Die vorletzte Festivalwoche feiert, abgesehen von einem kleinen und einem großen Konzert (input > klavier in der Alten Schmiede und Future Memories im Mozart-Saal), noch einmal die wundervolle, widersprüchliche Formenvielfalt der neuen Musik: mit drei Film-/Videoprojekten im Mozart-Saal, im Odeon und im Dschungel Wien, zwei begehbaren Produktionen im MAK und im Institut für Geologie der Uni Wien, einer szenischen Version von George Crumbs Makrokosmos mit Objekten und Performances im Jugendstiltheater und einem zweitägigen Improvisationslabor im Odeon. Insgesamt gibt es bis Ende November 59 Ur- und 19 Erstaufführungen an 27 Spielstätten in 10 Wiener Gemeindebezirken zu hören und zu entdecken.
Nach so viel Komponieren tut Improvisation richtig gut, sagt Angélica Castelló. Sie ist gemeinsam mit Martin Brandlmayr, dieb13, Klaus Filip, Susanna Gartmayer, noid, Billy Roisz, Martin Siewert und Oliver Stotz Teil von the klingt collective, dem Wiener Improvisationsmusik-Ensemble, das seit Tagen gemeinsam mit dem Komponisten, Kontrabassisten und Forscher Christopher A. Williams, der Anthropologin Caroline Gatt und dem Philosophen Joshua Bergamin quasi unter Laborbedingungen das Improvisieren erforscht. Das (Musical) Ethics Lab, ein dreijähriges Forschungsprojekt mit Laboren in Graz, Wien, Trondheim und Berlin, lädt mit zwei unterschiedlichen Konzertprogrammen und verschiedenen Gesprächsrunden am Montag 21.11. und Dienstag 22.11. im Odeon zu spannenden Begegnungen mit improvisierter Musik.
Der zweistündige Zyklus Makrokosmos für ein bis zwei Klaviere, Schlagwerk und Elektronik ist eines der großen Meisterwerke des im Februar im Alter von 92 Jahren verstorbenen Komponisten George Crumb. Ein fantastisch-poetisches Weltmodell, das «die großen und kleinen Rhythmen der Natur» als zu einer Rundreise durch Weltraum und Erdzeit formt. Spiralbewegungen im «celestial ballroom» orientieren sich an den zwölf Sternbildern des Tierkreises und führen zwei faszinierende Stunden lang durch ein komplexes Gebäude aus Astronomie, Astrologie, Religion und Schöpfungsmythen. Quasi als Teil zwei seiner Erkundung des Weltraums nach René Clemencics Kabbala im Planetarium versetzt das sirene Operntheater dieses Monument der Klavierliteratur mit kinetischen Installationen und Performances von sieben Künstler:innen in Bewegung. Premiere ist am Dienstag 22.11. im Jugendstiltheater am Steinhof, weitere Aufführungen sind am Donnerstag 24., Freitag 25. & Sonntag 27.11.Ergänzend zum bisher angekündigten Programm wird an den vier Aufführungstagen Bernhard Gál sein soeben erschienenes Buch Hörorte | Klangräume. Eine transdisziplinäre Topografie installativer Klangkunst präsentieren: Nach jeder Vorstellung lädt der Klangkünstler und Musikwissenschaftler im Gespräch mit Stefan Fricke (22.11.), Georg Weckwerth (24.11.), Marie-Therese Rudolph (25.11.) und Barbara Barthelmes (27.11.) zu Entdeckungen raum- und ortsbezogener Klangkunst.
In Nomine PPP am Mittwoch 23.11. im Mozart-Saal des Wiener Konzerthauses ist die erste von zwei großen Filmprojektpremieren mit PHACE im Rahmen von Wien Modern 2022. Die musikalisch-filmische Kantate für Pier Paolo Pasolini zum 100. Geburtstag ist eine große Hommage an Werk und Leben des großen italienischen Künstlers und Intellektuellen. Mit Musik von Stefano Gervasoni, einem Film von Paolo Pachini und zahlreichen Gedichten von Pasolini beleuchtet In Nomine PPP die politische und kulturelle Rolle Pasolinis in der italienischen und europäischen Gesellschaft der 1960er- und 1970er-Jahre. Die eng verwobenen Interaktionen zwischen Musik und Bildern lassen dabei eine einzigartige Atmosphäre entstehen, in die die Wahrnehmung vollständig eintaucht und die sie restlos durchdringt. Aus der Hybridisierung der Sprachen entsteht ein zerrissener, manchmal aber auch versöhnlicher Ausdruck, eine Hommage an Pasolinis rauen Blick, dessen mäeutische Kraft die Dinge bloßlegt und – gerade heute in einer globalisierten Welt – jene Verflechtungen von Moderne und Tradition aufzeigt, für die der Dichter ein Prophet war.
Die autobiografischen Erinnerungen des 1953 in Graz geborenen Komponisten Georg Friedrich Haas sind ein zeithistorisch bedeutendes Dokument von großem Seltenheitswert. Es beschreibt eine komplexe österreichische Familiengeschichte im Umfeld des Nationalsozialismus nach dem zweiten Weltkrieg. Seinen Großvater Fritz Haas (Rektor der TU Wien 1938–1942) schildert Haas als den «Übervater» seiner Familie, dessen ideologische Verbindung zum NS-Regime ebenso beleuchtet wird wie sein Wirken in der Nachkriegszeit. Mit großer Akribie, emotionaler Stärke und klarer gesamtgesellschaftlicher Analyse gibt Haas eine detaillierte Innensicht auf eine deutschnational / nationalsozialistisch geprägte Umgebung und schildert die Loslösung aus diesem Milieu – seinen Weg nach draußen. (Durch vergiftete Zeiten. Memoiren eines Nazibuben, Donnerstag 24.11.)
In The Forest Concerts, unserer Neuproduktion für Kinder ab 7 Jahren (und Erwachsene), dreht sich alles um die Geräuschwelt des Waldes, und zwar auf eine durchaus für Großstadtkinder zugängliche Weise: Das coole Schlagzeug-Klavier-Quartett aus New York Yarn / Wire, der witzige Komponist aus Oslo Øyvind Torvund, der auch Gitarre in Rockbands gespielt hat, die Illustratorin und Comiczeichnerin Åshild Kanstad Johnsen aus Bergen an der norwegischen Westküste und die Schauspielerin Elsa Rauchs aus Luxemburg haben im Team diese knapp einstündige Aufführung zum Mitmachen entwickelt. In Begleitung der Comicfiguren «Boss», «Bacall», «Sound T» und «DES» entwickeln die Besucher:innen gemeinsam ein Museum von Dingen und Klängen aus der Natur, zeichnen Bilder, machen Tonaufnahmen und erzeugen selbst Klänge und Geräusche. Erzählt wird von der Leidenschaft und Freude des Sammelns, Zusammentragens und Kategorisierens von Materialien und Geräuschen, die aufmerksamen Menschen in der Natur begegnen. Die Uraufführung fand am Samstag 19.11. in der Philharmonie Luxembourg im Festival rainy days statt, diese hochkarätige Produktion für junges Publikum feiert am Donnerstag 24.11. seine Österreich-Premiere im Dschungel Wien (weitere Aufführungen Donnerstag 24./Freitag 25.11. 10:30 Uhr, Samstag 26./Sonntag 27.11. 16:00 Uhr).
Mit dem höchst prominenten Uraufführungsprogramm Future Memories kehrt das SWR Vokalensemble nach einer fast zwanzig Jahre langen Pause zu Wien Modern zurück: Der renommierte Rundfunkchor des SWR singt im Mozart-Saal des Wiener Konzerthauses neue A-cappella-Werke. Martin Smolka lädt mit Henry David Thoreau zum Winterspaziergang. Alberto Posadas fragt, wie wir auf Menschen früherer Zeiten zurückschauen. Und Georges Aperghis sucht bei der umgekehrten Frage, wie zukünftige Generationen auf uns blicken werden, mit humoristischer Energie nach Alternativen zum Vergessen und zum Pessimismus. «Future Memories: eine Polyphonie von Klängen, die eine Bedeutung tragen oder nicht. Es geht dabei um die Erinnerung an eine gemeinsame Sprache und um ein Spiegelbild unserer Kultur in einem Moment, in dem sie mit der Vervielfachung von Daten konfrontiert ist, die das Verstehen der Welt, in der wir uns bewegen, immer mehr verwirrt und verdunkelt.» (Georges Aperghis) (Freitag 25.11.)
Nach ihrer aufsehenerregenden Bespielung der Brigittenauer Brücke bei Wien Modern 2019 laden die Künstlerin Kathrin Hornek und die Komponistin Judith Unterpertinger erneut im Rahmen des Festivals zur Wanderung durch ein Betongebirge. Der Mensch bewegt inzwischen mehr Gesteinsmaterial als alle Flüsse und Meere der Welt zusammen. Horneks und Unterpertingers 2022 im Verlag Riff am Hang erscheinendes Buch Modified Grounds, Bodies of Data – Bildatlas einer Sound-Performance-Reihe wird bei dieser Gelegenheit nicht nur präsentiert, sondern fungiert als Partitur einer Performance: Modified Grounds, Bodies of Data führt in entlegene Archive der Erdwissenschaften der Uni Wien und macht live performte Ausschnitte der im Buch dokumentierten Klanginstallationen hörbar. (Samstag 26.11.)
Eine Woche nach der Uraufführung der ceremony II und zwei Tage nach der Präsentation seiner Autobiografie in der TU wird mit Iguazú superior am Samstag 26.11. in der Säulenhalle des MAK eine weitere begehbare Raumkomposition von Georg Friedrich Haas bei Wien Modern uraufgeführt. Die Maximalfassung für zehn Klangwerker:innen, die ihre Instrumente frei auswählen dürfen, wird fünfmal im Loop gespielt vom Ensemble Motus Percussion, bestehend aus Studierenden, Alumni und Lehrenden der Anton Bruckner Privatuniversität in Linz. «Christoph Sietzen, der mein Konzert für Klangwerk und Orchester mehrmals großartig interpretiert hat, bildet das ideale künstlerische Zentrum für die Uraufführung dieser freien Version. […] So spektakulär die Iguazú-Wasserfälle sind (wir waren dort im November, im südamerikanischen Frühling, die Flüsse waren reich an Wasser) – das Eindrucksvollste war eine Wanderung oberhalb der Fälle, die dort nur zu hören, aber nicht zu sehen waren. Stundenlang führte der Weg flach über kleine Brücken und Inseln, das Wasser darunter zog in sichtbarer Beschleunigung vorbei, entschwand dem Blick, und wir wussten, dass es in wenigen Minuten in freiem Fall hunderte Meter tief abstürzen würde.» (Georg Friedrich Haas) Die Beschleunigung der gigantischen Wassermengen (das 312-Fache von Krimml) an der Grenze zwischen Argentinien und Brasilien führte Georg Friedrich Haas zur Komposition einer rhythmischen Endlosspirale.
Komponist:innen zu ermutigen, auf allen denkbaren Wegen lustvoll und überschaubar für Klavier zu schreiben und dabei bewusst ihre jeweiligen pianistischen Erfahrungen zukunftsorientiert zu hinterfragen: Das ist das Motto von input > klavier. Ziel des Projekts ist, Impulse zu setzen und durch eine vielseitige Auswahl an neuen Denk-, Sicht-, Hör- und Schreibweisen für das Instrument kurze, attraktive Stücke anzubieten, die vielleicht helfen, die Klüfte zwischen Pianist:innen, Komponist:innen und Publikum im traditionellen Konzertbetrieb zu überwinden. (Sonntag 27.11.)
Renacer ist die zweite große Filmprojektpremiere mit PHACE bei Wien Modern 2022: Die Video-Oper in einem Akt mit Musik von Alberto Carretero, dem Libretto von Francisco Deco, einem vertikalen (!) Video von Miguel Alonso / Cyan Animática Video nach Bildern von Juan Lacomba erlebt ihre Uraufführung im Odeon, das für genau einen Abend zum höchsten Kino der Stadt wird. Die Musik simuliert das Wachstum und Verhalten von lebenden Organismen und wird zur Metapher von Geburt und Wiedergeburt, der Kraft des Keimens und der Regeneration. Radikal ist diese Video-Oper im Sinn einer genauen Hörbarmachung der Wurzeln: Der 1985 in Sevilla geborene Komponist Alberto Carretero gewinnt Inspirationen und Baupläne für seine Musik häufig aus der Biologie. Mit Hilfe von künstlicher Intelligenz und Membrane-Computing entwickelt er algorithmische Kompositionen, die das Wachstum und Verhalten von lebenden Organismen simulieren und in klangliche Erzählungen übersetzen. Seine neue Video-Oper basiert auf zellulären Prozessen. Mutation, Mitose, Meiose, Gewebebildung, Fortpflanzung und Nervenverbindungen öffnen einen musikalischen Reflexionsprozess und werden zur Metapher der Genese: der Geburt, der Wiedergeburt, der Kraft des Keimens und der Regeneration und damit der Schöpfung selbst. (Sonntag 27.11.) Am Montag 21.11. gibt es im Palais Wiener von Welten, Instituto Cervantes, bereits ein Präludium zu Renacer: Dirigent Nacho de Paz spricht mit Alberto Carreterro über das Projekt.
Wien Modern 35
Heuer findet Wien Modern zum 35. Mal statt, einen Monat lang mit insgesamt 96 Veranstaltungen an 27 Spielstätten in 10 Wiener Gemeindebezirken. Das 1988 von Claudio Abbado initiierte Festival ist mit heuer 59 Ur- und 19 Erstaufführungen die größte Plattform zur inspirierenden Begegnung von Künstler:innen und Hörer:innen neuer Musik aller Spielarten. Mit dem Festivalpass (100 € / 80 € / 70 € / 40 € / 28 €), dem Mengenrabatt (30% Ersparnis ab vier Veranstaltungen) sowie kostenlosen Angeboten bietet das Festival Gelegenheit zur Begegnung mit der zeitgenössischen Vielfalt der Musik. Ermöglicht wird Wien Modern von der Stadt Wien Kultur und dem Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport (BMKÖS), den Festivalsponsoren Kapsch und Erste Bank, Pro Helvetia, den SKE der austro mechana, AKM, und zahlreichen Koproduktions- und Kooperationspartnern. Das Programm ist online unter www.wienmodern.at.
Link:
Wien Modern