„Wachstum“: Vorbericht Wien Modern 2019 (28.10.–30.11.2019)

Die 32. Ausgabe von Wien Modern steht unter dem Titel „Wachstum“. Welche Rolle dieser oft hinterfragte und vielleicht auch sehr fragwürdige Begriff in der Musik spielt, ist die Leitlinie des diesjährigen Festivals, das in 100 Konzerten und Veranstaltungen in 12 Wiener Gemeindebezirken abgewickelt wird. Auf dem Programm stehen rekordverdächtige 109 Ur- und Erstaufführungen. Fokus und Hauptschauplatz bleibt natürlich das Wiener Konzerthaus, gefolgt von Musikverein und MuseumsQuartier, aber auch Orte wie der Prunksaal der Österreichischen Nationalbibliothek, die Räume des mdw- Campus und das MUK.theater, Minoritenkirche, Reaktor, Echoraum, Dschungel Wien, Studio Molière, Alte Schmiede, Bockkeller, bis hin zum „Gleis 21“ und der Brigittenauer Brücke sind heuer mit dabei.

Die bereits zweite Präsentation des Programms fand am 16. Oktober im Konzerthaus statt: Der künstlerische Leiter Bernhard Günther präsentierte am Podium einige der wichtigsten Protagonist*innen, die live ihre Projekte darstellten, zusätzlich gab es auch ein Video mit der neuen Chefdirigentin des ORF Radio-Symphonieorchesters Marin Alsop, die das Eröffnungskonzert am 31.10. leiten wird, und eine Live-Videoverbindung mit Sylvain Cambreling, der zu diesem Zeitpunkt mit dem Klangforum Wien in der Diehlgasse ein großes neues Werk von Alberto Posadas für die Uraufführung in Donaueschingen probte (die österreichische Erstaufführung ist dann am 8.11. bei Wien Modern im Großen Saal des Konzerthauses) und darüber in einer Probenpause Auskunft gab.

DIE SUCHE NACH DEM RICHTIGEN MASS

Kann man das Phänomen „Wachstum“ überhaupt in der Musik, mit den Ohren hören? Das Dauerthema von Politik, Wirtschaft und Stadtplanung habe – wie es sich langsam herumspricht – „einen Haken“, so Bernhard Günther in seiner Vorrede. Sicher: „Die Stadt wächst. Die Bevölkerung wächst. Die Wirtschaft wächst. Auch das Festival Wien Modern wächst, ganz besonders sein Publikum (das hat sich im Lauf der letzten drei Jahre tatsächlich verdreifacht“. Aber: „Nichts kann immer nur wachsen. Für die Ohren ist es ein Glück, dass Prozesse der Veränderung nicht ewig in die gleiche Richtung gehen. Das Erkunden der Extreme und die Suche nach dem richtigen Maß sind in der Musik zum riesigen Thema geworden“. So macht auch Wien Modern „Entdeckungsreisen in der (wachsenden) Vielfalt an ästhetischen Zugängen, von Künstlerinnen und Künstlern, Orten, Formaten und Generationen, in der Suche nach dem Zuviel und dem Zuwenig. Das kürzeste Konzert (23.11., 22 Uhr im Studio Molière) dauert gerade einmal 20 Minuten, das längste beginnt vor Sonnenaufgang und endet nach Sonnenuntergang (9.11. von 5 Uhr bis 20 Uhr im Prunksaal der Nationalbibliothek)“.

Abseits der Chronologie lassen sich auch Themen und Nervenstränge des Programms ausmachen, von Wien Modern im Festivalfolder in schönen Schlagworten für die Leitlinien zusammengefasst und umschrieben: „Minimal und Reduktion“, „Opus magnum und Hochgebirge“, „Überdruck und Unterdruck“, „Generationen und Vielfalt“, „Stadt und Wachstum“, „Tanz und Performance“, „Minimal Night Music“.

ERÖFFNUNGSKONZERT, 31. OKTOBER

Marin Alsop (c) Adriane White

Das RSO Wien unter Marin Alsop, die in ihrer Video-Stellungnahme als erste das gespielte Programm und ihre Freude damit erläuterte, vor allem einen spektakulären Klassiker aus dem Jahr 1968 für acht Singstimmen und Orchester – Luciano Berios „Sinfonia“ – mit The Swingle-Singers aufführen zu können, wird neue Werke von Agata Zubel („Fireworks“), Peter Ablinger („4 Weiß“ für Orchester und Rauschen) und Clara Iannotta („Moult“ für Kammerorchester, sowie – als Einstieg ins Festivalthema – einen veritablen Vulkanausbruch präsentieren, nämlich „Hekla“ von Jón Leifs: Das teils sehr, sehr laute Stück für Orchester und Schlagwerk von 1961 verarbeitet musikalisch eine Eruption des durchschnittlich alle zehn Jahre sehr aktiven isländischen Vulkans dieses Namens 1947/48, die dreizehn Monate dauerte.

Marin Alsop steht auch bereits von 28.10. bis 3.11. im Zentrum eines mehrtägigen Schwerpunkts zu Dirgentinnen und Komponistinnen mit Workshops, Masterclasses und einer Podiumsdiskussion, zu der Wien Modern, das RSO Wien, das Wiener Konzerthaus und die mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien in die Räume der mdw laden.

ERSTES FESTIVALWOCHENENDE, 2.–3. NOVEMBER

Am Samstag, 2.11. bespielen die bildende Künstlerin Kathrin Horneck und die Komponistin Judith Unterpertinger mit zehn SchlagwerkerInnen in ihrem Projekt „Modified Ground“ den Innenraum der Brigittenauer Brücke. Bei der Veranstaltung bewegt sich das Publikum unterhalb der Brücke auf einem begehbaren Gitter – schwebend zwischen Wasseroberfläche und Fahrbahn. Startpunkt ist der Brückenpfeiler Handelskai, die Klanginstallation endet im Brückenpfeiler auf der Donauinsel, die als größte menschengemachte Struktur Wiens mit eingebunden wird. Entlang des Weges werden zehn Schlagwerker*innen positioniert, die die Komposition performen. Treffpunkt ist beim Zugang auf die Brücke über die Traisengasse. Festes Schuhwerk ist Voraussetzung, wetterfeste, warme Kleidung wird empfohlen.

Innenraum der Brigittenauer Brücke: “Modified Grounds” (c) Katrin Hornek

Die vier an diesem Wochenende präsentierten Ensembles passen gut zum „Generationen und Vielfalt“-Untermotto bei Wien Modern: Die Gründungsdaten der Ensembles umfassen fünfeinhalb Jahrzehnte! 1958: die reihe, 1974: Arditti Quartet, 2013: Ensemble Schallfeld und 2014 Black Page Orchestra. Auf das Pressegesprächs-Podium war auch Kurt Schwertsik geladen, der aus der Geschichte der reihe launig und bescheiden erzählte, ein wenig später tat das auch der Dirigent und Mitbegründer des Schallfeld Ensemble Leonhard Garms.

Am Abend teilen sich das renommierte Arditti Quartet sowie das noch junge Black Page Orchestra den Mozart-Saal im Konzerthaus. Zum einen sind Werke von Ruth Crawford Seeger, Clara Iannotta, Younghi Pagh Paan und Klaus Lang zu hören, im zweiten Fall Uraufführungen von Sarah Nemtsov und Jorge Sánchez Chiong, des weiteren Neues von Matthias Kranebitter und der Erste Bank Kompositionspreisträgerin Mirela Ivičević.

Am Sonntag, den 3.11., spielt um 16 Uhr das Ensemble die reihe sein Abschiedskonzert. Zuvor gibt es einen Rückblick auf die Geschichte des Ensembles in einem Gespräch mit Gertraud und Friedrich Cerha, HK Gruber und Kurt Schwertsik. Das Konzert selbst – geleitet von Christian Muthspiel und HK Gruber – bringt zum einen Werke von Edgar Varèse, Kurt Weill und Anton Webern, die das Ensemble in Wien ab seiner Gründung 1958 erstmals in Wien wieder gespielt hat, zum anderen ziemlich Neues aus 1998/2019 und 2009 von den Komponisten Kurt Schwertsik („4 Kinder-Toten-Lieder“ für Bläser und Schlagzeug nach Texten von Konrad Bayer) und Friedrich Cerha („Bruchstück, geträumt“ für Ensemble).

Hier sollte ein Bild vom Ensemble Schallfeld (© Wolf Silveri) stehen
Ensemble Schallfeld © Wolf Silveri

Am Abend um 19.30 Uhr debütiert in Wien das in Graz 2013 begründete Schallfeld Ensemble – die MusikerInnen stammen aus acht verschiedenen Ländern, die Konstituierung erfolgte vor allem auch im Zusammenhang mit der Tätigkeit des „Professors“ Klangforum Wien. Geboten werden Werke internationaler Komponistinnen: Cathy van Eck (Belgien, Niederlande, Schweiz), Sylvain Marty (Fankreich), Lorenzo Troiani (Italien), Diana Soh (Singapur). Die Uraufführung (Kompositionsauftrag von Schallfeld Ensemble und Wien Modern) kommt vom Südtiroler Hannes Kerschbaumer (Erste Bank Preisträger 2017).

GIPFELTOUR MIT UMFANGREICHEN WERKEN, 6.,8., 9., 16., 17.11.

„Opus magnum“ werden große, aufwendige und langdauernde musikalische Werke der Musik häufig genannt, wobei nicht nur überbordend besetzte Orchesterwerke (oft zusätzlich mit Solisten und großem Chor) zu diesen zählen, sondern auch solistische Besetzungen. So bilden zwei umfangreiche Werkzyklen des in Sevilla geborenen spanischen Komponisten Alberto Posadas zwei herausragende Stationen bei Wien Modern. Im Schubert-Saal des Konzerthauses wird am 6.11. der Pianist Florian Hölscher „Erinnerungsspuren“ spielen, einen Zyklus von sechs Solostücken für Klavier von Posadas in Kombination mit Referenzstücken der Geschichte der Klaviermusik von Bach/Busoni, Couperin, Debussy, Schumann, Scelsi und Stockhausen. Im abendfüllenden „Poética del espacio“-Zyklus erforscht Posadas am 8.11. den Raum des Großen Saals im Konzerthaus als durch Musikinstrumente erschlossenes poetisches Wesen. Im Zentrum seiner „Poetik des Raumes“ (in Anlehnung an das gleichnamige Buch des französischen Philosophen Gaston Bachelard) steht die Frage, was im Raum geschieht, wenn wir Musik hören, den Raum gemeinsam mit dem Klang bewohnen. Posadas verfolgt ein Konzept der „Mikro-Instrumentation“, welches das musikalische Material auf der Mikroebene der Instrumentenakustik zu gewinnen sucht. Die Bewegungen der Ensemblemitglieder des Klangforums Wien machen den Raum als poetisches Wesen erkennbar, das durch die Musik erschlossen wird. Sylvain Cambreling erläuterte beim Pressegespräch über Video seine Eindrücke über die Probenarbeit mit dem Ensemble.

Eine künstlerische Grenzerfahrung bietet die Gesamt-Uraufführung der Kammermusik-Trilogie „sew me into a shroud of leaves“ des US-amerikanischen Komponisten Michael Hersch. Im barocken Prunksaal der Österreichischen Nationalbibliothek erklingt am 9.11. von 5 Uhr früh bis 20 Uhr das elf (mit Pausen fünfzehn) Stunden dauernde hochexpressive Werk in drei Abteilungen für Klavier bzw. Horn und Violoncello. Besucher können kommen und gehen, wann sie wollen, und auch essen und trinken (warme Kleidung wird empfohlen, es gibt auch Decken).

Podiumsgast Christoph Becher pries als Orchesterintendant des RSO Wien das Vorhaben, am 16.11. im Musikverein beim Claudio Abbado Konzert mit dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien und der Solistin Anna Clare Hauf (Mezzosopran) „Sinfonie X“ von Dieter Schnebel in beiden Teilen zur Aufführung zu bringen: „Die komplette Fassung vom ersten und zweiten Teil, die über zwei Stunden dauert, wurde nach der Uraufführung 1992 nicht mehr gespielt. Schnebels Sinfonie X – der Titel kann auch ‚Zehnte Symphonie‘ bedeuten, jenes Werk also, das Beethoven, Bruckner und Mahler versucht haben – meint die ganze Welt, die zerbrechlich und schutzbedürftig ist wie in Mahlers Symphonien, die ‚eine Welt aufbauen‘. Sie ist geradezu vegetativ von Alltag überwuchert. Vor und nach der Konzertaufführung, in den Foyers und Gängen, auch in der Pause ertönen Klänge des Verkehrs, der Kultur und der Natur.

Ein weiterer Podiumsgast war die kürzlich zur Wahlwienerin gewordene Komponistin Lera Auerbach, die sich als Auftakt ihrer Präsenz in der Stadt in der Minoritenkirche am 17.11. mit einem „Opus magnum“ zweier Chorwerke mit Saxofon- und mit Streichquartett vorstellt. Die 1973 in Tscheljabinsk im Ural geborene Komponistin, Pianistin, Schriftstellerin und Dirigentin vereinigt in „Demons + Angels“ zwei monumentale Chorzyklen: Der zuerst entstandene Zyklus für Chor und das Raschèr Saxophone Quartet („72 Angels. In splendore lucis“) basiert auf Meditationen über die 72 hebräischen Namen der Engel. Das Gegenstück („Goetia.72. In umbra lucis“) bilden die Namen der 72 Dämonen, König Salomon zugeschrieben und in einem Grimoire (Zauberbuch) des 17. Jahrhunderts entdeckt. Da die Dämonen dieses geheimen Zauberbuchs für die Komponistin all das verkörpern, „was uns verführt“, hüllte sie sie in noch viel schönere Klänge als die Engel – dafür wurde für diese Aufführung das Pariser Quatuor Diotima engagiert. Das Vocalforum Graz und die Cracow Singers bewältigen dieses intensive Unterfangen in doppelter Spielfilmlänge – nichts Geringeres als ein Spiegelkabinett zwischen Paradies und Unterwelt in insgesamt 144 Abteilungen.

INGRID SCHMOLINER TRIFFT AUF FREDERIC RZEWSKI

Ingrid Schmoliner (c) Thomas Plattner

Eine Erforscherin des Klaviers und seiner Innen- und Außenräume, die das Instrument klanglich in die Nähe von Glockenspiel, Gamelan, Xylophon und Schlagwerk rückt – mit unzähligen Holzstäben, Metallen und Plastik – ist die an der MUK unterrichtende Pianistin und Komponistin Ingrid Schmoliner, die als weitere Teilnehmerin des Pressegesprächs Bernhard Günther und dem Publikum Rede und Antwort stand. Sie wird in einem Gesprächskonzert an der MUK (Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien) gegen Ende des heurigen Festivals am 26.11. ihre Werke erläutern und am präparierten Klavier spielen sowie dann im Konzerthaus am 29.11. mit ihrem transzendierenden, minimalistischen Klangzauber ein starkes Lebenszeichen der freien Musikszene in Wien setzen (das dort uraufgeführte Stück MNEEM basiert auf Reihen von Obertonklängen, die teils auch analog eingespielt wurden, erklärte Schmoliner). Sie wird den vierzig Jahre älteren Amerikaner Frederic Rzewksi am Klavier ablösen, also wiederum ein Generationenvergleich. Das von Sergio Ortega komponierte Lied „El pueblo unido jamás será vencido!“ wurde 1973 in Chile zum Symbol des Widerstands gegen die Militärdiktatur. Frederic Rzewski setzte zum 200. Jahrestag der USA mit dem aus 36 Variationen bestehenden Monumentalwerk „The People United“ ein Mahnmal gegen den blutigen Sturz der Allende-Regierung und gegen die Auswüchse des Kapitalismus. Der 81-jährige Komponist wird es selbst spielen.

WEITERE VORSCHAU

Peter Ablinger (c) Siegrid Ablinger

Dieser Ausblick kann nur ein paar Höhepunkte von Wien Modern 2019 beleuchten, bereits das sprengt fast den Rahmen eines noch lesbaren Artikels. Auch Bernhard Günther konnte bei der Pressekonferenz nur mehr kursorisch weitere „Highlights“ auflisten, so das Abschlusskonzert der Wiener Symphoniker am 30.11.mit Musik von Mark Andre mit Jörg Widmann als Klarinettensolist, einem „maximalistischen“ Orgelkonzert von Peter Eötvös und Peter Ablingers „sprechendem“ Orchester („Wachstum. Massenmord“). Weitere Stationen sind etwa Bernhard Langs „Der Reigen“ (nach Arthur Schnitzler) mit der Neuen Oper Wien im Museumsquartier (ab 12. November), „Danza Permanente“ von DD Dorvilier mit Harfenistin Zeena Parkins im Tanzquartier (21.11.), choreografierte Museumsauftritte der Company of Music mit 12 SängerInnen im Kunshistorischen Museum (23.11.), weitere Komposition/Tanzperformances („@solo.tänze. Clemens Gadenstätter + Rose Breuss“ im Studio Molière am 23.11., „Land of the Flats“, Choreografische Komposition von Jorge Sánchez-Chiong und der Choreografie von Brigitte Wilfing im Reaktor am 24., 25.11.). Für Wien Modern muss man sich also viel Zeit nehmen!

Heinz Rögl

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