In einem Zweidrittel-Rückblick versucht das Musikmagazin zusammenfassende Rückblicke auf das Festivalgeschehen. Höchste Zeit, auch kritisch über „Highlights“ wie das Erste-Bank-Kompositionspreis-Konzert für Mirela Ivičević und darüber hinaus Bemerkenswertes der 32. Ausgabe von WIEN MODERN zu berichten. Die vorläufige Bilanz schließt mit dem dritten Festival-Wochenende, an dem im Rahmen des „Wachstums“-Mottos zwei veritable „Opera magna“ von zweieinhalb bzw. dreieinhalb Stunden Dauer geboten worden sind.
Im Claudio Abbado Konzert hörte man am 16.11. im Musikverein die seit der Premiere 1992 in Donaueschingen nicht mehr in der vollständigen Originalfassung gespielte „Sinfonie X“ von Dieter Schnebel unter Leitung von Baldur Brönnimann (ein „Hammer“ – so die nachträgliche Bemerkung des RSO Wien-Intendanten Christoph Becher), tags darauf „Demons and Angels“ für zwei Chöre, Streichquartett und Saxophonquartett von Lera Auerbach in der Minoritenkirche.
Die Neo-Wahlwienerin Auerbach dirigierte mit einem Leucht-Taktstock in der halligen Akustik der Kirche Chor und Solisten der Cracow Singers, das Quatuor Béla und in der Anfangsnummer ihres Dämonen-Stücks „Goetia 72“ über biblische Monster auch einen Chor, der von der Orgelempore sang. Über Qualität und Klasse dieses Opus (Dauer: 90 Minuten) konnte man geteilter Meinung sein – die Komposition erinnerte ein wenig an orthodoxe oder auch hiesige, eher zweitrangige Kirchenmusik vergangener Zeiten.
WEITERE STATIONEN BEI DER GIPFELTOUR
Zwischen „Minimal“ und „Maximal“ pendelnd sind beim diesjährigen Festival in einem breiten Panorama neben vielen österreichischen Klangkörpern und Interpreten auch etliche im Land tätige Komponistinnen und Komponisten vertreten (ein Überblick über Wien Modern 2019 findet sich auch im Vorbericht vom 21. Oktober) LINK. Dieses große Panorama deckte bereits das Eröffnungskonzert mit dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien unter dessen neuer Chefdirigentin Marin Alsop am 31. Oktober im Konzerthaus ab, in dem diese souverän einen Klassiker – Luciano Berios „Sinfonia“ (1968) – zu großer Farbenpracht erweckte, und in dem Peter Ablinger für seine von Rauschen überdeckte Partitur „4 WEISS“ auch Buhrufe einstecken musste – deswegen von einem Skandal zu sprechen wäre aber übertrieben. Ein Feuerwerk (Agata Zubel), ungewöhnliche Klangerzeuger (Clara Iannotta) und eine intensiv lauter Vulkanausbruch (Jón Leifs in seinem Werk „Hekla“ von 1961) – viele fragten sich wohl, was in der Neuen Musik nicht alles längst schon einmal da war.
Innovativ, ungewohnt und auch neu in der Konzeption erwies sich das Projekt von Katrin Hornek und Judith Unterpertinger. „Modified Grounds“ im Innern bzw. unter der Brigittenauer Brücke (2. November) eröffnete ungeahnte und vielleicht sogar schwindelerregende Perspektiven auf die rasch dahinfließende Donau unter den Füßen, zusätzlich wurde man akustisch durch von näher oder ferner positionierten 10 Schlagzeugstationen in Schwingungen versetzt. Schade nur, dass es die Sicherheitsvorkehrungen der Brückenbau-Abteilung (MA 29) zwar erlaubten, immer wieder an einem beliebigen Punkt zu verweilen und dort zuzuhören, nicht aber zu solchen zurück (also hin und her) zu gehen. Dennoch: ein sehr gelungenes Event, bei dem man mittels Video auch sehen und erfahren konnte, wie viel Gesteinsmaterial durch Bau- und Produktionsprozesse jährlich verschoben wird, wie im Begleitprospekt erläutert „mehr als durch Flüsse, Erosion und andere nicht-menschlich ausgelöste Prozesse“.
Ein großdimensioniertes, über einstündiges Werk von Pierlugi Billone (FACE. Dia. De) wurde vom Ensemble PHACE am 5. November im Konzerthaus, geleitet von Emilio Pomàrico mit zwei für das Stück maßgeblichen Stimm-Solistinnen (Anna Clare Hauf und Annette Schönmüller) zur Uraufführung gebracht (Konzerthaus, 5. November). Den Vokalgesang ohne Text, plural mit den Instrumenten korrespondierend, sieht Billone als „autonomen, präverbalen Stimmfluss im und aus dem Körper“, den besonders Anna Hauf sehr überzeugend erfahrbar machen konnte. Billone ist in der Tat ein Suchender und Findender von eigenen Rhythmen und Akzenten – mit viel Raum für Überraschungen.
Bleibt noch, vom Auftritt des Klangforum Wien im Großen Konzerthaussaal unter Sylvain Cambreling am 8. November zu berichten. „Poética del espacio“ von Alberto Posadas (Dauer annähernd 85 Minuten) wurde zum Ereignis durch die im Raum verteilten und sich bewegenden Solisten an Saxofon, Horn, Trompete und Posaune, genauso wie durch die vielfältigen und virtuos dargebrachten Ensemble-Episoden, bei denen dem Publikum die Zeit nicht lang wurde.
Ein Mammut-Konzert war auch das 660 Minuten plus Pausen währende umfangreiche Werk des 1971 in Washington, D. C. geborenen Komponisten Michael Hersch am 9. November im Prunksaal der Österreichischen Nationalbibliothek. Unter dem Titel „Sew me into a shroud of leaves“ konnte man von 5 Uhr früh bis ca. 19 Uhr abends die drei Teile (erst für Klavier, dann – eindrucksvoll – für Horn und Violoncello, sodann wieder für Klavier) in dem schönen Ambiente miterleben, solange man dafür die lohnende Geduld aufbringen konnte. Die zwischen öffentlich und privat oszillierende Musik von Hersch ist aus dessen Auseinandersetzung mit eigenen Krebserfahrungen und jenen von Freunden hervorgegangen. Die ihr zugrundeliegenden poetischen Texte und Poems von Christopher Middleton; W. G. Sebald und Marius Kociejowski konnte man, wenn man wollte, im vom Festival herausgegebenen Essayband mitlesen.
ALTE UND JUNGE ENSEMBLES
Den Reigen der Kammerensembles eröffnete am 2. November das bei Wien Modern Jahr für Jahr vertretene Arditti Quartet mit glänzend interpretierten Werken von Ruth Crwaford Seeger (ihr String Quartet aus dem Jahr 1931 ließ aufhorchen), Clara Iannotta und Younghi Pagh Paan (die Komponistin schrieb 2016 ihr allererstes Quartett), sowie den etwas mehr als halbstündigen „seven views of white“ (in einem Breitwand-Flächenraum) von Klaus Lang, der heuer mit einer weiteren Uraufführung mit dem Klangforum Wien vertreten war (13.11.): „linea mundi“ kondensiert und konzentriert das Entstehen und Verschwinden einer Welt, nicht so große Fans von Lang entdeckten in diesem Stück viele Bezüge auf Bruckner oder auch Richard Wagner („Urnebel“ etc.).
Nach 50 Jahren Mitgestaltung der zeitgenössischen Musikszene stand am Sonntag, 3. November das Abschiedskonzert die reihe auf dem Programm. Christian Muthspiel und HK Gruber teilten sich das Dirigat von Werken von Edgar Varèse, Anton Webern, Friedrich Cerha („Bruchstück, geträumt“) und Kurt Schwertsik („4 Kinder-Toten-Lieder“ für Bläser und Schlagzeug nach Texten von Konrad Bayer), und „Nali“ Gruber brillierte in seinem ureigenen Dirigier-Idiom bei der „Kleinen Dreigroschenmusik“ von Kurt Weil für Blasorchester. Dankbarer Applaus für Komponisten und Interpreten!
Am späten Abend des ersten Novembersamstags trat das Black Page Orchestra auf den Plan. Vorwiegend jüngere Komponistinnen, unter ihnen Sarah Nemtsov oder Mirela Ivičević, bezogen in ihren Stücken viel Elektronik und Experimentelles mit ein. Zum Beispiel unterzog sich Matthias Kranebitters „polychotic listening talks“, was zu später Stunde nicht unbedingt überzeugte. Jorge Sánchez-Chiong wirkte in seinem „Cénotaphe Pizzazz“ auch als Turntable-Solist, Hikari Kiyama setzte auf Punkrock-Gestus. Auch das Grazer Schallfeld Ensemble präsentierte am Sonntag, den 3. November, Musik aus verschiedenen Ländern, darunter auch „tektono“ für Ensemble und Elektronik des Südtiroler Erste-Bank-Preis-Kompositionspreisträgers Hannes Kerschbaumer. Auch hier etliches weiteres Performance-Artiges (etwa „Stumme Diener“ von Cathy von Eck für Notenständer. Kontaktmikrophone, Lautsprecher und Elektronik), aber nichts, das einen vom Sessel riss.
Am Montag, den 4. November, gastierte das Ensemble ascolta, dem man durch seine interessante Besetzung und seine Virtuosität im Umgang mit den auf alle erdenkliche Art behandelten Instrumenten (etwa gemeinsame Klangaktionen im Klavierinneren) durchaus Unterhaltungswert zubilligen muss. Das galt nicht einmal so sehr für die Wiedergabe von Peter Ablingers „JETZT/BLACKOUT“ oder Martin Schüttlers „Boys Don’t Cry“, als mehr noch für die Vorführung eines enorm guten Stücks des Budapesters Márton Illés („Ascolta Rajzok“ – Ascolta-Zeichnungen). Das Boulanger Trio stellte zwei von der Alban Berg Stiftung durch die Juroren Beat Furrer und Johannes Maria Staud preisgekrönte Klaviertrio-Werke vor, die durchaus überzeugten – es handelte sich um „Straße“ von András Gelléri, sowie um „beleuchten“ von Elias Jurgschat (7.11. im Konzerthaus).
Das Ensemble Kontrapunkte ging für Wien Modern in den Untergrund. Und das nicht nur zwei Nächte lang im neuen Sonnwendviertel beim Hauptbahnhof (8./9.11.), sondern auch in seinem alten Hauptquartier, dem Musikverein (10.11.). Auslöser war die transformierende Begegnung des 1965 gegründeten Ensembles mit dem 2018 gegründeten Salon Souterrain, einem Format des Underground-Kunstraums Chateau Rouge. Dahinter stehen die aus dem Kongo und Frankreich stammende Elisabeth Bakambamba Tambwe, die als Performance-Künstlerin in Wien seit längerem Furore macht, und die Kanadierin Lena Fankhauser, Bratschistin des KoehneQuartets und Mitbegründerin von (CH)AMBER – Verein für neue Kammermusik.
Umrahmt von virtuosen und teils aufsehenerregenden Kompositionen – etwa „K’an“ für Steeldrum und 130 Sticks von Wojtek Blecharz oder einem Stück von Lisa Streich für „motorisiertes“ Violoncello – stellte das Klangforum Wien im Konzerthaus am 13. November mit „Sweet Dreams“ von Mirela Ivičević die mit dem Erste Bank Kompositionspreis ausgezeichnete Komponistin vor. Ivičević, die in Zagreb, Wien und Graz studierte, setzt sich in ihrem Stück in spannungsreichen Klangmomenten mit ihrer Schwangerschaft auseinander. In abruptem Wechsel suggeriert das Werk die Motorik des Herzschlags und die Abfolge von Wach- und Schlafzuständen. Gerd Kühr würdigte die Arbeit der Komponistin beim anschließenden Publikumsumtrunk im Berio-Saal.
MINIMAL MUSIC UND JUNGE MUSIK
Mehrere Spättermine widmeten sich als Minimal Night Music auch an neuen Schauplätzen wie dem Kulturraum Gleis 21, weitere Events dieses Schwerpunkts waren ein Kontrabass-Soloabend von Thomas Stempowski in der Ruprechtskirche (10. November) und ein Auftritt der sympathischen, in Marburg und Wien lebenden Han-Gyeol Lie (Klavier), die im Bockkeller des Wiener Volksliedwerks am 11.11. John Cage, Couperin und eigene Minimalfassungen von Schubert und von „The Rest is Noise“ (Jamie xx) für Klavier, Glühbirnen, Wein- und Schnapsgläser spielte. Moderiert von Cordula Bösze boten am selben Tag zuvor im Reaktor unter dem Motto Junge Musik teils auch sehr junge Schülerinnen und Schüler der Musikschule Wien und der J.S. Bach Musikschule ein tolles und gelungenes Konzert mit Werken für Soloklavie (Tom Johnson, Antun Tomislav Saban), für im Raum verteilte Performer (von dem in Wien lehrenden Schlagzeuger Michael Kinn), für variables Ensemble (Christoph Herndler, Frederic Rzewski), für Hackbrett, Harfe und steirische Harmonika (von dem in Wien lebenden Südtiroler Alexander Kaiser), für Saxofonquartett (Yassen Vodenitcharov) und nicht zuletzt für Klarinettenchor („Trillerbienen“ von Petra Stump und Heinz-Peter Linshalm).
Musik für junge Menschen ab 8 Jahren bot im Dschungel Wien ab 15.11. die vergnügliche Konzert-Performance „Gras wachsen hören“ des Liquid Penguin Ensemble mit Katharina Bihler (Stimme), Marius Buck und Elisabeth Flunger (Percussion); am Samstag, den 16. November konnte man im BG /BRG Seestadt Schülerinnen und Schüler des Gymnasium Heustadelgasse mit Lautpoesie + Musik erleben (Kuratoren: Burkhard Stangl, Hans Schneider).
Zuletzt muss noch über die eindrucksvolle Aufführung von Bernhard Langs „Der Reigen“ der Neuen Oper Wien in der Halle E des Museumsquartier (12., 16., 18. 11) berichtet werden. Das schon bei den Bregenzer Festspielen erfolgreich gezeigte Musiktheater (Regie: Alexandra Liedtke) entfaltet in zehn Dialogen für fünf Stimmen und 23 Instrumente (amadeus ensemble-wien unter Walter Kobéra) mit einem Libretto von Michael Sturminger nach Arthur Schnitzler in Langs kongenial in Wiederholungsschleifen und mit Rap-Elementen komponierter Musik mit den ganz hervorragend agierenden Sängerinnen und Sängern Anita Rosati, Barbara Pöltl, Thomas Lichtenecker, Alexander Kaimbacher und Marco di Sapia. Die auch szenisch in Wohnungen eines „Wohnhauses der Gemeinde Wien“ samt Waschküche im Keller, in den Räumen des „Hotel Orient“, oder auch in einer Telefonzelle modern visualisierten Dialoge mit mitkomponierten Orgasmus-„Höhepunkten“ benötigten keine Übertitelungen zu deren Verständnis.
Heinz Rögl
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