Wien Modern 2010: Das Eröffnungskonzert mit Werken von Johannes Maria Staud, Georg Friedrich Haas und Mark Andre

Das Konzert des ORF Radio-Symphonieorchesters Wiens unter der Leitung von Peter Eötvös fand traditioneller Weise im Wiener Konzerthaus statt. Hauptkomponisten sind heuer Mark Andre, Morton Feldman, Roman Haubenstock-Ramati sowie Johannes Maria Staud, Thomas Wally und Joanna Wozny.  Nach dem RSO Wien bestreiten am Samstag das Klangforum Wien mit Haubenstock-Ramati (im Semperdepot) sowie das SWR Orchester am Sonntag unter Sylvain Cambreling das Eröffnungswochenende. Dieses ist auch noch von der Ausstellungseröffnung „Notation“ und vom ersten Wien Modern-Gespräch mit Lothar Knessl gekennzeichnet.

Aber bevor das erste Konzert beginnen konnte und das Orchester auf den Pulten Platz nahm, gab es eine besondere Neuerung: Der Bundespräsident Dr. Heinz Fischer eröffnete erstmals das größte Festival Neuer Musik Österreichs. Der Intendant des Konzerthauses Bernhard Kerres begrüßte die Gäste und das Publikum, ausdrücklich und besonders herzlich die anwesenden Künstler und Musiker. Dann hielt der Bundespräsident eine durchaus kurze, aber bewegende Rede – man weiß, dass Heinz Fischer häufig Gast bei Neuer Musik ist, etwa bei Klangforum-Konzerten, wenn es ihm die Zeit erlaubt. Fischer strich die große Bedeutung von Wien Modern heraus, die dazu aufrüttle, nicht nur bei der Tradition zu verharren, sondern auch die Musik lebender Komponisten an vielen Aufführungsorten der Stadt zu hören und sich – manchmal auch im persönlichen Gespräch mit diesen – damit auseinandersetzen zu können. Er fügte auch persönlich hinzu, dass er vor nunmehr fünfzig Jahren als Schüler am Gymnasium von einem gewissen Friedrich Cerha dessen Vorträgen über Neue Musik lauschen konnte, die wirklich Neues und bisher nicht Gekanntes für ihn beinhalteten und ihn „neugierig“ machten.

Dann kam leider eine für manche im Saal verzichtbare (mehrseitige) Eröffnungsrede der designierten Direktorin der Oper in Stuttgart, die ausführlich allseits bekannte Probleme von heutiger Musik, ihrer Aufführung und Einplanung durch Intendanten im Spielplan etc. behandelte. Der (zu) lange Vortrag könnte durch ein im Saal vernehmliches „Hatschi“ einer Besucherin vorzeitig beendet worden sein. Das Gegenteil von „gut“ ist eben „gut gemeint“.

Johannes Maria Staud: On Comparative Meteorology  für großes Orchester.

Diese Uraufführung der Neufassung des 2008/09 von Staud komponierten Stücks stand am Beginn der Darbietungen des in großer Zahl versammelten ORF-Orchesters unter Eötvös. Über Johannes Maria Staud, einem der brillanten und in den letzten Jahren international erfolgreichen jungen Komponisten aus Tirol kann man ein ausgezeichnetes Porträt im Wien Modern-Katalog nachlesen, den jeder Generalpass-Bezieher gratis erhält und der während des ganzen Festivals erworben werden kann („Die Metamorphose der Aneignung – Streichlichter auf Johannes Maria Staud.“ Von Lothar Knessl). Darin wird auch das neue, nunmehr gänzlich überarbeitete Stück erklärt. Staud selbst fasst in seinem Programmhefttext zusammen, welchem Eindruck seine Entstehung zu verdanken ist. Es handelt sich um die Begegnung des sich auch für andere Kunstgenres stets interessierenden Komponisten mit Bruno Schulz, einem jüdisch-polnischen Dichter, der 1942 in einem Ghetto im ukrainischen Galizien ermordet wurde. Die sechs Abschnitte der Musik für Orchester mit dem Titel „Über vergleichende Wetterkunde“ hat Staud in der Partitur mit Schulz-Zitaten betitelt, die leider im Katalog nicht zu lesen sind. Es handelt sich um expressionistische Wetter- und Klimabeschreibungen – etwa die Hitze eines Augusttages, die Gewalt einer Sturmnacht, einen zweiter, anderen Herbst. Das uraufgeführte Werk ist Teil eines Orchester-Diptychons: „On Comparative Meteorolgy II“ soll am 6.11.2010 vom Ensemble Modern Orchestra unter Pierre Boulez in Paris uraufgeführt werden.

Es ist schwierig, den vielfältigen Eindruck dieser nur einmal gehörten, vielfältigen Musik für großes Orchester wiederzugeben, das von Ö1 live ausgestrahlt wurde. Man kann hoffen, es wiederzuhören zu können. Eötvös dirigierte sehr „sachlich“ und man möchte vermuten, dass in der Musik noch anderes „drin“ ist. Das Stück will keine Schulz-Programmmusik sein, will das, worauf sie sich bezieht, nicht nacherzählen, oder gar illustrativ verdoppeln. Staud schreibt, „es stellt meinen Versuch dar, der geheimnisvollen Welt Bruno Schulz’ auf musikalischem Wege nachzuspüren“.

Auf Wiederhören! Das Zuhören erschwerte beim Autor eine Konzentrationsstörung durch die vorangegangenen Geschehnisse bei der der Eröffnungsrede und die noch nicht lange zurückliegende, von Stauds Rezeption unabhängige eigene (überwältigende) Begegnung mit dem Oeuvre von Schulz und auch mit seiner sehr zu empfehlenden Biographie (Jerzy Ficowski: Bruno Schulz, 1892-1942. Ein Künstlerleben in Galizien“, erschienen bei Hanser). Wer ist Bruno Schulz? Dessen dichterisches Werk ist in zwei Bänden zusammengefasst (I „Die Zimtläden und andere Erzählungen“, II „Das Sanatorium zur Todesanzeige“ auch: Die Wirklichkeit ist Schatten des Wortes“).

Bruno Schulz war ein polnisch-jüdischer Schriftsteller, Literaturkritiker, Graphiker und Zeichner. Er entstammte einer jüdischen Familie, die sich an der polnischen Kultur orientierte. Im Erdgeschoss des von der Familie Schulz bewohnten Hauses befand sich das Seiden- und Textilwarengeschäft des Vaters, das aufgrund von dessen  schweren Krankheit und der Konkurrenz von Großhändlern 1910 aufgelöst wurde. Schulz begann in Lemberg ein Architekturstudium, 1914 brach er dieses ab – aufgrund der Krankheit des Vaters, eigener schlechter Gesundheit und des Beginns des Ersten Weltkrieges. Aus der österreichischen Armee ausgemustert, verbrachte Bruno Schulz die Kriegszeit in Kurorten und für einen längeren Zeitraum in Wien, wo er an der Akademie der Künste eingeschrieben war. Er kehrte nach dem Ersten Weltkrieg nach Drohobycz zurück, das er mit Ausnahme von Aufenthalten in Warschau, Reisen innerhalb Polens, einer Parisreise und einer Schifffahrt nach Dänemark bis zu seinem Lebensende nicht mehr verließ. Von 1924 bis 1941 arbeitete Schulz als Zeichenlehrer. In das Ghetto „übersiedelt“, wurde Bruno Schulz am 19. November 1942, kurz vor seiner geplanten Flucht aus dem Ghetto, auf offener Straße von einem Mitglied der Gestapo erschossen.

„Schulz´ Erzählungen, schon in der zeitgenössischen Rezeption als „kompliziert“ beschrieben, wurden auch politisch kritisiert. Von „linken“ Kritikern wurde Schulz seine Verliebtheit in das Formale, bzw. in die Dimension der Zeitlichkeit vorgeworfen, von einigen „rechten“ Kritikern wurde sein Werk als „jüdisch“ und „entartet“ abgelehnt. „Der Metaphernreichtum, die extensiven, z. T. symbolistisch angehauchten Beschreibungen und die ironisch gebrochenen Ausflüge in das Genre der Phantastik machen seine Erzählungen“, schreibt wikipedia,  „mit einer hyperreal präzisen, an Buntheit nicht zu überbietenden Sprache  zu einer zu einer ganz und gar eigengesetzlichen, bizarren Welt“ schreibt und meint völlig richtig Johannes Maria Staud im Wien Modern-Katalog.

Im Klappentext der deutschen Ausgabe der „Zimtläden“ heißt es: Die Zimtläden” erzählt von der versunkenen Welt des Schtetls in Galizien: der verschrobene Vater und seine böse Gegenspielerin Adela, verwunschene Gärten und modrige Hauseingänge, überraschend entdeckte Zimmer hinter vernagelten Türen, wo die Tapeten zu leben anfangen, das flirrende Paradies des Sommers, ein Sturm, der das Gerümpel auf dem Speicher in Wallung bringt, Nächte, in denen Schneiderpuppen zum Leben erwachen.

Und in einem Aufsatz („Chiffre einer verschwundenen Welt“) zum 100, Geburtstag von Bruno Schulz in der Kulturzeitschrift „David“ liest man einen Aufsatz von Claus Stephani: Eine gewisse Nähe zu Franz Kafka, Thomas Mann, Witold Gombrowicz sowie Einflüsse Freudscher Theorien sind in seiner Prosa zu erkennen, während im malerischen und grafischem Werk eine schöpferisch-geistige Beziehung zu Alfred Kubin und Max Beckmann durchscheint. Sein Roman “Messias”, der unvollendet blieb, ging, wie viele andere unveröffentlichte Texte, während des Krieges verloren.

Georg Friedrich Haas: Konzert für Baritonsaxophon und Orchester (2008)

Vordergründig „leichter“ zu hören war Georg Friedrich Haas’ wunderbares Saxophonkonzert, allein schon durch den tollen Solisten Marcus Weiss, der unvergleichlich schön spielte. Das Stück ist, so Haas, in wesentlichen Teilen in Japan entstanden.

Wichtig daran ist: Das Baritonsaxophon mit seinen speziellen und vielfältigen klanglichen Möglichkeiten steht im Mittelpunkt. Und (aber) – und das ist bei Haas immer wieder ein Baden im Klang: Der eigenständige Klangkörper des Saxophons mit seinen Möglichkeiten in allen Registern, seinen Zweiklängen und „Multiphonics“ wird umgeben von einem Orchester, „das die Welten des Soloinstruments kommentiert, aufgreift, nachschwingen lässt“ (Haas).

Anstelle einer weiteren Besprechung – und dem abermaligem Wunsch nach einem „Wiederhören“ – bringen wir hier eine Kritik der ersten Aufführung im Jahre 2008 aus dem „Kölner Stadtanzeiger“: „Er ist ein Komponist mit grünem Daumen, in dessen musikalischen Gärten die Klänge vegetabilisch wachsen, in unterschiedlichsten Farben erblühen und von einem Beet zum anderen ranken. 1953 in Graz geboren, gehört Georg Friedrich Haas neben den französischen Spektralisten unter die Klangmagier und Landschaftsmaler der neuen Musik. Sein Konzert für Baritonsaxophon und Orchester war jetzt als Uraufführung in der WDR-Reihe „Musik der Zeit“ zu erleben.

Im Gegensatz zu vielen zeitgenössischen Instrumentalkonzerten, die Dank ausgezeichneter und für neue Musik begeisterter Solisten seit einigen Jahren zuhauf komponiert werden, verzichtet Haas auf virtuoses Blendwerk und hyperaktiv abgespultes Floskel-Unwesen. Stattdessen arbeitet er eng am Klang des Soloinstruments, dessen immenser Tonumfang und dynamisches Spektrum ihn faszinieren und dessen große Wandlungsfähigkeit er gleich zu Beginn vorstellt: tief schnurrenden Bassklängen des Solisten, die in Celli und Blechbläsern weiterhallen, lässt er vier Oktaven höher feine Sopranlinien folgen, die dann in die Violinen abstrahlen.

Statt in konzertierendem Wettstreit verhalten sich Solist und Tutti symbiotisch zueinander wie Bild und Spiegelbild. Solist Marcus Weiss – Professorenkollege von Haas an der Musikhochschule Basel – gestaltete die wechselnden Metamorphosen der Soli ins Tutti und zurück mit sensibler Präzision. Ebenso hellhörig agierte das WDR Sinfonieorchester unter sicherer Leitung von Emilio Pomàrico als akustisches Spektrometer, das mit seinen unterschiedlichen Instrumenten, Farben und Registern eine auskomponierte Klanganalyse der Überblasungen, Geräuschanteile und Mehrklänge des Saxophons lieferte. So entstanden erhellende und suggestiv sich auf- und abbauende volltönende Klangwellen. Zum Schluss setzten gestrichene Fingerzimbeln dem Soloinstrument ein Goldkrönchen auf.“

Den zweiten Teil des Eröffnungskonzerts bildete eine eindrucksvolle erste Begegnung mit Mark Andre, der, in Paris geboren, u. a. Schüler Griseys, Lachenmanns und Meisterkursabsolvent bei André Richard im SWR-Experimentalstudio,  in Strasbourg, Frankfurt/Main und derzeit  an der Musikhochschule Dresden als Professor für Komposition unterrichtet. Zu erleben war das Triptychon für großes Orchester „…auf…I-III“ (2005-2007). Es wirkten auch drei Klangregisseure vom SWR-Studio Freiburg im Konzerthaus an der Aufführung mit und steuerten akribisch die aus den Lautsprechern im Saal kommende Elektronik und zwar so, dass man oft nicht mehr wusste, ob Klänge einzelner im Orchester verstärkt wurden oder nicht. Das RSO hatte alles aufzubieten, eine Schlagzeugbatterie (teils auch auf den Balkonen postiert) und vieles andere – die Streicher hatten ö1-Klubkarten und andere Plastik Gegenstände auch als Zupfmittel  bzw. Plektren für die Saiten zu verwenden und durch ein Missgeschick ging einer Geigerin auf dem zweiten Pult auch die Stange ihres  Bogen zu Bruch.

Nach Mark Andre geht es um drei Gruppen von Materialien dieses „Fragmentierungsstücks“ – unharmonische, harmonische und geräuschhafte Klänge; „diese drei Klangfamilien lassen sich in ihrer archetypischen Gestalt deutlich und direkt wahrnehmen.“ In der der Elektronik geht es um die „Entwicklung von Zwischenräumen, die weder akustisch noch elektronisch sind … Alle Transformationen, die live und in Echtzeit berechnet werden, verwenden verschiedene Klanggestalten als Impulse und ‚falten’ sie durch andere, antwortende Klanggestalten.“

Und warum hieß das durchaus spannende, ca. 50 Minuten währende Triptychon „…auf…“?
Diese  „deutsche Präposition verweist auf die Schwelle, die Gestalt des Übergangs: aufgeben; aufhören; aufleben…“ Es geht um die Schwelle zwischen Räumen und Klangfamilien, sagt Mark Andre.
Heinz Rögl

 

Foto Johannes Maria Staud: Astrid Karger

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