Von LIO zu STIO

Seit Anfang 2012 ist die Grazer Musikszene um eine wahre Attraktion reicher. Mit der Gründung des Styrian Improvisers Orchestra durch Mitglieder des Vereins V:NM folgt man nun auch in der Murmetropole dem alten Traum jeder anständigen Improvisationsszene. Mit den beiden Initiatoren und Organisatoren Seppo Gründler (Gitarre) und Annette Giesriegl (Stimme) sprach Otmar Klammer über die ersten Erfahrungen mit dem Konzept der permanent wechselnden Dirigenten und der allgemeinen Marschrichtung.

Ideenspender für das Styrian Improvisers Orchestra (STIO) war das berüchtigte London Improvisers Orchestra (LIO), das seinerseits wiederum einer Idee von Butch Morris folgte. Nun ist Graz nicht London und kann wohl auch nicht aus einem so großen Fundus an Improvisationsmusikern schöpfen. Was ermutigte Euch dennoch zur Gründung des STIO?

Seppo Gründler: Wie schon bemerkt, stammt die Idee nicht direkt von uns, aber nachdem ich gesehen hatte, wie gut das in London funktioniert, war ich von der Möglichkeit überzeugt. Und meine Erfahrungen aus Los Angeles mit ähnlichen Projekten oder von Pyhrn am Semmering sind die, das das nicht unbedingt mit der Größe der Stadt zusammenhängt. Es ist eher so: je kleiner die Stadt umso intensiver ist die Szene. Und deshalb sahen wir kein Problem darin und dachten, dass wir das schon zusammenbringen werden. Zum einen gibt´s über den Verein V:NM schon einen gewissen Grundstock an Improvisationsmusikern, und zum anderen hat Annette Giesriegl natürlich seitens des Jazzinstituts an der Kunstuniversität Graz (KUG) viele Kontakte. Somit dachten wir, dass es gut sei, das Orchester einerseits als Format und andererseits auch als Fixpunkt in der Grazer Szene zu etablieren, um sich außerhalb von Festivals mit diesem Thema zu beschäftigen.

Aber die Rekrutierung der Musiker muss doch in einer Stadt wie Graz viel schwieriger sein  als in London, wo auch etwa in Festivalzeiten noch immer genug Musiker in der Stadt sind.

Annette Giesriegl: Naja, wir hoffen auf alle Fälle, dass es funktioniert. Der Verein V:NM hat ja viele Mitglieder aus Graz und vor allem auch aus Wien. Und da das auch eine Initiative dieses Vereins ist, stehen auch all diese Musiker zur Verfügung. Und wer aus Wien kommen kann – und da besteht jetzt auch reges Interesse – , ist auch immer willkommen. Da schaut es recht gut aus im Moment. Und wenn nicht so viele Leute aus Wien kommen können, gibt es hier in der Steiermark immer noch genug improvisierende Musiker, die wir einladen können.

Gründler: Es hat sich auch gezeigt, dass das Orchester auch eine gewisse Schwungmasse entwickelt hat, weil nach dem ersten Mal gleich mehrere Anfragen auch von solchen heimischen Musikern kamen, die nicht zum engeren Kreis von V:NM zählen. Wir haben da auch keine Berührungsängste, so lange sie idiomatisch zu uns passen. Wir sehen diese Aufweichung über den Verein V:NM hinaus auch positiv, weil wieder neue Leute kommen.

Giesriegl:
Wir sehen das auch als Vernetzung und Belebung unserer gesamten Szene hier. Und da gibt es ja auch ein großes Potenzial von Seiten der KUG, da gibt es sehr viele junge improvisierende Musiker, die Interesse bekunden.

Wie wird denn bei einem zu großen Interesse bzw. einer möglichen Anmeldungsflut die Auswahl für ein funktionierendes Orchester getroffen?

Giesriegl: Über eine Doodle-Seite können die Konzerttermine aufgerufen werden und können sich die Leute für das betreffende Konzert eintragen. Prinzipiell gilt das für alle Musiker vom Verein V:NM, aber es gibt auch die Möglichkeit für diese Mitglieder, jemanden vorzuschlagen, der für´s STIO passen würde.
Seppo und ich machen die Organisation und erlauben uns, im Falle einer zu großen Anzahl an Musikern oder eventuell einer zu einseitigen Instrumentierung zu regulieren. Das wäre auch notwendig, wenn es gendermäßig ganz aus dem Rahmen fallen sollte.

Kann dann zu Gunsten des „verpflichtenden“ Genderings nicht auch die Qualität beeinträchtigt werden?

Gründler: Wir gehen da nach dem Grundsatz: bei gleicher Qualifikation für die Frau.

Giesriegl: Wir haben bei den bisherigen Konzerten aber auch schon gesehen, dass sich das bis zu einem gewissen Grad schon von selber reguliert.

Hat man nach den bisherigen Konzerten auch schon Schwachstellen entdeckt, von denen man sich eher trennen sollte?

Gründler: Zwar waren wir bisher noch nicht in dieser Situation, aber wenn es notwendig ist, werden wir das auch tun.

Zurück zum Konzept. Der vor ein paar Tagen (29. Jänner 2013) verstorbene US-Jazzmusiker Butch Morris hat ja das „Prinzip der Konduktion“ bzw. der „Conducted Improvisation“ entwickelt, wo er selbst das jeweilige Orchester mit einem bestimmten Repertoire an Handzeichen steuerte. Das LIO und das STIO unterscheiden sich davon zumindest einmal durch die wechselnden Dirigenten.

Giesriegl: Bei uns hat sich mit den wechselnden Dirigent eine enorme Vielfältigkeit entwickelt.

Gründler: Diese Entwicklung fanden wir sympathisch und macht etwa auch den Unterschied zum Vienna Improvisers Orchestra aus, wo ja eigentlich nur Michael Fischer dirigiert. So etwas war nicht unser Konzept. Das war auch das Interessante beim V:NM-Festival 2011 mit den Londoner Musikern, als wir dieses Modell das erste Mal probiert hatten, also die unterschiedlichen Konzepte, wie man Improvisation über ein Dirigat strukturieren kann. Da haben dann Leute, von denen man das nicht erwartet hatte, Super-Geschichten auf die Beine gestellt. Das waren Musiker, die bis dahin eigentlich dem Genre völlig fremd waren.

Giesriegl: Man könnte das noch viel mehr ausreizen, indem man zum Beispiel eine Ausschreibung macht, mit der man Leute einlädt, für das STIO ein Stück zu machen, eine Form von Conduction oder irgendein Improvisationskonzept zu entwickeln.

Werden den Musikern die jeweiligen Dirigenten des Tages schon vorher bekannt gegeben?

Giesriegl: Ja, wir ersuchen die Leute im Vorfeld, uns bekannt zu geben, wer gerne etwas machen würde. Es gibt aber auch die Möglichkeit der spontanen Entscheidung am Abend. Es muss aber noch genügend Zeit sein, das vor dem Konzert zu proben. Wir haben vor jedem Konzert eine Probenphase, in der jedes Konzept vorgestellt wird.

Gründler: Annette und ich machen dann das Abendprogramm, schauen, dass wir eine Dramaturgie hinein- und zwei Sets zusammenbekommen. Vor allem
überlegen wir, wer wann dirigiert.

Welchen gruppendynamischen Effekt kann die Arbeit mit so einem Improvisationsorchester evozieren? Wann haben die Musiker auf der Bühne mehr Spaß als die Leute im Publikum?

Gründler:
Es ist sicher mit ein Ziel, dass die Musiker an einem Projekt teilnehmen, das ihnen Spaß macht. Wir können ja vorläufig – das muss auch einmal gesagt sein – noch keine Gagen zahlen, weil wir dafür noch nicht das Budget haben. Und daher ist das auch ein wichtiger Bestandteil. Musiker und Publikum müssen auf das Experiment mit einem Klangkörper in dieser Größe mit eingehen. Manchmal haben halt die Musiker mehr Spaß, aber manchmal auch das Publikum.Ich sehe es nicht als gruppentherapeutisch, ich sehe es eher als ein open source-Projekt. Man trägt etwas bei, und es kommt etwas zurück.

Giesriegl:
Wichtig finde ich dabei, dass es nicht kippt. Dass jeder nur auf den künstlerischen Aspekt achtet und nicht einen raushängen lässt. Da besteht bei so einer großen Gruppe eine gewisse Gefahr. Das ist sicher auch noch zu entwickeln. Es geht ja auch um die Feinheit in diesem Orchester.  Da braucht es auch mehr Proben und Zeit. Und auch die Erfahrung der Dirigierenden, denn alle, die ein Konzept einbringen, müssen die Erfahrung machen, was funktioniert und gut raus kommt.

Gründler: Es hat auch in den ersten Konzerten schon eine Entwicklung in diese Richtung gegeben. Es ist auch für die Dirigenten ein Experimentierfeld. Leute wie etwa Katharina Klement, die sich dafür extra etwas Besonderes hat einfallen lassen. Die ist mit Kärtchen gekommen, wo sie sich wirklich ein Konzept fast wie eine Komposition überlegt hat und nicht nur Zeichen für Dynamik und Formensprache gegeben hat.

Und Dirigate wie sie der erwähnte Butch Morris entwickelt hat…..

Giesriegl:
…bei Butch Morris kann man sagen, dass er das Orchester als Erweiterung seiner Improvisationsideen benutzt und dafür ganz genaue Zeichen hatte, die er mit dem Orchester trainierte.

Wenngleich mit einem konkret besetzten Orchester.

Giesriegl: Ich geh bei uns aber schon davon aus, dass das nicht extrem variieren wird, sondern dass sich mehr und mehr ein Kernstock bilden wird, wo Spontangäste jederzeit willkommen sind. Die können dann eventuell speziell eingesetzt werden. Aber jetzt sind wir noch in einer Phase der Rekrutierung im weiteren Umfeld.

Das Experiment fängt aber wohl schon bei der Instrumentierung an.

Giesriegl: Ja, uns geht´s auch darum, dass wir unterschiedliche Besetzung einplanen können. Zum Beispiel kann das an einem Abend ein Schwerpunkt mit Streichern, an einem anderen einer mit Elektronik sein.

Gründler: Wir haben es bis jetzt schon versucht, bei einem Mangel an bestimmten Instrumenten oder bei einer Überbelegung das Ganze locker in eine andere Richtung zu schupfen. Bislang war´s eher so, dass wir schauen mussten, bestimmte Instrumentalisten zu kriegen. Zu viele hatten wir bislang selten von einem Instrument. Drei Gitarristen waren zum Beispiel nicht notwendig, hat aber auch funktioniert. Und für die Zukunft ist natürlich daran gedacht, das Ganze auszuweiten, etwa zu einem Austria Improvisers Orchestra, also mit den Wienern zusammen ein gemischtes Orchester. Oder dass auch wir einmal nach Wien fahren und etwa zusammen mit Michael Fischer etwas vorplanen. Wir haben aber auch schon daran gedacht, in dem Moment, wo Fördergelder eintreffen, auch ausländische Gäste einzuladen. Und so lange der Ryan Air-Flug von London nach Graz nur 100 Euro kostet, ist durchaus auch denkbar, einmal jemanden aus London einzuladen, vor allem zum Dirigieren. Wobei es dann auch angezeigt ist, mehr Probenzeit einzuräumen.

Womit wir beim Geld wären. Gibt es da schon irgendwelche Almosen von irgendeiner Seite?


Giesriegl:
Der Verein V:NM trägt im Moment die Unkosten wie etwa den Reisekostenersatz. Die Ansuchen an die üblichen Stellen laufen, und wir warten auf das Füllhorn. Und Stockwerkjazz stellt uns den Saal zur Verfügung und ist so etwas wie unsere Homebase. Darüberhinaus ist ein regelmäßiges Treffen einmal im Monat auch so für viele Musiker sehr wichtig, weil Anbindungen stattfinden.

Gründler: Wir haben die Konzertreihe ja deshalb an den ersten Montagen im Monat installiert, weil es montags ja immer den Musikerstammtisch im Stockwerk gibt und das eine Gelegenheit ist, diese Geselligkeit mit Musik zu erweitern.

Und von New York bis Graz stehen die legendären Monday Nights zudem ja in einer langen Tradition  im Zeichen der Big Bands und Jazz-Orchester.

Giesriegl: Ja, das gefällt uns auch, das das so zusammenfällt.

Könnte man sich auch vorstellen, Ideen und Anregungen aus dem Publikum aktiv oder passiv miteinzubeziehen?

Giesriegl: Das muss man sich im Einzelnen anhören, aber dazu braucht´s auch eine Kommission, wo wir auch andere zu Rate ziehen wollen. Die London Improvisers machen das genau so, es werden bestimmte Leute vorgeschlagen oder melden sich spontan, und nach dem ersten Mal entscheidet man, ob diese fortan dabei sein sollen oder nicht.

War das STIO diesbezüglich schon gefordert?

Gründler: Das war noch nie notwendig. Wir beraten in jedem Fall einzeln, wenn jemand an uns herantritt. Es soll aber sicher keine Jam Session werden.

Giesriegl:
Es sollen grundsätzlich Leute sein, die der Sprache der freien Improvisation vertraut sind und ihr Instrument möglichst gut beherrschen.

Gründler: Einfach am Montag kommen und mitspielen, geht sicher nicht. Man muss sich bis zu einer bestimmten Deadline anmelden und kriegt dann bei Entsprechung eben eine Zusage.

Wo liegen von der Anzahl und der Besetzung dieses Orchesters die formalen Grenzen, innert der man dieses Konzept schlüssig umsetzen kann?

Giesriegl:
Uns gefällt so der Rahmen zwischen 20 und 25 Musikern ganz gut, wobei 25 wirklich schon so ziemlich die Obergrenze sein soll. Und unter 12 Musikern wäre es dann auch halt kein Orchester mehr.

Ideen für die nächsten Konzerte?

Gründler: Wir wollen das mehr strukturieren, indem wir Leute einladen, die speziell etwas für uns machen. Auf der Hand liegt es auch, mit Leuten, die gerade in der Nähe sind, etwas zu machen. Und wir wollen auch Schwerpunkte mit Instrumentengruppen setzen.  Ein weiterer Plan ist, dass wir unsere Fühler in den Süden ausstrecken, speziell etwa nach Ljubljana, wo wir viele Bekannte in der Szene haben.

Das London Improvisers Orchestra hat mittlerweile auch schon drei CDs eingespielt. Hat man auch für das STIO solche Pläne?

Giesriegl:
Das ist nicht auszuschließen, bis dahin ist aber noch ziemlich ein Weg.

Gründler: Das wäre aber nur im Rahmen eines konkreten Projektes sinnvoll, auf das man mit dem STIO hinprobt. Da könnte ich mir vorstellen, dass man irgendein digital release macht. Dass man unbedingt eine CD macht, da bin ich heute eher skeptisch. Die CD braucht man heute vornehmlich ja nur mehr zum Promoten. Als Dokumentation braucht man sie eigentlich nicht mehr, da ist man auf einer Online-Plattform schon besser aufgehoben. Und das Ganze sollte man auch professionell mitfilmen und auf YouTube stellen.

Wie sieht die vorläufige Bilanz aus?


Gründler:
Wir waren überrascht vom Erfolg. Wir haben eigentlich nur Emails ausgeschickt, jeder wusste, dass es nichts zu verdienen gibt, sondern es nur darum geht, Leute zu treffen und ein Experiment zu wagen. Und die Leute sind gekommen.

 

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