Wien Modern 2010: Das Finale mit „secret adventures“ im Odeon

Mit legendären Werken von György Ligeti (Aventures & Nouvelles Aventures) und dem Ensemblestück „Secret Theatre“ von Harrison Birtwistle schloss Wien großes Festival für Musik der Gegenwart vergangenen Samstag für heuer seine Pforten. Schauplatz war das Odeon in der Taborstraße, bestritten wurde das Event von den Instrumentalisten des Ensembles phace / contemporary music unter der Leitung von Simeon Pironkoff. Darsteller und Sänger bei Ligeti: Rita Balta, Anna Hauf, Johann Leutgeb, als „stummer“ Darsteller setzte sich auch Regisseur Michael Scheidl in Szene.

Ob diese „geheimen Abenteuer“ tatsächlich einen Blick in die „noch geheimnisvolle Zukunft des Festivals“ ermöglichten, wie im Katalog behauptet, sei dahingestellt – die Beurteilung des Abends durch das Publikum jedenfalls war unterschiedlich und reichte von begeisterter Zustimmung bis zu Skepsis – vor allem das Regiekonzept betreffend und die Frage, ob Birtwistles wucherndes Klangtheater und Ligetis Vokaleskapaden in Lautäußerungen  zusammenpassend gemeinsam aufgeführt werden sollen. Der Wille steht fürs Werk?

Friedrich Cerha, der den Abend besuchte und der selber mit der „reihe“ die „Aventures/Nouvelle Aventues“ an die sechzig Mal in ganz Europa mit exzellenten, sehr profilierten Sängern aufgeführt hatte, war nicht ganz dieser Meinung. Und nicht ganz dieser Meinung ist auch Daniel Ender in seiner Kritik im „Standard“: „Zwiespältig blieb allerdings jener (halb) musiktheatrale Abend, der am Samstag das Finale bildete und als Ausblick auf das Festival des Jahres 2011 angekündigt worden war. Ligetis „Aventures” und „Nouvelles Aventures” wurden zwar vom Ensemble „phace” kultiviert wiedergegeben. Die Stücke (neben Harrison Birtwistles “Secret Theatre”) als Sex-and-Crime-Story zu inszenieren (Regie und Kommissar: Michael Scheidl) bedeutete aber für Ligetis sinnbefreite Vokalartistik keinerlei Gewinn. Eher führte diese Konkretisierung zu einer unnötigen Einengung. Noch ist zwar kaum etwas über die nächste Wien-Modern-Ausgabe bekannt. Sollte hier tatsächlich „ein Blick in die geheimnisvolle Zukunft des Festivals” geboten worden sein, wie es im Programmbuch heißt? Falls man das traditionelle Konzertformat weiter aufweichen möchte, so wäre dafür jedenfalls sicherlich etwas mehr an konzeptueller Arbeit nötig.

Ender resümiert in seinem Artikel Wien Modern 2010 auch im Gesamteindruck durchaus profund. Er  bezeichnet die Aufführung von Joanna Woznys „as in a mirror, darkly” mit dem Klangforum Wien unter Enno Poppe als einen „Höhepunkt“  des heurigen Festivals und meint: „Ähnlich spektakulär war in diesem Wien-Modern-November nur wenig, spektakulär daneben etwa der Auftritt des Suicide-Instrumentalisten Martin Rev beim Morton-Feldman-Projekt von Patrick Pulsinger, zumal die beiden US-Amerikaner rein gar nichts miteinander zu tun haben, was einen gemeinsamen thematischen Rahmen rechtfertigen würde. Überhaupt sind die dramaturgischen Fäden heuer ein wenig dünn geraten, sieht man einmal von Äußerlichkeiten wie geografischen Gemeinsamkeiten ab.“

Zur besonderen Präsenz von österreichischen Komponisten wie Johannes Maria Staud und Thomas Wally: „Ungeachtet der Qualitäten heimischer Musik: Auf lange Sicht könnte die Fortsetzung dieser Dominanz das Festival in Gefahr bringen, seinen internationalen Ruf zu verlieren. Allerdings: So lange Komponisten vom Rang eines Mark Andre dabei sind, scheint dieses Problem noch unter Kontrolle.“ Gelobt wird auch die heurige Retrospektive für den fast vergessenen Roman Haubenstock-Ramati. „Zwei seiner Orchesterstücke wurden von Beat Furrer und dem RSO Wien makellos umgesetzt und machten diese Erinnerung an den polnisch-israelisch-österreichischen Avantgardisten künstlerisch ebenso wertvoll wie die Musiktheaterproduktion von Comédie/Play/Spiel in der Garage X am Petersplatz.“ (Daniel Ender / DER STANDARD, Printausgabe, 22.11.2010).

Zurück zur Aufführung im Odeon: Die „Aventures“ und „Nouvelles Aventures“, komponiert 1962 – 65 für drei Sänger und sieben Instrumentalisten von György Ligeti, gehören zu den prototypischen Beispielen experimentellen Musiktheaters. Im Schaffen Ligetis nehmen sie insofern eine Sonderstellung ein, als er sich weder zuvor noch danach in eine derart extreme avantgardistische Position zwischen Groteske, Lautpoesie, Theatralik und Musik begeben hat. Die Anweisungen wer zu wem mit welcher Emotion „sprechen“ soll, sind in der Partitur minutiös notiert. Es spricht auch nichts dagegen, eine theatralische Umsetzung zu versuchen. So hat etwa Jan Müller-Wieland einmal Ligetis Miniszenen in den Kontext von Goethes „Faust“ zu stellen versucht. Scheidl lässt bei seiner Dramaturgie nichts aus, selbst die Auftritte der Instrumentalisten sind inszeniert. Die drei Darsteller werden zu Beginn mit Hilfe eines taschenlampenbewehrten Instrumentalisten vom „Kommissar“ Scheidl im Publikum gesucht, sie werden gestellt und an drei Schreibpulte gezwungen. Dort sollen sie irgendwas unterschreiben. Sie wehren sich dagegen, schließlich resignieren zwei – die kommen frei und werden ein Paar. Johann Leutgeb wird eine Art Büroangestellter, der während des Birtwistle-Stückes die Bühne entlang des öfteren von und zur Arbeit geht: Schließlich ist keine Frau mehr da, die auf ihn wartet und seinen  Rock an einen Kleiderständer hängt. Am Ende trifft er im Zug Anna Hauf. Was war mit der? – Die hatte sich geweigert, das Formular zu unterschreiben und wurde von 4 Bütteln kurzerhand an Armen und Füßen weggetragen und arretiert.

Zu Ligetis Intention der „Aventures“ hier vielleicht ein aufschlussreicher englischer Text (© Stefan Beyst, January 2003): „..Not otherwise does Ligeti proceed in his ‘Aventures’. He wants to write for voices without having to subordinate himself to a pre-existing text. By his own account, he attempts to create a text in an imaginary language. He therefore lets the words fall apart in isolated syllables such as ‘ku’, ‘pi’, ‘khè’, ‘poe’, ‘tha’, ‘tho’ in measure 24*. Sometimes those isolated syllables are joined to new ‘words’ such as ‘tu-hai’ or ‘kitupa’, equally in measure 24, as did Schwitters in his ‘Ursonate’. But elsewhere Ligeti goes even further: he lets the syllables fall apart in separate vowels or consonants. Also these may be joined to sequences of vowels, such as ‘uu-oo-aa’ (measures 4, 28, 48, 93), or of consonants, such as ‘tschthsdcfddj’ (measure 20-23 ‘stage whisper’) or ‘s-z-zj-sch’ and ‘f-v’ (measure 44). And every reminiscence of words is entirely lost when Ligeti lets a sequence of vowels change in a sequence of consonants pronounced with the mouth closed (varying around the ‘m’), whereby the vibrato is gradually transformed in a babbling movement of tongue, lips and cheeks’ (‘Plappern’) (measure 65 to 89). In these cases, a linguistic logic is transformed into a purely musical one: the need to exploit all the possibilities of the voice. Instruments cannot ‘pronounce’ different ‘vowels’ and from the ‘consonants’ only always the same. Voices have no such shortcoming: they can produce a real ‘Klangfarbenmelodie’ on their own – which induced Berio to make the trombone ‘speak’ nevertheless by manipulating the sourdine, ‘singing in’ and so on.

Also from the normal tempo of speech does Ligeti deviate, not only by immoderately stretching it, as in the ‘nuhiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiidha’ in measure 47, but also by excessively speeding it up, to the extent that one wonders how the singers succeed in pronouncing it altogether. Thus, in measure 47, the ‘Olympic runner’ has to pronounce PEtomopodonorobolotodorobomono DEpamabla CIdurulumupumuTHODJ (see excerpt above) in top speed, and ‘articulate’ at that! Although Ligeti hesitatingly adds: ‘not at the expense of speed’…”

Der Autor weist auch auf die mimetischen Festlegungen, besonders in den  „Aventures”, hin: “While, in the Nouvelles Aventures, the mimetic domain is fading away behind the mimetic means, in Le Grand Macabre it is extended without finding the proper mimetic means. In Aventures, on the other hand, the newly discovered mimetic means perfectly match the newly discovered mimetic domain. They are not torn apart in that mimetic means and mimetic domain each go their own way.”

Birtwistles “Secret Theatre”

Das nunmehr aufgestockte phace-Ensemble führte unter Pironkoff das (reine) Instrumentalstück „Secret Theatre“ für Ensemble auf. Im Unterschied zu Ligeti ist diese Musik wuchernd, auch scharfkantig und sehr dramatisch. Das Werk präsentiert sich auf zwei Ebenen. Dem „Cantus“, von einzelnen Musikern immer wieder auch im Stehen aufzuführen, und dem „Continuum“, das eine Art Klangfarbenteppich unterschiedlichster Färbungen und Valeurs bildet. „In Secret Theatre I divide the music into two. There is music which is conceived horizontally and music which is conceived vertically. The people who play the music that is conceived horizontally – the tune if you like, stand up and play and the rest of them, playing the vertical music, the accompaniment, are sitting down (Birtwistle)”.

Was hätten Ligetis und Bistwistles theatralische Konzepte miteinander zu tun? Schon einiges, wiewohl sich ihr „Stil“ grundlegend unterscheidet: Erst in den 1960er Jahren  fanden theatralische Konzepte wieder stärkeren Eingang in das musikalische Denken. Der temporäre Bruch mit dem Musiktheater, den diese Bestrebungen und die vorhergehende kulturelle Nivellierung durch den Zweiten Weltkrieg mit sich gebracht hatten, zeitigte ein positives Moment: dass sich die Komponisten mit der Notwendigkeit eines Neuanfangs konfrontiert sahen. „In der Auseinandersetzung mit damals gegenwärtigen Sprechtheaterpraktiken erschlossen sich Komponisten verschiedene neue Wege, die eine Abkehr von der Ästhetik einer Zusammenführung von Musik und Szene bedeuteten. Ein grundsätzliches Prinzip, das als Nenner der unterschiedlichen Tendenzen greifbar blieb, war die Negation der stringenten Erzählung einer Geschichte mit Hilfe von Dialog und Handlung. Das Vermeiden von Naturalismus und Narration, welches nicht zuletzt durch Brecht, Meyerhold, Jarry, Artaud und Beckett vorangetrieben worden war, gewann immer größere Bedeutung bei kompositorischen Auseinandersetzungen mit der Oper.

Diesen Tendenzen standen später in den 1950er und 1960er Jahren experimentellere Innovationen gegenüber, die einer festgefügten Bühnenpräsentation und der Etablierung von Charakteren und Handlungsverläufen völlig widerstanden: zum einen die interdisziplinären Performances, welche John Cage in Zusammenarbeit mit Malern und Tänzern wie Rauschenberg, Johns und Cunningham in Amerika entwickelte, zum anderen Versuche der Ausbildung eines instrumentalen Theaters, wie sie in Europa durch Mauricio Kagel und — richtet man sein Augenmerk vor allem auf die Aventures und Nouvelles Aventures — György Ligeti unternommen wurden. Die szenischen Resultate, ob sie nun mittels eines prä-organisierten Zufalls oder aus der Interpretation einer streng notierten Partitur entstanden, wiesen meist deutliche Spuren des Absurden Theaters auf. Diese Beziehung resultierte vor allem daraus, daß die vorgenannten Komponisten alle theatralischen Elemente (Text, Bild, Szene, Mimik, Kostüm und Aktion) musikalisierten, sie als einander gleichwertige kompositorische Materialien verarbeiteten, was wiederum zur Folge haben konnte, daß Sinn und Unsinn in der Zusammenstellung (also Komposition im Wortsinne) dieser Materialien nahe beieinander lagen. (…)

Harrison Birtwistle (eine seiner wichtigsten Opern – „Punch and Judy“ – wurde in den Anfangsjahren von Wien modern in Wien szenisch aufgeführt), widmete sich wiederholt dem „instrumentalen Theater“ für Instrumente, wobei die Musiker nicht unbedingt als „Schauspieler“  wirken müssen, allerdings gibt es mitunter klare strukturelle Gliederungen und verschiedene Spielebenen, wie in Alter Musik oder im griechischen Theater. „Während in Tragoedia und Verses for Ensembles die Struktur der griechischen Tragödie die Satzabfolge bestimmte und jeden in sich geschlossenen Abschnitt klar definierte, bleibt in einer Komposition aus dem Jahre 1984, Secret Theatre, die strukturelle Aufgliederung weitaus unklarer. Die offensichtliche Reihung isolierter musikalischer Einheiten wird zugunsten eines einsätzigen Komplexes aufgegeben. Daß die Gestalt des Werkes sich nicht mehr einer strengen formbildenden Vorlage bedient, mag ein Grund dafür sein, warum der Komponist das Werk zuletzt Secret Theatre, also ‘geheimes Theater’ nannte. Es entstand im Auftrag der London Sinfonietta für ein Konzert zu Birtwistles 50. Geburtstag und vervollständigt eine Trilogie, die für dieses Ensemble geschrieben wurde.“ (Harrison Birtwistles ‘Geheimes Theater’ auf dem Konzertpodium von Michael Bölter, http://fzmw.de/2001/2001_1.pdf)

Birtwistle: ”Within the piece there is something which you could call instrumental role play, in that the instruments share a character and a music in which they do this and a place in which to do it in.“ Die Besetzung: Flöte / Piccolo, Oboe, Klarinette in B, Fagott / Kontrafagott, Trompete in C, Horn, Posaune, Schlagzeug, Klavier, 2 Violinen, Viola, Violoncello, Kontrabaß. Bezeichnenderweise stellt der Komponist die Instrumentalisten als dramatis personae vor. An welchem Schauspiel sie teilnehmen, wird schon aus der Aufstellung des Ensemblesklar.  Das Ensemble phace spielte sehr, sehr gut. Es dürfte viel Arbeit gemacht haben, Birtwistles komplexe und schwierige Partitur mit solistischen Aufgaben sonder Zahl einzustudieren. Gratulation!
Heinz Rögl

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