Von „Liebesträumen“ zu „Nachtmusiken“

Zum 75. Geburtstag von Kurt Schwertsik am 25. Juni 2010 – Er hat geschafft, was in Österreich gar nicht so leicht ist: zwischen den einander jahrzehntelang mehr als skeptisch beäugenden „Progressiven“ und den „Konservativen“ zu stehen und nicht als Konsequenz von beiden Seiten ignoriert, sondern von beiden beachtet und – noch mehr als das – geschätzt zu werden. Am 25. Juni feiert Kurt Schwertsik seinen 75. Geburtstag.

Einen Porträtartikel anlässlich des 75. Geburtstages von Kurt Schwertsik zu schreiben ist eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Kennt man ihn nicht, wie will man dann auch nur annähernd der Persönlichkeit gerecht werden. Kennt man ihn, verzweifelt man, ob des vielen, dass man über ihn sagen möchte und dass über ihn gesagt werden müsste, auf das aber im gesteckten Rahmen verzichtet werden muss. Und kennt man ihn gar ziemlich gut, dann weiß man, dass es eigentlich nur über eine 24-Stunden-Reality-Serie „Kurt Schwertsik Live“ wirklich möglich sein könnte, zu erfassen, wer dieser Kurt Schwertsik ist. Alles andere kann nur ein Fragment sein. Das ist unbefriedigend. Für einen Autor. Aber naturgemäß auch für das früher oder später diese Zeilen zu Gesicht bekommende Objekt der Betrachtung. Und das wiederum ist noch viel unbefriedigender für den Autor.

Und wie ist es mit dem Leser? (Im Folgenden bleibe hier ausschließlich die maskuline Variante stellvertretend für die gleichermaßen geschätzte Leserin und das allenfalls sächliche Pendant genannt). Ja, wer ist denn dieser Leser eigentlich? („eigentlich“ ist eines der neueren Lieblingsworte des Kurt Schwertsik, wiewohl er eigentlich weiß, dass es eigentlich oft überflüssig ist – inmitten eines Gesprächs zu welchem Thema auch immer entstehen nicht selten komplexe Dialoge in Form von Zwischenbetrachtungen zu einem soeben gesagten „eigentlich“; unter Eingeweihten genügt auch ein Blickwechsel oder eine Geste: Da war es schon wieder, dieses „eigentlich“!).

Ist der Leser ein eingefleischter Schwertsik-Fan, so wird er kaum schon wieder lesen wollen, was in vielen dutzend Artikeln der letzten Jahrzehnte steht. Er wird das Neueste über Leben und Schaffen des Kurt Schwertsik hören wollen; das er aber als echter Fan ohnedies auch schon wieder längst weiß und vor allem: viel besser weiß, als der Verfasser eines Würdigungsartikels.

Ist der Leser ein neutraler, „sachlicher“ Musikwissenschaftler, so wird er schon von seiner einschlägigen Berufserziehung her die Nase rümpfen (müssen) ob allen Anekdotenreichtums, der dieses ungewöhnlich Leben kennzeichnet – vom von entsprechender Radiomusik inmitten des Weltkriegs begleiteten Marsch des Sechsjährigen mit Säbel um den Tisch (Märsche spielen in seiner Musik bis heute eine markante Rolle!) bis zum Anfang der 1960er-Jahre in Darmstadt von Karlheinz Stockhausen aufs Podium zugeworfenen Zuckerpäckchen mit der Aufschrift: „Beehren Sie uns bald wieder“.

Ist der Leser aber gar schlicht und einfach ein Musikfreund – und einen solchen Leser wünscht sich in der Regel ein Verfasser eines Artikels wie diesem primär –, dann wird er doch Wert legen auf ein paar sachliche Basisinformationen, das Aufzeigen von Zusammenhängen und die Einordnung des Œuvres in einen musikhistorischen Kontext. Denkt man zumindest. Grundsätzlich ist man damit natürlich auf der sicheren Seite. Biographisches lässt sich relativ sachlich abhandeln, und so man die Daten nicht falsch abschreibt auch ohne Unwahrheiten.

Flüchten wir also rasch in die Sachlichkeit und lassen wir dieses Leben einigermaßen sachlich im Zeitraffer Revue passieren: Geboren am 25.Juni 1935 in Wien als Sohn des Schneiderehepaars Violetta und Stephan Schwertsik, erhielt Kurt Schwertsik seine Ausbildung an der Wiener Musikakademie, wo er 1949–57 u. a. bei Joseph Marx, dann bei Karl Schiske Komposition sowie Horn bei Gottfried Freiberg studierte. 1955–62 nahm er in Köln und Darmstadt an Kursen bei Stockhausen, Kagel, Nono, Leibowitz und Cage teil. 1962 erregte er Aufsehen und durchaus auch Unruhe beim Darmstädter Avantgarde-Publikum mit einer Teilaufführung seiner Liebesträume op. 7, in denen er sich tonaler Mittel bedient und auf Liszt sowie Unterhaltungsmusik zurückgreift. – Der zugeworfene Würfelzucker war eine unmittelbare Reaktion. – Weitere Studien führten ihn nach Rom und London, und 1964/65 nahm er auch Privatunterricht (Formanalyse) bei dem einstigen Schönberg-Schüler Josef Polnauer. Mit Unterbrechungen wirkte er von 1955–89 als Orchestermusiker – bekanntlich die beste aller möglichen Schulen für Komponisten –, zunächst als Hornist beim Niederösterreichischen Tonkünstlerorchester, ab 1968 bei den Wiener Symphonikern. Bald begann er auch eigene Lehrtätigkeit zu entfalten: 1966 als Gastprofessor für Komposition und Analyse an der University of California in Riverside, 1979 wurde er Kompositionslehrer am Konservatorium der Stadt Wien, 1988 dann Gastprofessor und 1989–2003 ordentlicher Professor für Komposition an der Wiener Musikhochschule. Gelegentliche kurzzeitige Rückfälle, wie im vergangenen Winter nicht ausgeschlossen.

Auch organisatorisch beteiligte sich Schwertsik rege am Wiener Musikleben. 1958 gründete er mit Friedrich Cerha das Ensemble „die reihe“; kein schlechtes Gespür, wenn man bedenkt, dass diese Formation auch nach einem halben Jahrhundert ungebrochen aktiv ist. 1965 begann er mit Otto M. Zykan „Salonkonzerte“ zu veranstalten, und 1968 gründete er mit Zykan und Heinz Karl Gruber das Ensemble ,,MOB art & tone ART“.

Schwertsik ist sicher einer der „präsentesten“ Komponisten im österreichischen Musikleben. Dass er es geschafft hat, auch außerhalb einschlägiger Festivals in „Sandwichprogrammen“ diverser Abo-Konzerte vertreten zu sein, ist nichts womit heutige Musikschöpfer selbstverständlich rechnen können.  Noch bemerkenswerter erscheint, dass seine Werke auch im Ausland Anklang finden – und vor allem immer wieder gespielt werden. Insbesondere in Deutschland und in Großbritannien finden immer wieder ausführliche Werkpräsentationen statt, Premieren seiner Bühnenwerke und nicht zuletzt CD-Produktionen.

Vielleicht, ja, wahrscheinlich ist es die gezielte Auseinandersetzung gleichermaßen mit der musikalischen Tradition und den verschiedensten Strömungen des 20. Jahrhunderts und der unmittelbaren Gegenwart, die Schwertsiks Musik immer etwas Aktuelles und doch auch Vertrautes verleiht. – Ein grober Überblick:

In seinen Anfängen noch an den Tendenzen der musikalischen Avantgarde der späten 1950er-Jahre orientiert, was auch als Protesthaltung gegen die damals dominierenden konservativen Kräfte in der zeitgenössischen österreichischen Musik gelten kann, wandte sich Schwertsik bald einer tonalen, auch für breitere Hörerschichten verständlichen Tonsprache zu. Zu den ersten derartigen Stücken gehören die genannten Liebesträume für sieben Spieler op.7 (1962/63)und die Fünf Nocturnes für Klavier op. 10 b bzw. für Violoncello und Klavier op. 10c, die aus dem Melodram nach Friedrich Achleitner hervor gingen. Für das Ensemble ,,MOB art & tone ART“ („MOB art“ symbolisiert den bewussten Verzicht auf den „guten Geschmack“ sowie die Einbeziehung von Populärmusik, „tone ART“ die Hinwendung zur Tonalität) komponierte er u. a. das Lieder-Album Kurt Schwertsiks lichte Momente op. 21 (nach Texten von H. C. Artmann, Richard Bletschacher und Schwertsik) sowie die Symphonie im MOB-Stil op. 19 (1973), in der er unter dem Einfluss der Musik der Beatles Elemente der Popmusik verarbeitete. Bereits früh interessierte sich Schwertsik für ferne sowie für vergangene Kulturen. Die Musik vom Mutterland Mu op.22 (1970172) ist eine aus der Phantasie geborene „Rekonstruktion der Musik eines vor 25000 Jahrcn untergegangenen Kontinents. Die Twilight Music. Keltische Serenade für Oktett op.30 (1978) hat schottische, irische sowie bretonische Lieder und Tänze zum Modell und Vorbild. Eine Art (auch ökologisches) Bekenntniswerk schließlich ist der Zyklus aus fünf großen Orchesterwerken lrdische Klänge (1980–1992), der in den letzten Jahren immer öfter als Ganzes gesehen wird und auch bereits so auf CD veröffentlicht wurde (eine weitere Produktion ist in Arbeit).

Für das Musiktheater entstanden u. a. Der lange Weg zur großen Mauer op. 24 (Richard Bletschacher, 1974) und die Kinderoper Fanferlieschen Schönefüßchen op. 42 (Karin und Thomas Körner nach Clemens Brentano, 1981/82), von der auch eine viel gespielte Suite op. 42a existiert. Weitere Bühnenwerke sind das Ballett Walzerträume (Jochen Ulrich, 1976/77), aus dem die drei Suiten Wiener Chronik 1848 op. 28 hervor gingen, der auch als selbständiges Orchesterstück gültige, als Abschluss eines Schubert-Balletts konzipierte Epilog zu Rosamunde op. 33 (1978), mehrere Tanztheaterstücke zu Choreographien von Johann Kresnik, Musik zu Schauspielen von Goethe und Hermanovsky-Orlando, dic Kammeroper Café Museum oder Die Erleuchtung (Wolfgang Bauer, 1993) und die Operette Der ewige Frieden (Thomas Körner, 1990). Ein Wurf gelang Schwertsik zuletzt auch mit Kafka Amerika (2008/09), jenem abendfüllenden Ballett mit Gesang, das im Oktober am Linzer Landestheater Premiere hatte – und wie so manches andere von ihm noch nicht in Wien zu erleben war.

Wien. Mehr als die Geburtsstadt. Heimat. Kaum ein Wiener Komponist ist so sehr Wiener wie er. Seiner Herkunft huldigt er in zahlreichen Dialektliedern, u. a. den Zyklen Da Uhu schaud me  so draurech au op. 20 (Artmann, 1969) und lba di gaunz oaman Fraun op. 49 (Christine Nöstlinger, 1983). Immer wieder unvergleichlich geboten (und glücklicherweise auch eingespielt!) von Christa und Kurt Schwertsik: Seit fast vier Jahrzehnten in zweiter Ehe miteinander verheiratet und mit insgesamt fünf – hier drei, hier zwei – Töchtern und lebhafter Enkelschar gesegnet, ist auch von daher garantiert, dass für den elfenbeinernen Künstlerturm keine Zeit bleibt.

Großes aus der letzten Zeit: Nachtmusiken. Ein Orchesterwerk in suitenhafter Anlage von Mahlerscher Intensität – nicht nur, aber besonders berührend als memoriam für den im Vorjahr aus dem Leben geschiedenen (Verleger)Freund David Drew. Auch um die Österreichische Erstaufführung dieses Werks, das im Februar in Manchester aus der Taufe gehoben wurde, sollten Wiener Orchester streiten. Und um das Flötenkonzert, das ein Auftrag aus Liverpool ist und allmählich in Penzing Form gewinnt. Vor allem aber muss man auch kein Kind sein, um ungeduldig „Eisprinzessin“ zu harren, die im April 2011 eine Reise nach Mannheim sehr empfehlenswert erscheinen lässt (auch diesbezüglich weiß Wien noch nicht, dass diese Kinderoper wohl auch hier gefiele).

Bleibt der unbescheidene, aber nachdrückliche Wunsch des Verfassers an den Jubilar: Gesundheit und reger Schaffensrausch! – Happy birthday, Kurt Schwertsik!
Christian Heindl
Kurt Schwertsik © Axel Zeininger/Boosey & Hawkes

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