Wien Modern 2010 ist im vollen Gange und wieder ausnehmend gut besucht – besonders auch in der Alte Schmiede oder im Casino Baumgarten (Feldman-Forschung). Neben den Eröffnungs-Highlights mit dem RSO Wien, dem SWR-Orchester Freiburg und Baden-Baden, dem Arditti-Quartett mit Feldman, den hervorragenden Haubenstock-Ramati-Graphik-Improvisationen vom Klangforum Wien im Semperdepot und Haubenstocks Antioper Comédie/Play/Spiel am Petersplatz, über die wir nicht alle gesondert berichten konnten (das seit 2006 gewohnte „Wien-Modern-Tagebuch“ ist Geschichte), waren natürlich auch neueste Kompositionen österreichischer Provenienz von großem Interesse. Im Folgenden die Nachberichte über das Ensemble Lux im Schönberg-Center, das ensemble reconsil im Konzerhaus und das junge Duo Soufflée in der Alten Schmiede.
Das 2004 gegründete ensemble LUX (u. a. mit dem Kernteam, dem Quartett Bojidara Kouzmanova, Thomas Wally, Julia Purgina, Mara Kronick)) bestritt bereits am Samstag, 6. November das erste „Schmiede“-Konzert mit einer Uraufführung von Johannes Kern, einem Stück von Roland Freisitzer und dem grandiosen, richtunggebenden Streichquartett Nr. 2 (1968) von György Ligeti. Am darauffolgenden Montag trat es dann im Arnold Schönberg Center mit einem weiteren anspruchsvollen Programm an (mitwirkend am Klavier: Jaime Wolfson.) Eröffnet wurde es von einem späten Werk Schönbergs, seinem Streichtrio op. 45, das durch dessen Rekonvaleszenz vom Atem- und Kreislaufstillstand ausgelöst wurde.
Ansonsten stand in diesem Konzert Thomas Wally – im Ensemble auch als Geiger mitwirkend – mit drei kammermusikalischen Werken im Mittelpunkt. Zuerst mit dem Klavierquartett „transfigurations“ (komponiert 2007), das bereits beim „Platypus“- Komponistenmarathon 2008 sehr positiv aus allen damals aufgeführten Werken hervorstach. Das mica berichtete damals: „Einiges (nicht alles aus der Feder der jungen KomponistInnen) war wirklich gelungen und hörenswert. Etwa am ersten Marathonabend Julia Purginas ‚Reiseskizzen’ für Streichtrio oder ‚transfigurations’ für Klavierquintett von Thomas Wally.“ Nun ja. Jetzt ist Wally – er war in den vergangenen Jahren auch in Bregenz sehr erfolgreich – einer der extra vorgestellten jungen österreichischen Komponisten bei Wien Modern 2010. Sehr guten Eindruck machte im Schönberg-Center auf mich auch eine für ihn wohl sehr frühe Komposition von ihm: Die „Vier Bagatellen“ für Streichquartett sind immens abwechslungsreich im Profil und – wie Walter Weidringer im Programmbeitrag des Katalogs feststellt – „rigorosen Konstruktionsprinzipien unterworfen“ (…): „… systematisch eingearbeitete Bausteine … ein komplexer Proportionskanon … eine scherzoartige Variante der ersten Bagatelle … und in der vierten Bagatelle strenge Kontrapunktik auf Basis einer rhythmisierten Zwölftonmelodie“.
Aber immer wieder werden bereits die strukurellen Zügel gelockert. In „Caprice“ für Streichtrio (2009) nimmt er auf die Tradition des Action Painting Bezug, eine sehr virtuose, aber auch launenhafte Musik. Sie sei „wild, sensibel, laut, melancholisch, schwer, plakativ, unvorhersehbar, organisch, launenhaft, berührend? Musik, die sich nicht festlegt.“ Eben. Wally spielte im Trio nicht selbst mit. Umso virtuoser etwa die Komponistin und Bratscherin Julia Purgina. Gegenüber Marie-Therese Rudolph sagte Wally für die Wien Modern-Ausgabe des „falter“: „Ich schreibe so schwer wie nötig, aber so leicht wie möglich“. Er schreibe grundsätzlich nicht einfach, aber es sei Musik, die von einem Musiker geschrieben wurde.
„Settori“ (1999) von Olga Neuwirth ist ein anderes, sehr anspruchsvolles, wucherndes Stück für Streichquartett. Hören konnte man auch vier der Miniaturen für Klaviertrio (2007), die Johannes Maria Staud für den wichtigen UE-Mitarbeiter Bálint András Varga – seinen „Mentor und Fürsprecher, Ratgeber und väterlichen Freund“ – komponiert hatte. Und von der diesjährigen Preisträgerin Joanna Wozny ein weiteres Klaviertrio aus dem Jahr 2005. „Vom Verschwinden einer Landschaft“ spielt die Unterschiede in der Tonproduktion von Klavier einerseits und Violine und Cello andererseits aus. Aus einem Porträttext ihres Berliner Verlags (Edition Juliane Klein): „Wenn ich etwas schreibe, dann denke ich: dieses Instrument – dieser Klang. Was kann man damit machen, was birgt er in sich, was für Facetten, in welcher Höhe, Dynamik, Geschwindigkeit bleibt er noch dieser Klang und wann wird daraus durch diese Parameter etwas ganz anderes?”. Der Klang als Fokus und als Ausgangspunkt genau ausgehörter musikalischer Gebilde und Strukturen und einer hoch konzentrierten, fein ziselierten Musik steht im Zentrum von Woznys kompositorischen Schaffen.
Das ensemble reconsil, teils unter Leitung des „Chefs“ (Roland Freisitzer) bat in den Berio-Saal (9.11.), eine der Solistinnen war wiederum Julia Purgina. Abermals standen drei Stücke von Thomas Wally auf dem Programm: „meer. teich. schwefelquelle“ (2008) in einer interessanten Besetzungskonstellation (Flöte, Klarinette, Klavier, Akkordeon, Violine, Violoncello), metencodia III für Oboe und Ensemble (2010, UA) und „impressions … en relief II (2009-2010) – für Klavier und Ensemble. Im ersten Stück wollte Wally sich bewusst auf den freien Lauf seiner Phantasie verlasen. Die beiden anderen sind „Schwesterwerke“. Im Titel „metencodia“ verschmelzen die Wörter „Melencolia“ und „Melodia“ – es sind auch Bezüge auf einen Kupferstich von Dürer sowie auf ein gleichlautendes Werk von Harrison Birtwistle.
Ensemble-Mitglied und –flötist Alexander Wagendristel steuerte seiner Werkliste 2009 ein weiteres „Klavierkonzert“ bei. In „DOWN“ tritt zum Klavier (Kaori Nishii) ein Oktett aus je vier Streichern und Bläsern. Viersätzig angelegt, angeregt vom Album „The Downward Spiral“ (Nine Inch Nails), ist die Grundidee „das wiederholte Kippen des Materials … in einen durch und durch grimmig-pessimistischen, sarkastischen, quasi ‚schwarzen’ Habitus“ (Wagendristel). Ein ausgezeichnetes Stück – wir wussten bis jetzt nur nicht, dass Alexander Wagendristel (er richtet in den Pausen des Ensembles immer die Pulte und Noten eigenhändig aus und ist auch sonst ein wichtiger und freundlicher Organisator im ensemble reconsil) auch „grimmig“ und „sarkastisch“ sein kann.
Ganz ausgezeichnet an diesem Abend aber eine weitere Uraufführung: „Atlájala“ (2010) für Viola und Ensemble von Thomas Heinisch, auch er ein ensemble reconsil-Mitbegründer. „In der Tradition einer herkömmlichen Gattung, dem Solokonzert, an dem er sich mit einer Reihe von Werken abarbeitete, setzt er sich primär mit der Idee des Solistischen auseinander und versucht, die herkömmliche Rollenverteilung in der Gattung des Solokonzerts zu hinterfragen und zu hintergehen“, schrieb Daniel Ender in seinem Heinisch-Portät 2007 („Der Wert des Schöpferischen“, Sonderzahl-Verlag). Auch das sechssätzige Violakonzert, mit zwei virtuosen, ja furiosen Sätzen für das Soloinstrument (Julia Purgina) versucht Thomas Heinisch nicht als „Wettstreit“ Solo-Ensemble aufzufassen, sondern als „Durchdringung zweier klanglicher Ebenen, in der das Ensemble oder das Kollektiv einen in unzählige Facetten gespiegelten Klang des Soloinstruments darstellt“ (Heinisch). Der Titel seines Stücks entstammt aus einer Erzählung von Paul Bowles – Atlájala entspricht einer Wesenheit, das in einem bestimmten Tal – nur dort – sich in die Identität von Menschen einschleicht und deren Körper und Seelen bewohnt.
Heinisch’ Komponieren insgesamt hat Bezugspunkte zu alten Traditionen genauso wie zur Musik von Giacinto Scelsi. Werke von ihm beschäftigten sich mit den Satztechniken der niederländischen Vokalpolyphonie, mit der Kunst des strengen Satzes im Kontrapunkt, mit der „Klangrede“ seit Carl Philipp Emanuel Bach, viel mit Robert Schumann, auch Chopin. Und: Der studierte Hornist konnte durch seine Tätigkeit als Lektor beim Wiener Musikverlag Universal Edition wesentliche Erfahrungen sammeln und kam dadurch ganz selbstverständlich etwa mit den Partituren eines Pierre Boulez, eines György Ligeti oder Karlheinz Stockhausen in Berührung.
Tipp: Das Konzert des ensemble reconsil wird heute, 15.11., in der Sendung „Zeit-Ton“ auf Ö1 übertragen (23.00 Uhr).
In der Alten Schmiede fand am Samstag, 13.11, das dortige Konzert II im Rahmen von Wien Modern statt. Impresario Gerald Resch konnte eine vielversprechende „Entdeckung“ präsentieren. Das „Duo Soufflé“, bestehend aus den jungen Musikerinnen Doris Nicoletti (Flöte) und Theresia Schmidinger (Klarinette) bestritt den Nachmittag zur Gänze. Und es führte vor, wie spannend Duo-Kompositionen neuer Musik für diese beiden Instrumente sein können. Man möchte den beiden wünschen, dass – wie etwa für die Klarinettenspieler Petra Stump/Heinz-Peter Linshalm – in Bälde auch für sie viele Komponisten Stücke schreiben.
Eröffnet wurde ihre Präsentation durch ein Stück von Giacinto Scelsi. In „Ko-Lho“ aus den sechziger Jahren, in denen Scelsi sein Interesse auf mikrotonale Erschließung musikalischen Materials richtete, da gibt es bereits die damals noch ungewohnten „Multiphonics“ auf der Klarinette und mikrotonale Verschiebungen durch Schwankungen in der Dynamik des Anblasens, sowie die klangliche Verschmelzung der beiden Instrumente. Sozusagen ein (ausgezeichnet gespieltes) Motto.
Im Zentrum des Abends – zweimal (unterschiedlich) aufgeführt – Peter Jakober mit der Uraufführung seines Stücks „weit beisammen“ (2010) für Flöte, Klavier und Live-Elektronik. Eine faszinierende Musik, die Jakober – mit seinem Grazer Musikprotokoll-Blechbläserstück für „Molekularorgel“ in bester Erinnerung – auch dem Publikum erläuterte. Das Stück hat als Parameter der Realisierung „Annäherungen, Verschmelzungen, Brüche und Entfremdungen“ zum Inhalt (Jakober). Oder klarer ausgedrückt: Die live gespielten Instrumentalklänge werden aufgezeichnet und zeitmodifiziert oder –verzögert, verändert und gefiltert wieder zugespielt. Spielen bereits die Musikerinnen mit Click-Tracks im Ohr in unterschiedlichen Tempogebungen, so entstehen auch durch die elektronisch zugespielten Klänge unterschiedliche Tempi, mehr noch, durch Faktor 1 bis 10 können die Tonhöhen bis zu einem Halbton verändert und aufeinandergeschichtet werden. Es bilden sich schwebende mikrotonale Klangräume von großem Zauber und voller Uneindeutigkeiten. Die Arbeit mit mehreren Tempi beschäftigt Peter Jakober schon seit langem, mit lebendigen, spannenden und unvorhergesehenen Klängen, die seiner analytischen kompositorischen „Regie“ unterliegen. .
Manuela Kerer steuerte ein gutes, kurzes Stück für Flöte und Klarinette mit dem bezeichnenden Titel „Air des souffleuses“ (2006) bei, die Protagonistinnen müssen auch (zumeist) leise atmen, flüstern, einander etwas sagen oder sich selbst, sich was einsagen … Wie immer bei Manuela Kerer bleibt auch der Humor und das Lächeln nicht auf der Strecke – sie scheut auch nicht davor zurück, etwa die Klarinettistin zu veranlassen, ihrem Instrument umgekehrt – durch den Schalltrichter Klänge zu entlocken – und den beiden Musikerinnen machte das Stück auch sichtlich Spaß. Wie auch dem Publikum.
Jaime Wolfson, in Mexiko geborener, viel in Österreich tätiger Komponist und Pianist, komponierte 2009 für „Platypus“ (er ist dort ein führendes Mitglied) beim Festival Klangspuren „Aus dem Tagebuch eines Wahnsinnigen“ für Flöte und Klarinette. Der Titel bezieht sich auf eine Gogol-Erzählung. Auch hier werden einige ausgewählte Gogol-Texte flüsternd und sprechend vorgetragen – der König von Spanien kommt vor, ein sprechender Hund, ein Krankenpfleger … Teils weder sehr unterhaltsam. Das „Duo Soufflé“, beide spielen auch bei „Platypus“ mit, trat im Verein mit anderen Musikern auch schon 2009 im Musikverein auf (u. a. mit der Sonate für Flöte und Klarinette von Jolivet), ihre Einladung in die Alte Schmiede bei Wien Modern war wirklich eine Entdeckung.
Heinz Rögl
Foto Johannes Maria Staud: Astrid Karger
Foto Peter Jakober: Franz Reiterer
Foto Manuela Kerer: Hoerbst
Wien Modern