale Werk (Gesamtdauer: eineinhalb Stunden), das jetzt unglaubliche 45 Jahre alt geworden ist, verglichen mit etlichen neueren Artefakten aber kein bisschen alt aussieht, natürlich durch seine sinnlich schillernde Klanglichkeit. Vor allem aber besticht es durch seine kompromisslose, bis ins kleinste Detail ausgefeilte Radikalität in der Durchformung prozesshafter Vorgänge – und das im Riesenmaßstab. Und darauf kam es Cerha ja noch mehr an als auf puren “Sonorismus”.
Klangbewegung und Farbe sind in diesen Stücken die zentralen und formbildenden Parameter, doch geht es um mehr, um (damals) gänzlich neue Möglichkeiten musikalischer Gestaltung, Aussage und Ausdruck groß geschrieben. Jenseits von seriellen Rechenspielen, Zufallsergebnissen oder bloßem Erzeugen von Klangreizen markieren die Spiegel – und zuvor Mouvements und Fasce – Cerhas Ausbruch aus orthodoxer Serialität, den er zeitgleich mit György Ligetis Referenzstücken Apparitions und Atmosphéres, doch unabhängig von diesem unternahm. “Du schreibst ja mein Stück”, soll der zu seinem Freund gesagt haben, als er bei einem Besuch dessen Partiturskizzen sah.
Die exemplarische, zügige und immer transparente Wiedergabe unter Cambreling, noch begünstigt durch die denkbar besten akustischen Verhältnisse, die der Wiener Konzerthaussaal eben bietet (wenn es auch noch so “fetzt”, man kann immer noch differenzieren), machte ein Hören möglich, das beiden Aspekten des “Verstehens” dieser epochalen Musik in gleicher Weise entgegenkam: Natürlich durfte man über die unerhörten orgelregisterartigen Klangerzeugungen von 55 Streichern (“Spiegel II”) staunen, verlor über diese Hingerissenheit aber nicht den Überblick über die immer wieder impulsgebenden Rückkopplungsprozesse im Verlauf des Stückes. Über beängstigenden Marschtritt-Exzessen (“Spiegel VI”) vergaß man nicht darauf, dass hier trotzdem alles “rein musikalisch erfunden” ist. Wiewohl Assoziationen natürlich zulässig sind: Ein Welttheater, das von einer Uranfangssituation bis zur Endzeitvision vielerlei beinhaltet – Massensituationen und die Angst des Einzelnen, Grausamkeit und Schönheit. Ovationen am Ende.
Kurtág-Meisterwerke und Orchester-Exerzitien
Abgesehen von einem Ausflug zur etwas ratlos lassenden flüchtigen Schönheit (“fugitive beauté”) eines neuen Kammermusikwerks von Mathias Spahlinger widmete sich das Freiburger ensemble recherche bei seinem Wien Modern-Gastspiel Zusammenstellungen von Miniaturen und Fragmenten György Kurtágs, die bekanntlich in dessen Schaffen konstitutiv sind. Signs, Games und Messages für Streichinstrumente wurden mit einer Auswahl der Games und Messages für Bläser kombiniert, weiters stand die enigmatische Hommage à R. Sch. für Klarinette (auch große Trommel), Viola und Klavier auf dem Programm. Alle diese Stücke sind wunderbar und berührend, leider wurden sie teils etwas zu akademisch präsentiert. György Kurtág verlangt eben alles von den Interpreten. Zumindest eine rühmliche Ausnahme, bei der Interpretation und Werk zueinander Augenhöhe erreichten: “Eine Blume für Dénes Zsigmondy” – Trauerarbeit in Streichtrioform.
György Kurtágs . concertante . für Violine, Viola und Orchester (2003), durchaus der historischen Gattung “Konzert” zuzurechnen, erfüllt alle Kriterien eines – fast schon zeitlosen – Meisterwerks. Die beeindruckende Realisierung durch die Solisten Hiromi Kikuchi und Ken Hakii, denen Kurtág das Werk auch widmete, schoss im RSO Wien-Konzert am 3.11., dessen Dirigat der umsichtige Michael Boder kurzfristig als Einspringer übernahm, in der Publikumsgunst den Vogel ab. Auch, deren glücklichen Mienen nach zu schließen, bei den Orchestermusikern. Zuvor bei Bernhard Langs “Konzert” für zwei auf der Empore etwas exterritorial postierte Turntablisten und Orchester (DW8) hatten diese teils etwas leicht Säuerliches an sich, als sie – durchaus mit Anstand – Orchesterloops live zu vollführen hatten, die dieb 13 und Marina Rosenfeld, die es dazu auch noch ein wenig improvisatorisch scratchen und zwitschern lassen konnten, ohnehin auch als Samples auf ihren Scheiben zu Gebote standen. Die etwas melancholische “Und ewig grüßt das Murmeltier”-Schwere der Musik tat da ihr Übriges, Emphase kam keine auf – die ist aber zumindest in diesem Stück der DW-Serie auch nicht unbedingt gefragt.
Solche interpretatorische Emphase für Langs diffizile und virtuose Anforderungen fand hingegen vor, wer Sylvie Lacroix (Flöte), Michael Moser (Violoncello) und Krassimir Sterev (Akkordeon) am Samstag in der Alten Schmiede zuhörte. Auch Hsin-Huei Huang faszinierte tags darauf im Gläsernen Saal des Musikvereins bei DW 12 (“cellular automata”) – einem Stück nicht nur für, sondern auch über das Klavier als mechanische Hammerklaviersonaten-Maschine. Sie teilte sich den Abend mit Peter Ablingers Vorstellung seines Projekts “8 Vitrinen, Pigmentstaub” aus dessen Reihe “Instrumente und ElektroAkustisch Ortsbezogene Verdichtung (IEAOV)”.
Ein orchestrales Feuerwerk – zurück zum RSO-Konzert – stellt Johannes Maria Stauds “Apeiron” dar. 2005 von den Berliner Philharmonikern unter Sir Simon Rattle uraufgeführt, erklang es bei Wien Modern in österreichischer Erstaufführung. Kombinatorisch souverän behandelt Staud den großen Orchesterapparat, dramaturgisch stimmig stürmt das Geschehen vorwärts, entfaltet bei allem Orgiastischen (Schlagzeug, “Rattle-Ratschen” und lustvoll eingesetztes massives Blech) immer wieder berückende harmonische Mixturklänge und polyphone Quasi-Concerti. Dass die Probenzeit kurz war, hörte man dieser Wiedergabe allerdings schon auch an.
Stellare Flugobjekte
oder, etwas sarkastisch ausgedrückt, “interstellare Bildschirmschoner” (© Werner Korn) schwirrten als von Didi Bruckmayr konzipierte visuals, teils winzig klein (also weit entfernt am Rand der Galaxien), über die gekrümmte Projektionskuppel des Planetariums im Wiener Prater. Bei der zweiten Aufführung (So., 5.11.) reagierten diese immerhin auf die – zumeist behutsamen – Hervorbringungen von Robyn Schulkowsky am Schlagwerk, gekoppelt mit elektronisch komponierten bzw. prozessierten Weltraum-Klängen (Burkhard Stangl, Thomas Grill). “Count the Stars”, das erste von vier Elektronik- bzw. Medienspezialprojekten bei Wien Modern, hatte trotzdem durchaus Charme – gerade durch die Leisigkeit und den Verzicht auf (zu) bombastisch-plakative Ereignisse, deren eines fraglos im zum Rotieren-Bringen des sternenübersäten “Original”-Kosmos des Planetariums bestand (vor lauter Sternhaufen erkannte der Laie allerdings keine Sternbilder mehr – offensichtlich wurde dieser mit “all the works” garniert).
(hr)