„Wenn es ein Märchen wäre, wäre das die Inhaltsangabe“ – ANTHEA im mica-Interview

ANTHEA ist eine Wiener Singer-Songwriterin und erst seit kurzer Zeit im Bereich der Musik tätig. Zuvor war sie als bildende Künstlerin aktiv und nun entwickelt ihr Sound diese Formensprache und Visualität auf auditiver Ebene weiter. Innere Landschaften werden zu lebendigen Bildern und verhandeln dabei Fragen zwischen Intimität und Abstraktion. Vor Kurzem erschien ihr Debüt-Track „Crime“, in dem Momente von Verletzlichkeit und Stärke gleichermaßen existieren und so eine sogartige Unmittelbarkeit erzeugen. Ihr neuer Track „Reaper“ (VÖ: 7.8.) öffnet das Tor zu einer weiteren surrealen Welt, in der Träume, Wünsche und Wahnvorstellungen koexistieren. Im Gespräch zwischen Ada Karlbauer und ANTHEA ging es um surreale Figuren als Verständnis-Analogien, die Transformation von bildender Kunst zu Musik, die Kollaboration mit jungen Künstlerinnen und Künstlern, die Kombination von „Heavy Sound“ und „Art Pop“ und darüber, welche Fragen man dem Sensenmann in einem verzauberten Garten stellen möchte.

Die Debüt-Single „Crime“ erschien im April und hat inzwischen 10.000 Klicks auf Spotify. Als Newcomerin ist das sehr ungewöhnlich. Hast du mit so viel Zuspruch gerechnet?

Anthea: Nein, gar nicht, es hat mich allerdings umso mehr gefreut, weil es mir gezeigt hat, dass ich auf dem richtigen Weg bin.

„Auch wenn der Arbeitsprozess voller Emotionen steckte, das fertige Objekt blieb schweigend […]“

Deine Arbeit als Musikerin begann eigentlich erst vor etwa einem Jahr. Welche Gründe gab es für die Abwendung von der bildenden Kunst hin zur Musik?

Cover Reaper
Cover “Reaper”

Anthea: Ich hatte immer das Gefühl, dass ich durch die bildende Kunst nie direkt mit den Rezipientinnen und Rezipienten kommunizieren konnte. Das optische Erscheinungsbild stand meist im Vordergrund, der konzeptuelle Aspekt kam mir dabei zu kurz. Auch wenn der Arbeitsprozess voller Emotionen steckte, das fertige Objekt blieb schweigend und das Konzept blieb verborgen, auf separatem Papier niedergeschrieben. Bei Musik entsteht eine Fusion aus Text und Klangatmosphären, wodurch die Hörerinnen und Hörer viel unmittelbarer erreicht werden können.

Kürzlich erschien dein zweiter Track „Reaper“. Er handelt von dem Moment, an dem der Sensenmann erscheint, man einen Blick zurückwirft und reflektiert. Wie kam es zu dieser Geschichte?

Anthea: Wenn es ein Märchen wäre, wäre das die Inhaltsangabe: Einer jungen Frau wurde viele Male das Herz gebrochen, sie unternimmt eine Reise durch den Garten des Bergahorns und sucht dort nach Antworten auf ihre Fragen. Der Garten ist verzaubert und bringt sie in eine andere Zeitzone, hin an einen Ort, an dem die Jahre in Sekundenschnelle vergehen und der das Mädchen zu einer alten Frau werden lässt. Aus einem auf den ersten Blick harmlos erscheinenden Spaziergang entwickelt sich ein tragisches Abenteuer voll von Halluzinationen und einer Begegnung mit dem Sensenmann, dem „Reaper“. Ob die junge Frau den Garten mit Antworten verlassen wird oder das Gefühl der Akzeptanz erlernen wird, werden wir wohl erst erfahren, wenn wir sie kennenlernen. 

Die Lyrics deiner Songs sind sehr poetisch, fast wie kurze Gedichte, die zu bildhaften Geschichten verwachsen. Wie kann man sich das Songwriting vorstellen?

Anthea: Der Schreibprozess ist intuitiv, gezeichnet durch persönliche Erfahrungen, Gespräche, Träume und surreale Wunsch- und Wahnvorstellungen. Es beginnt meistens mit Gesangsmelodien, dann folgen Texte, die ich nach und nach aneinander angleiche, bis sie eine Einheit bilden. Meist stelle ich mir den Text wie einen Film vor und suche gezielt nach einer musikalischen Untermalung, die den dazugehörigen Soundtrack bildet. Die finalen Umsetzungen meiner Ideen erfolgten bisher immer in Zusammenarbeit mit Phil Maier.

„Ich bin sehr inspiriert von fantastischen Filmen, Texten und Bildern.“

Das Fantastische und Märchenhafte sind zentrale Teile deines musikalischen Narrativs und der Inszenierung. Surreale Figuren, wie etwa der Sensenmann, treten dabei in einen Dialog mit allgemein zugänglichen Gedanken und Fragestellungen.

Anthea: Ich bin sehr inspiriert von fantastischen Filmen, Texten und Bildern. Mir gefällt der Gedanke, scheinbar surrealen Wesen eine Möglichkeit zu geben, innerhalb eines Songs zu realen Protagonistinnen und Protagonisten zu werden. Diese mystischen Kreaturen wie beispielsweise Meerjungfrauen, Elfen oder in meinem Song „Reaper“ der Sensenmann sind kulturell stark durch Allegorien geprägt, wodurch sich die Rezipientinnen und Rezipienten sofort eine konkrete Stimmung ausmalen oder vorstellen können. Durch diese Allegorien wird die Atmosphäre des Songs abrupt in eine bestimmte Richtung gelenkt.

Bild Anthea
Anthea (c) Vrinda Jelinek

Wenn man einen Blick auf deine Social-Media- und Foto-Inszenierung wirft, entsteht der Eindruck einer akribisch durchdachten Gesamtinszenierung, in der jedes Element am richtigen Ort platziert ist.

Anthea: Meine visuelle Ästhetik ist das Resultat jahrelanger Auseinandersetzung mit bildender Kunst und Mode. Mir geht es immer ums Ausprobieren, Adaptieren, Entfremden, Verwerfen und darum, Neues und Eigenes zu kreieren. Natürlich wird das ästhetische Erscheinungsbild weiterhin eine Rolle spielen, vor allem im Design der Cover-Artworks und in weiterer Folge auch der Tonträger und Merchandise-Artikel. Dieser Aspekt existiert aber genauso auf der auditiven Ebene. Ob ich ein Bild male oder ein Lied schreibe, beides ist von meiner Handschrift gezeichnet und spiegelt so meine Ästhetik wider. 

Dein Sound vereint Elemente aus den unterschiedlichsten Genres, die im klassischen Sinne meist nicht vereint werden. Wie wesentlich ist die Kombination von Zugänglichkeit und Abstraktion innerhalb deiner Arbeit?

Anthea: Da meine Texte oft sehr intime und durchaus auch persönliche Szenarien aufmachen, spiele ich im Sounddesign gerne mit Elementen, welche die Hörerinnen und Hörer in manchen Momenten aus dieser sehr nahbaren Konfrontation reißen. Artifizielle, kühle, schwer einzuordnende Geräusche und Noise-Glitches bilden hier den Kontrast zu warmen, vertrauten, wolkenartigen Sounds. Die klare, fragile, fast erzählerische Stimme wird durch punktuell eingesetzten Auto-Tune entfremdet und so von einem Art Schleier ummantelt, in Schutz genommen.

„Das Albumcover kann die Rolle eines Ausstellungs-Displays einnehmen […]“

In deiner Arbeit ist die Kooperation mit anderen Künstlerinnen und Künstlern aus den unterschiedlichsten Disziplinen – egal ob Mode, Skulptur, Fotografie oder Grafik zentral. Wie wichtig ist der kuratierende Aspekt? 

Anthea: Im Bereich der bildenden Kunst hatte ich oft ganz genaue visuelle Vorstellungen, die der physischen Umsetzung aber nie gerecht wurden. Durch den Wechsel zur Musik kann ich mich nun selbst zurücknehmen und anderen Künstlerinnen und Künstlern, Modedesignerinnen und -designern den Vortritt lassen. Das Albumcover kann die Rolle eines Ausstellungs-Displays einnehmen, in dem Mode, Skulptur und Grafik in Form einer Fotografie festgehalten werden und so als visuelle Verbildlichungen der Musik dienen. Bei meiner letzten Single „Reaper“ waren die beteiligten Künstlerinnen und Künstler großteils junge Frauen, deren Arbeit ich sehr schätze. Fashion: Anastassja Bandini, Hut: Sassa Ann Van Wyk, Skulpturen: Luna Ghisetti, Foto: Vrinda Jelinek, Grafik: Samuel Haller. 

Dein Sound orientiert sich in gewisser Weise am zeitgenössischen „Art Pop“. Welche Aspekte interessieren dich besonders an dieser Entwicklung? 

Anthea: Meine Wahrnehmung ist, dass kommerziell erfolgreicher Pop in den letzten Jahren zunehmend spannender geworden ist. Zeitgenössische Pop-Musikerinnen wie Charli XCX, Grimes und Caroline Polachek schaffen es, trotz ungewohnter Sound-Elemente und komplexer Vocal-Melodien eine große Bandbreite an Menschen anzusprechen und somit auch gewisse Elemente aus der Nischenmusik in den kommerziellen Musikbereich zu integrieren.

Gemeinsam mit DJ Warzone betreibst du auch das Label „Ventress Records“, auf dem eher Subgenres wie Dungeon Synth, Black Metal und Noise releast werden. Wie passt das alles eigentlich zusammen?

Anthea: Diese Genres bilden einen fundamentalen Teil meines Musikgeschmacks. Auch wenn nicht auf Anhieb erkennbar, fließen viele dieser Elemente sowohl in Form von Songwriting als auch auf Soundebene in meine aktuelle Musikproduktion ein. Um einen „Heavy Sound“ an einen Pop-Kontext zu adaptieren, finde ich die Auseinandersetzung mit harter Musik wichtig. Jedes dieser Subgenres bietet auf seine Art eine gute Inspiration: die Sound-Ästhetik des Dungeon Synth für fantastische Welten, Hardcore Punk für persönliche und politische Textinhalte. 

Ende des Jahres erscheint voraussichtlich deine Debüt-EP. Was kann man sich davon erwarten?

Anthea: Auch hier lege ich sehr viel Wert auf Kollaborationen mit Musikerinnen und Musikern sowie mit Künstlerinnen und Künstlern. Mit meinen ersten beiden Singles habe ich meine von Folk inspirierte Seite gezeigt, von dieser möchte ich nun im Zuge der EP den Bogen zum oben beschriebenen „Art Pop“ spannen. Mehr möchte ich allerdings noch nicht verraten.

Herzlichen Dank für das Gespräch! 

Ada Karlbauer

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