Immerhin drei Wochen lang konnten die Veranstaltungen des Festivals Wien Modern in diesem Jahr live erlebt werden, bis der 4. Lockdown seit Beginn der Pandemie auch über das Wiener Kulturleben verhängt werden musste. Die restlichen geplanten Konzerte der verbliebenen acht Tage des Festivals können nicht oder teils nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit abgehalten werden. Digitale Live-Streams wird es aber zumindest von der „Comprovise“-Schiene geben, bei der im Italienischen Kulturinstitut Musikschaffende in Mischformen von Komposition und Improvisation auftreten, aber auch vom Abschlusskonzert im Konzerthaus am 30. November mit den Wiener Symphonikern unter der Leitung von Beat Furrer.
Beim letzten vor Publikum im Wiener Konzerthaus stattgefundenen Konzert mit dem französischen Quatuor Diotima wichen Wehmut und seltsame Endzeitstimmung vor dem beginnenden Lockdowen großer Begeisterung. Das Pariser Quartett sollte für vier Konzerte rund um alle vier Streichquartette von Beat Furrer (inklusive der Uraufführung des vierten) nach Wien kommen. Den Anfang machte dieser Abend (am Samstag, den 20.11.) im wahren Festivalformat und mit einer Dauer von 19.00 bis 23.00 Uhr. Der weit gespannte Bogen reichte von Schubert und Ravel über beide Quartette von Clara Iannotta bis zur langerwarteten Furrer-Uraufführung (Streichquartett Nr.4, auch das 3. Quartett von 2004 war zu hören, jeweils mit einer Dauer von einer Dreiviertelstunde).
Am Montag, 15.11. unternahm das 1971 gegründete ensemble xx. Jahrhundert (exxj) unter Peter Burwik im Mozart-Saal des Wiener Konzerthauses einen Rückblick auf seine 50-jährige Geschichte, indem es Alban Bergs Kammerkonzert für Klavier und Geige mit 13 Bläsern auf das Programm setzte und nach der Pause eine „Debütantin“ vorstellte. Die aus Linz stammende Tanja Elisa Glinser erhielt 2021 das Österreichische Staatsstipendium für Komposition, weiters wurde sie mit dem 1. Österreichischen Komponistinnenpreis ausgezeichnet. Die Auftragskomposition „ Läuft mein Hirn so viele leere Kreise nach einem Gedicht von Ingeborg Lacour-Torrup“ gelangte zur Uraufführung. Eine weitere Komposition (im Auftrag von exxj, Ensemble Modern, Wien Modern) stammte von Johannes Maria Staud. Der Titel des Stücks „Listen, Revolution (We’re buddies, „see–)“ stammt aus dem Gedicht „Good Morning, Revolution“ (1932) des Afroamerikaners Langston Hughes, der auch poetisch einen Kampf gegen Diskriminierung und strukturellen Rassismus führte. Stauds Ensemblestück stellt sich der Frage, wie politisches und ästhetisches Bewusstsein zusammenhängen und entwickelt musikalisch komplexe Gemengelagen, die sich gegenseitig beeinflussen und auch „kippen“ können.
Tags darauf trat im Großen Konzerthaussaal das Klangforum Wien mit einer multimedialen Konzertperformance auf die Bühne. Zur Aufführung gelangte das Werk „Vertigo/Infinite Screen“ mit dem Untertitel „Eine intermediale Komposition nach Alfred Hitchcocks Vertigo für Ensemble in 6 Gruppen, 18 Bild-Module und Elektronik“ von Brice Pauset und Arotin & Serghei“. Die Musik ist analog zum berühmten Film, dessen untergründige Struktur „die Quintessenz dessen (ist), was das Kino der Psychoanalyse verdankt“, in zwei Teile gegliedert und versucht, die „Verbindung zwischen Bild, Bewegung, Erinnerung, Identität, Musik und Ort zu intensivieren“ (Brice Pauset). Die Elektronik verarbeitet und mischt vorher Aufgenommenes und Livegespieltes in Echtzeit. In der Bildsprache des Duos Arotin & Serghei wird über Signale, Zeichensprache und über den „Infinete Screen“ reflektiert. In dem gemeinsam mit dem Klangforum Wien, dem WDR und dem IRCAM – Centre Pompidou Paris entwickelten pluridiziplinären Projekt werden Elemente von Hitchcocks Meisterwerk aus dem Jahr 1958 in eine neue intermediale musikalische und visuelle Komposition verwandelt. „Ausgehend von der Schocksituation zu Beginn des Films und der Farbsymbolik des Films führen die Künstler die Betrachter*innen durch einen hypnotischen Parcours, wie in einem endlosen Zoom, durch eine Abfolge von 12 immersiven Klang und Bildwelten bis in den Mikrokosmos der Neuronen, der Bildpunkte und aufgesplitterter Klangpartikel“. Betörend jedenfalls das Spiel des in fünf Trios und Choralquartett aufgeteilten Klangforums, bei dem vor allem die wunderbar vorgetragenen und melancholisch wirkenden Trompetensoli von Anders Nyqvist beeindruckten.
Beim Konzert des Ensembles PHACE (18.11.) gelangten zwei 2020 ins Videostreaming verbannte Uraufführungen von Wien Modern gerade noch live auf die Bühne: Wolfram Schurigs virtuoses Oboenkonzert „kokoi“ für Oboe und acht Instrumente aus der nicht ungefährlichen Klangwelt bedrohter Ökosysteme, und Clara Iannottas tief durchatmender Befreiungsakt aus düsteren Zeiten („They left us grief-trees wailing at the wall“).
Im Treppenhaus und in den in drei Stockwerken gelegenen Räumen des Literaturmuseums in der Johannesgasse konnte man am Donnertag, 18. und am Samstag, 19. November in der szenischen Einrichtung von Leonora Scheib drei Vorstellungen eines „Stationentheaters“ von Bertl Mütter besuchen: Das „Logoratorium“ (oder auch Musiklaboratorium) fürdrei Musiker*innen und zwei Sänger*innen wurde zu einem tollen, sehr vergnüglichen Event. Unter der Leitung des „Spieltrainers“ und wunderbaren Posaunisten Bertl Mütter, der während der Performance auch Zitate aus der „Winterreise“ oder auch dem „Jäger aus Kurpfalz“ zu improvisieren vermochte, reichten das Gesangsduo Matthias Helm und Ursula Langmayr (Bariton, Sopran), der Klarinettist Heinz-Peter Linshalm und Tina Žerdin (Harfe) einander die Klinke (oder Treppenstufe). Da gab es eine Treppenprozession auf der Stiege, einen „Förderschacht“ (Tutti – „Vor aller Kultur ist ihre Förderung“), Hüttenbrennereien (am Ort des Anselm Hüttenbrenner, siehe auch Schubert für arpa con supporto („Aber sprich nur ein Wort, sonst bist du gesund“)), „Abzweigungen“ zur Sonderausstellung „Stefan Zweig: Weltautor“ mit Posaunensoli („Ein Wanderer am Abgrund zwischen Wien-Alsergrund, Liechtenstein und Brasilien), „Sanftpizzlwossa“ (auch auf Klarinetten „schwelgen Aldalbert Stifter und Thomas Bernhard, jeder auf seine Weise. Weiser Vermittler: Gert Jonke. Ihm verdanken wir so viel ‚vernichtend schöne Musik‘ “, „Verborte“ („in Verneigung vor Ervin Schulhoff und seiner Sonata Erotica“, Tutti + Solo-Muttertrompete). Und vieles andere, nicht zu vergessen „Der Schacht von Babel“ („Wenn der Turm von Babel zur Sprachverwirrung geführt hat, kommen wir nur grabend zurück zur All-Einen Sprache. Wir sprechen sie dann alle. Aber keiner versteht sie mehr“).
Ungewollter, aber mehr als würdiger Live-Schlusspunkt (Großer Konzerthaussaal am Fr, 19.11.), bedankt mit „Standing Ovations“ des Publikums für den 95-jährigen Komponisten Friedrich Cerha, war die mittlerweile vierte Gesamtaufführung der Spiegel I – VII für großes Orchester und Tonband(1960-1961) im Wiener Konzerthaus. Phänomenal gespielt vom ORF Radio-Symphonieorchester Wien unter der souveränen Leitung von Ingo Metzmacher (Klangregie: Peter Plessas). Abgesehen von Cerhas Erörterungen, in denen die kompositorische Anlage des gesamten Werks als „eine Art ‚Welttheater‘“ beschrieben wird, „das von einer Uranfangssituation in ‚Spiegel I‘ bis zu Endzeitvisionen in ‚Spiegel VII‘ reicht“, sei hier abschließend die kurz gefasste Werkbeschreibung der „Spiegel“ als „Meilenstein der Musikgeschichte“ auf der Wien-Modern-Website zitiert: „Der ‚Ur-Anfang‘ des ersten Teils verzweigt sich in vielfältigen Bewegungsformen zueinander und auseinander, spannungsgeladene Klangreibungen münden in den gleichgestimmten Einklang am Ende des letzten Teils. Der spielfilmlange Blick auf das große Ganze, der nicht zuletzt das Verhältnis von Individuum und Masse reflektieren sollte, kam 1960 einem revolutionären Wendepunkt der Avantgarde gleich.“
Heinz Rögl
Links:
www.wienmodern.at