Waves Conference 2022 im Rückblick: „Networks for FLINTA in the Music Business“

Warum sind Netzwerke für FLINTAs notwendig? Itta Francesca Ivellio-Vellin gibt die Einstiegsfrage weiter an ihre Gäste Regina Fisch (MEWEM Europa / mica – music austria), Marie Fol (Projektmanagerin von KEYCHANGE), Myassa Kraitt (KÖNIGIN DER MACHT, D/ARTS) und Lynn Meisner (POP NRW, MUSIC NRW WOMEN, MUSIC WOMEN* GERMANY). Die einstündige Diskussionsrunde im Rahmen der WAVES CONFERENCE 2022 bietet Einblicke in bestehende Netzwerke und Aktivitäten, geht auf diverse Problematiken ein und zeigt auf, dass letztendlich alle – nicht nur FLINTAs – von mehr Diversität in der Musikindustrie profitieren.

„FLINTA-Netzwerke helfen durch Empowerment; sie unterstützen, vermitteln Wissen und machen FLINTA-Personen sichtbar“, konstatiert Lynn Meissner von Pop NRW. Nicht ohne vorauszuschicken, dass trotz bereits bestehender FLINTA-Netzwerke noch ein weiter Weg vor uns liegt. Denn der Gender-Pay-Gap liege in Deutschland bei 19 Prozent, innerhalb der Musikindustrie bei 25 Prozent. Marktforschung und Einblicke in Statistiken waren auch die Argumente, die zur Gründung von Keychange, einer Initiative zur Gleichstellung der Geschlechter in der Musikindustrie und Veranstaltungswelt, führten. Vanessa Reed gründete vor zehn Jahren in Großbritannien den Fonds „Women make Music“, der sich damals als einziger Fonds einer öffentlichen Einrichtung (PSR Foundation) spezifisch an Frauen richtete. Allem voran die Tatsache, dass sich hauptsächlich männlich konnotierte Personen für Stipendien bewarben, was in Folge zu einem Defizit an Diversität führt, zeigte die Notwendigkeit der Initiative auf.

Auf die Wirksamkeit von Zahlen und Fakten setzt auch Music Women* Germany, ein großes Netzwerk und bundesweiter Dachverband in Deutschland mit seiner eigenen Datenbank. „Wir kennen nicht so viele qualifizierte Frauen oder FLINTA-Personen“ – eine oft gehörte Aussage, der mit der Datenbank entgegnet werden kann. Diese macht es einfacher, lokal die passenden Personen – von Organisator*innen über Musiker*innen, Techniker*innen bis hin zu Producern – zu finden. Zugleich sorgt die Datenbank für Sichtbarkeit. Die Idee ist, in jedem der sechzehn Bundesländer in Deutschland ein Netzwerk zu etablieren, denn es geht auch um die räumliche Nähe. Music Women* Germany setzt sich für eine Musikkultur und -wirtschaft ein, die vielfältig, divers, digital und vernetzt gestaltet ist.

Bild Panel Flinta in Musicbusiness - Waves Conference 2022
Flinta in Musicbusiness – Waves Conference 2022 (c) mica – music austria / Austrian Music Export

Marie Fol, unabhängige Beraterin, Forscherin, Kulturmanagerin und Projektmanagerin bei Keychange, erklärt das Anliegen des „Talent Development Program“: Hier gilt es, eine Community zu formen, in der sichergestellt ist, dass Frauen und Genderminorities zusammenkommen können. 75 Personen, die sich zuvor in ihrem Umfeld unterrepräsentiert gefühlt haben, erstmals gemeinsam in einen Raum zu bringen, sei jedes Mal ein magischer Moment. Ihnen zu sagen: „Seriously, we have hand-picked you because we know what you’ve been through, but you will grow“, löse Reaktionen aus, wie: „I am a weirdo, but you’re a weirdo too. That’s so fucking cool! Let’s do stuff together.“ Hier sieht man laut Fol die Kraft des Netzwerks besonders gut. Es hilft enorm, zu sehen, dass man mit dem, was man durchgemacht hat, nicht alleine ist. Es hilft, Verbündete zu finden – und später auch außerhalb des Netzwerks auf Menschen zu treffen, die den Wert einer diverseren Musikindustrie erkannt haben.

„Wir gehören zur Diskussion, weil wir Teil der Musikindustrie sind.“

Marie Fol sieht den Erfolg von Keychange darin, dass ein Raum für Frauen und Genderminorities geschaffen wird, ohne dass dieser primär an Erwartungen – z. B. etwas zu produzieren oder zu performen – geknüpft ist. Parallel arbeiten andere Programme von Keychange daran, diese geschützten Räume mit der Musikindustrie zu verknüpfen. Letzteres geschieht über die Präsenz auf Musikevents und Festivals – wie beispielsweise Waves Vienna oder dem Reeperbahn Festival. „Uns geht es um Expertise. Wir gehören zur Diskussion, weil wir Teil der Musikindustrie sind.“ Diese Kombination werde von allen Teilnehmenden sehr geschätzt.

Sieht man sich die gesamte Musikbranche mit ihren verschiedenen Tätigkeitsfeldern an, sind Frauen und FLINTA-Personen durchaus aktiv. Sobald es aber darum geht, wie viele Frauen sich in Führungspositionen befinden, wird die Luft dünn. Regina Fisch, u. a. Projektkoordinatorin bei MEWEM Europa, spricht hiermit die Problematik struktureller Ungleichheiten an. Das EU-Projekthat sich zum Ziel gesetzt, mehr Frauen in Führungspositionen zu bringen. „Unsere Hoffnung ist, dass Clubs, Festivals und deren Line-ups diverser werden, wenn FLINTA-Personen an der Macht sind.“ Herzstück von MEWEM ist ein Mentoring, bei dem FLINTA-Personen, die bereits erste Erfahrungen im Musikbusiness gesammelt haben, mit einer*m Mentor*in gematcht, und auf einer individuellen Ebene in ihrer Weiterentwicklung unterstützt werden. Parallel läuft ein Rahmenprogramm, bestehend aus Workshops und der Teilnahme an Festivals und Konferenzen.

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Auffällig ist, dass es im Zuge der Diskussion immer häufiger um fehlende Diversität in der Musikindustrie geht als um FLINTAs alleine. „Es geht nicht darum, jemandem etwas wegzunehmen, sondern darum, Raum für andere zu schaffen.“ Das fordert den Status quo heraus, das Patriachat, unsere Arbeits- und Lebensmodelle etc., erklärt Marie Fol. Wir alle hätten die Tendenz, genau das zu suchen, was uns ähnlich ist und bekannt vorkommt. Sobald man von Boards und Auswahlprozessen spricht, in der nur weiße Männer sitzen, erzeugt das eine Schieflage. Man müsse also auch hier ansetzten und die Zusammensetzung von Komitees ändern, wenn man eine kulturell diverse Musiklandschaft schaffen will – das betrifft auch Führungspositionen.

Myassa Kraitt ist Künstlerin, Bildungsanthropologin und Trainerin und bringt etwa bei D/Arts – Projektbüro für Diversität und urbanen Dialog ihre Expertise ein. Ihr Alter Ego, „Königin der Macht“, ist eine lautstarke female-queer-radicalist Rapperin. Sie habe diese sehr direkte Figur entwickelt, die Räume der Gewalt [violent spaces] aufdeckt. Gerade Kulturinstitution können auch sehr exklusiv – im Sinne von ausschließend – sein. Das Projektbüro D/Arts, das sie auf diesem Panel auch vertritt, pflegt ein kritisches Konzept von Diversität und erarbeitet dialogische Konzepte, um dezentralisierte Strategien und kollaborative Denkräume zu schaffen. „Wie können wir Brücken zwischen Kulturräumen und Künstler*innen bauen?“ Jeder von uns hat mehrere Identitäten, nicht nur eine.

Was können Künstler*innen zu diesem Diskurs selbst beitragen? Performances von FLINTAs werden von FLINTAs besucht. Können cis-Männer miteinbezogen werden? Dazu hat Myassa Kraitt eine klare Haltung: „Nein!“ – mit dem Argument, dass die verfügbaren Safer Spaces und Bühnen so gering sind. Sie habe zwar eine Fanbase an Hetero-cis-Männern, die ihre Performances besuchen, habe aber für sich entschieden, nicht in die Rolle der Lehrenden zu schlüpfen: „Eure Ausbildnerin sein? Nein!“ [Beeing the educator for you? No!]. Dabei gehe es nicht nur um Erziehung, sondern um die generelle Bereitschaft, Macht zu teilen und strukturelle Ungleichheiten zu sehen. „FLINTA-Stimmen, insbesondere in der Kunst und Musik, sind so furchteinflößend, weil sie außerhalb etablierter Positionen verortet sind. Wir sprechen nicht aus einer Position heraus, aus der sich schließen lässt: „Ah, du kannst mit uns navigieren!“ [Flinta-Voices, especially in arts and music, are so anxiety provoking because we do not speak from a struktural space. We do not speak from a place, where one sees „ah you can navigate with us“] Das löse Angst aus. „Ich bin ein Mensch, der Verletzlichkeit und Macht ausdrückt. Und ich möchte die Communities, denen ich mich zugehörig fühle, ansprechen und mit ihnen teilen“, schließt Myassa Kraitt.

MEWEM Europa in Austria (c) Gerlinde Gorla
MEWEM Europa in Austria (c) Gerlinde Gorla

Itta Francesca Ivellio-Vellin fasst zusammen, dass es durchaus legitim sei, Safer Spaces für FLINTAs zu beanspruchen, weil es den Bedarf gibt. Wie können nun aber auch die anderen, Non-FLINTA-Personen, miteinbezogen und davon überzeugt werden, dass dieses Thema nicht nur FLINTAs betrifft: „Es geht nicht nur um uns“. Offen zugegeben, das ist eine Herausforderung. Regina Fisch ortet darin ein Kommunikationsproblem, vor allem bei den Einladungen zu FLITNA-spezifischen Diskussionen. Sie schildert, dass viele der Panels und Receptions, die von MEWEM gehostet wurden, für eine breite Personengruppe angelegt waren; viele dachten jedoch, dass diese Events nur für FLINTAs wären – oder ließen sich einschüchtern.

Kreitt unterscheidet zwischen ausgleichenden und gestaltenden Maßnahmen in Sachen Geschlechtergerechtigkeit: „Wir müssen über Strukturen nachdenken. Es gibt diskriminierende Muster innerhalb Institutionen, wenn darin nur Menschen mit dem gleichen kulturellen Hintergrund arbeiten. Wir müssen uns die Strukturen anschauen, um zu lernen, wie transformative Justice aussehen kann.“ Die FLINTA-, BiPoc- und Queer-Commuitys würden hier extrem viel Arbeit leisten, die weder bezahlt noch quantifiziert wird, die aber sehr anstrengend ist. Bei Bestrebungen für mehr Diversität ortet sie auch die Gefahr von Tokenism. Die Repräsentationslogik von FLINTAs sollte nicht nur dem Staat oder der Gesellschaft dienen: „Wir sollten auch die Chance haben, in der Öffentlichkeit zu sein, zu sprechen, einander zu sehen und uns gegenseitig zu bestätigen, auch auf der Bühne.“ Und: „Wir müssen Bündnisse ernst nehmen, wenn wir etwas verändern wollen.“

Lynn Meissner ergänzt: „Es gilt noch viel Übersetzungsarbeit zu leisten und all jenen zu erklären, dass wir letztendlich alle profitieren. Sobald sich Personen ausgeschlossen fühlen, hören sie auf, zuzuhören – aber wir wollen, dass sie zuhören.“

„Diversität steckt in uns, niemand hat nur eine Identität.“

„Reflexion ist wichtig, aber es ist auch wichtig, Strategien und Visionen zu haben und sich vorzustellen, wo man sich selbst in der Zukunft sieht“, sagt Myassa Kreitt. Diskriminierung schleiche sich in den Menschen ein. Viele Musiker*innen würden sich damit aufhalten, in sich hineinzuhorchen und zu fragen, wo sie hingehören, anstelle zu erfassen, in welchem Raum – sozial, kulturell – sie sich befinden. „Diversität steckt in uns, niemand hat nur eine Identität“. D/Arts vereint viele Künstler*innen, die sich unterrepräsentiert fühlen, und hat, einer Bottom-up-Politik folgend, einen Letter of Intent erarbeitet. Der Wirkungskreis von Menschen, die Brücken zu den Kulturinstitutionen bauen wollen, sei enorm wichtig.

Lynn Meissner unterstreicht dies, denn alles, was ihr Netzwerk erreicht habe, sei nur durch die Verbindung von Menschen in höheren Positionen – die beispielsweise Förderungen beantragen oder vergeben können – und Personen, die sich unermüdlich – un- oder unterbezahlt – für dieses Thema einsetzen, möglich gewesen.

Ruth Ranacher


Anmerkungen: Die Diskussion fand auf Englisch statt, daher sind einzelne Textstellen und Zitate im Englischen belassen.

Bei Keychange sprechen sie von Frauen und Genderminorities, was im deutschen Sprachraum mit „FLINTAs“ vergleichbar ist. Aktuell blickt Keychange in die USA und spricht daher auch von Gender-Expansive People, um Personen nicht in die Ecke von Minderheiten zu drängen.

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Links:
https://mewem.eu
https://www.musicwomengermany.de
https://www.keychange.eu/
https://www.d-arts.at/