„Tschuschistan ist überall, wo die Diaspora zu Hause ist“ – ESRAP im mica-Interview

Nach einer gefühlten Ewigkeit, unzähligen Auftritten, mehreren Mixtapes und digitalen Veröffentlichungen erscheint am 28. Juni das Debütalbum „Tschuschistan“ (Springstoff) von ESRAP. Die Geschwister ESRA und ENES ÖZMEN brechen als Duo nicht nur mit Geschlechterstereotypen, weil sie rappt und er singt. Sie entwerfen gleichzeitig auch Real-Utopien wie Tschuschistan, einem Ort an dem alle willkommen sind. Das Release-Konzert fand am Ottakringer Yppenplatz statt und offenbarte dabei ein Tschuschistan, das auf gelebte Erfahrung baut und diese zelebriert. Wie es dazu gekommen ist, erklärten die beiden Bianca Ludewig in einem Gespräch.

Auf dem Song „Kabadayi“ behauptet ihr ja, die Tage in Wien würden besser. Deshalb die Frage: Wie kann Wien besser werden oder warum sollte Wien besser werden?

Esra Özmen: Ich habe ja Kunst studiert und ich glaube, dass Kunst die Welt schöner und besser macht. Mit Kunst meine ich nicht Bilder, die man ausstellt, sondern das gemeinsame Arbeiten. Und dass man seine Identität ausleben kann, ohne dass man Druck vom Staat oder von einem Norm- und Wertesystem spürt, wie man zu sein hat. Wenn man Support bekommt, dann sind Menschen schöner, selbstbewusster, glücklicher und besser im Miteinander. Dazu gehören soziale Arbeit und Nachbarschaftsarbeit sowie dezentrale Kunst- und Kulturarbeit. Diese sorgen in Wien dafür, dass Menschen verschiedener Nationen unter diesen Vorzeichen zusammenkommen. Das macht Wien zu etwas Besserem. Es klingt nach einer Utopie, aber ich merke durch die Workshops, die ich gebe, dass es funktioniert. Dort ist Rap dann das, was alle verbindet. Dann funktioniert die Welt auch, wie sie sein sollte.

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Esra, wie war das Studium an der Akademie der Bildenden Künste für dich? Welche Erfahrungen hast du dort gemacht?

Esra Özmen: Es war Hardcore. Ich bin mit zwanzig Jahren an die Akademie gekommen, mit dem Bewusstsein, dass alle gleich sind und man niemals einen Menschen diskriminiert. Dann war alles extrem politisch, alles wurde tot kritisiert. Das war mir alles sehr fremd, auch die Bilder, die produziert und gezeigt wurden – viele nackte Körper … Debatten über Integration – ich habe jahrelang gedacht, Integration sei etwas Positives, weil mir das so vermittelt wurde von außen. An der Akademie gab es dann die Vorlesung „Integriert uns am Arsch“ und da habe ich gemerkt, dass es sehr viel mit Hegemonie zu tun hat.

„Esra ist ein Arbeiterkind.“

Hast du dich als Teil dieser Künstlergemeinschaft gefühlt?

Esra Özmen: Nein. Ich war eine von den wenigen Türkinnen dort und habe Rap gemacht. Auch die Sprache, die dort gesprochen wurde war schwierig für mich.

Enes Özmen: Künstlerinnen und Künstler kommen aus privilegierten Familien, auch wenn sie dieses Privileg oft nicht haben wollen. Und Esra ist ein Arbeiterkind.

Esra Özmen: Ich habe zwei Jahre gebraucht, bis ich verstanden habe, was ich studiere. Es war wie ein verrücktes Dorf für mich. Die Performances, die ich gesehen habe, das war für mich keine Kunst, das war nur verrückt. Aber ich bin sehr dankbar, dass ich Kunst studiert habe. Mein Rap ist jetzt ganz anders, und ich bin viel selbstbewusster geworden. Wissen ist sehr wichtig!

Was war deine Abschlussarbeit?

Esra Özmen: Ich habe eine halbe Stunde gerappt. Es war angeblich das erste Rap-Diplom.

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Relevant zu betonen ist vielleicht auch, dass die Akademie ein wichtiges Netzwerk ist, um Kontakte zu knüpfen. Erst dadurch bekommt man die Möglichkeit auszustellen oder an Veranstaltungen teilzunehmen. Ihr konntet zweimal bei den Wiener Festwochen auftreten. Welche Erfahrungen habt ihr dort gesammelt?

Enes Özmen: Als Esra mir sagte, dass wir bei den Wiener Festwochen auftreten werden, habe ich mir gar nichts gedacht. Wir hatten 2017 bei dem Projekt – „Hammamness“ in den Gösserhallen – mitgewirkt, und ich dachte, es würden maximal 200 Leute dort sein. Wir haben kein österreichisches Fernsehen zuhause gehabt und keine österreichischen Freunde, sondern nur türkische Freundinnen und Freunde. Also was hier Allgemeinwissen ist, all das kannte ich nicht. Auch die Acts die dort aufgetreten sind kannte ich nicht, nur Voodoo Jürgens, vom Namen. Esra sagte dann, es sei am Rathausplatz, und ich dachte, es werde wohl irgendwo drinnen sein. Aber als ich dann die Bühne gesehen habe … Das war dann eine sehr schöne Erfahrung!

Esra Özmen:  Im ersten Jahr wurden wir von Mira Lu Kovacs eingeladen, sie sollte das Lied „Die  Arbeiter von Wien“ performen und sie hat sich gedacht, ich bin nicht aus der Arbeiterklasse, da muss Esrap mit dabei sein. Für uns als politischer Act ist es schön, wenn auch mal die breite Masse unsere Musik hört, es wird ja auch im Fernsehen übertragen. Aber ja, die Wiener Festwochen habe ich bis vor zwei Jahren auch nicht gekannt.

„Die Leute brauchen Berührungspunkte.“

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Hier im 16. und 17. Bezirk hängen ja viele Plakate von türkischen Stars, die auftreten. Wie wäre es denn, wenn die Wiener Festwochen mal solche Acts einladen würden?

Esra Özmen: Ich bin auch bei der WIENWOCHE und der IG Kultur im Vorstand und die WIENWOCHE ist ja auch ein politisches Festival und es ist immer die Frage, wie es gelingt, möglichst viele Communities miteinzubeziehen. Die Leute brauchen Berührungspunkte. Man muss auch etwas dafür tun, wenn man möchte, dass diese Communities kommen. Man muss diese Leute gezielt einladen. Wir machen das mit unserer Hip-Hop-Reihe „Gürtel Squad“. Aber es geht da auch um Klassen. Ein Türke, der auf die Uni geht und sich für Kunst interessiert, geht auch zu den Wiener Festwochen, ein Türke aus der Arbeiterklasse nicht.

Warum kennt die türkische Diaspora in Wien das Donauinselfest, aber nicht das Pop-Fest oder die Wiener Festwochen?

Enes Özmen: Die Mehrheit der türkischen Bevölkerung in Österreich kommt aus Anatolien. Die waren Bauern und Arbeiter und hatten mit Kunst nichts zu tun. Beim Donauinselfest treten berühmte Leute auf, wie Tarkan oder Sido und es kostet keinen Eintritt.

Esra Özmen: In der Kunst fehlt die Vielfalt. Wir kennen sehr viele unterschiedliche Communities und Türken und Türkinnen gehen nicht zu den Wiener Festwochen. Wir wachsen mit Arabeske auf. Donauinselfest ist nicht akademisch und auch nicht Hipster. Es ist nicht migrantisch, sondern es ist alles. Das Pop-Fest ist nicht alles, die Festwochen sind auch nicht alles, auch wenn sie so tun. Das sollte man auch zugeben, es spricht vielmehr in eine bestimmte Richtung.

„Früher hat man in Wien die Türken Kanaken und die Ex-Jugoslawen Tschuschen genannt.“

Bevor wir über Tschuschistan reden – was ist ein Tschusch?

Esra Özmen: Früher hat man die Türken in Wien „Kanaken“ und die Ex-Jugoslawen „Tschuschen“ genannt. Dann sind viele Araber und weitere migrantische Gruppen dazugekommen. Da hat man dann nicht mehr für jede Gruppe ein Wort gesucht, sondern alle „Tschuschen“ genannt. Das Wort wird meistens von Österreicherinnen und Österreichern als Beleidigung verwendet. Aber auch die Migrantinnen und Migranten verwenden es untereinander, eher ironisch, als kumpelhafte Anrede.

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Und wo ist Tschuschistan? Ist das für euch Ottakring oder überall dort, wo die Diaspora zu Hause ist?

Esra Özmen: Ja, überall, wo die Diaspora zu Hause ist. Wenn ich in der Türkei bin, dann fehlt mir das Tschusch sein. Es hat ja auch seine guten Seiten, z.B. das BMW fahren. Jeder Tschusch weiß, dass man seine Runden dreht, wenn man sich ein Auto gekauft hat oder wenn der Sommer kommt und man auf dem Yppenplatz Tee trinkt, dann sind das Lebensarten, die sich hier entwickelt haben. In der Türkei fehlt das. D.h. es ist ein Ort, wo wir uns wohlfühlen und es ist auch eine Art Utopie …

Enes Özmen: Ich glaube in Deutschland gibt es mehr Tschuschistan-Gebiete als in Österreich. Deutsche migrantische Rapper lieben Deutschland. Es heißt da immer „mein Berlin“, „meine Hood“ usw. Ich glaube, die fühlen sich auch wohl. Aber heute ist mir wieder aufgefallen, dass ich mich oft gar nicht wohlfühle in Wien, was sehr schade ist, denn ich wurde hier geboren und bin hier aufgewachsen. Ich sollte mich doch in Wien zu Hause fühlen  Aber in der Türkei fühle ich mich auch nicht zu Hause. Deshalb will ich ein Tschuschistan haben! In dieser Stadt gibt es nur eine einzige Moschee mit Minaretten, der Rest sind hässliche Erdgeschoss-Geschäftsräume. Die Polizei lauert an Bayram nur darauf, beim Morgengebet, wenn alle zur Moschee fahren, Strafzettel verteilen zu können.

Lasst uns konkret über das Album sprechen. Wie habt ihr angefangen Musik zu machen? Könnt ihr das Jahrzehnt von euren Anfängen bis zum Debut-Album kurz skizzieren?

Esra Özmen: Ich habe 2008 im Jungendzentrum im 20.Bezirk angefangen und dort die erste Aufnahme mit einem Jugendbetreuer gemacht. Dann hatten wir auch bald unseren ersten Auftritt, so ging es dann weiter und 2011 gab es dann einen Auftritt beim Donauinselfest und auch einen Award.

Enes ÖzmenZunächst hat Esra im Jugendzentrum über melancholische Beats Texte gelesen, die sie zu Hause geschrieben hatte. Chico, ein Hip Hopper, der vor zwei Jahren verstorben ist, sagte dann das wäre kein Rap, aber er könnte ihr zeigen, wie es geht. Und sie hat bei Rap-Workshops mitgemacht. Dadurch hat es sich entwickelt und wir haben unsere ersten Auftritte im Jugendzentrum bekommen: Sommerfest, Winterfest, Parkfest uä. Nachdem Esra mit dem Kunststudium angefangen hat, gab es mehr Möglichkeiten durch das künstlerische und feministische Umfeld – mehr Connections und dadurch mehr Anfragen für Auftritte.

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Es gibt ja einige Hits auf dem Album, einer ist „Da Boss“ mit der Metal-Balkanbeats-Band Gasmac Gilmore. Wie kam es zu der Zusammenarbeit? Euer Release-Konzert hat ja am Yppenplatz stattgefunden und die zweite Hälfte des Konzerts wurde von der Band begleitet. Beim ersten Hören des Tracks war ich etwas unsicher, ob es mir gefällt, aber live ist es total aufgegangen und hat viel Sinn gemacht.

Esra Özmen: Sie sind auf uns zugekommen und wollten gemeinsam etwas machen, weil sie gedacht haben, das würde passen und ihnen selbst eine neue Perspektive geben. Wir waren selber unsicher wie es laufen würde, weil wir bisher nur wenig mit klassischen Bands zusammengearbeitet haben und eigentlich mit Rockmusik wenig zu tun haben. „Da Boss“ war dann ein Versuch. Auf der Bühne hat es jetzt aber so gut geklappt, dass wir selber überrascht waren. Da wird auf jeden Fall noch etwas kommen!

Kid Pex ist auf „Kids of Diaspora“ euer einziges Rap-Feature. Warum gerade er? Was verbindet euch musikalisch?

Esra Özmen: Uns verbindet eine sehr lange Geschichte. Wir haben uns vor 14 Jahren kennengelernt, auch durch ein politisches Umfeld. Für uns war es total wichtig, dass er dabei ist, auch in seiner Vorbildfunktion für Jugendliche. Er ist ein Bruder!

Enes Özmen:  Er war der einzige Rapper, der uns unterstützt hat und wir teilen auch den Migrations-Background. Er macht politischen Rap wie wir – deshalb ist Kid Pex für uns die richtige Adresse!

Auf „Dunya Ve Alem“ und „Gecelere Bak“ sind Rap und Gesang  ausschließlich auf Türkisch- was war eure Motivation Stücke gänzlich in Türkisch zu halten? Möchtet ihr auch die Türkei oder die internationale türkische Diaspora erreichen?

Esra Özmen: Ich habe 2008 zu rappen begonnen. Schon damals war uns klar, dass unsere Musik zweisprachig sein soll. Denn wir wollten, dass uns Türken und Türkinnen verstehen, aber auch Österreicherinnen und Österreicher. Auf diesem Album war es mir wichtig, dass es zumindest einen Track gibt, der nur auf türkisch ist, um die türkische Diaspora zu erreichen. Aber auch, weil es sehr emotionale Lieder sind und ich das auf türkisch besser ausdrücken kann.

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Worum geht es in „Dunya Ve Alem“? Beats und Vocals ergänzen sich gut, ebenso bei „Para Queen“ – wer hat die Beats gemacht? Und wie kann man sich den Entstehungsprozess von Beat und Track vorstellen?

Esra Özmen: Der Titel bedeutet „Welt und All“, da geht es um Themen, die sehr stark von Arabeske beeinflusst sind: um Leid, um Sorgen und Probleme. Die Beats hat Freshmaker gemacht. Wir kommen mit einem Saz-Spieler oder Klarinettisten und einer Melodie. Er schickt uns dann einen Beat und wir bauen die Texte darauf auf.

„Meine Welt“ aka „Enkel der Gastarbeiter“ ist einerseits ein klassischer Conscious-Rap-Track und doch ist er irgendwie ungewöhnlich. Der Chorus dominiert und es gibt keine klassische Hook. Der letzte Part ist nur noch instrumental. Warum ist das Arrangement hier so ungewöhnlich?

Esra Özmen: Wir haben dafür das erste Mal in der Türkei mit türkischen Instrumenten aufgenommen. Die Aufnahmen haben wir dann zwar doch nicht verwendet, aber wir hatten die Samples und haben sie jetzt für diese Version wiederverwendet. Das Lied ist ungewöhnlich, weil der Ursprung ein sehr arabesker ist und wir zwischen Rap und Arabeske eine Verbindung schaffen wollten und etwas Ungewöhnliches ausprobieren.

„Alle von uns waren traurig mit 16. Die Welt war ein Horror und man hat sich Arabeske reingezogen.“

ESRAP (c) Daniel Shaked

Ich habe noch nicht ganz verstanden, wie das mit den Beats bei euch funktioniert. Produziert ihr die selber?

Esra Özmen: Die Melodien kommen von Enes, die geben wir dann an die Beatmaker. Wir arbeiten da mit ein paar Leuten zusammen… Auf dem Album waren das Freshmaker und Testa von „Duzz Down San“ und Uwe Felchle.

Für das Album die richtigen Beats zu finden war richtig schwierig. Wenn du zu einem Beatmaker gehst, dann macht der seit 20 Jahren nur Hip-Hop-Beats, aber wir sind nicht nur Hip-Hop und haben andere Patterns jenseits des Standards. Die Beatmaker finden es hart mit uns, weil wir Extrawünsche haben. Andere können wiederum keine Melodien spielen. Diese Arabeske-Einflüssesind im Rap bisher noch ungewohnt. Arabeske wird vor allem von pubertierenden Jugendlichen gehört. Alle von uns waren traurig mit 16. Die Welt war ein Horror und man hat sich Arabeske reingezogen.. Das war unsere Jugendmusik. Wir haben die Trauer gefeiert. Stundenlang haben wir an der Donau gesessen und uns übers Handy Arabeske angehört und gelitten. Und das machen die Jugendlichen immer noch. Diesen wichtigen Teil unserer Entwicklung wollen wir auch mit unserer Musik repräsentieren.

Wie sind eure Erfahrungen mit der österreichischen Polizei?

Esra Özmen: Ich habe eine Strafe von 350 Euro bekommen, weil ich am frühen Abend am Yppenplatz im Auto mit geschlossenem Fenster angeblich sehr laut Musik gehört habe, dabei habe ich noch nicht Mal gute Boxen … Es ist ja auch eine Ermessenssache, wie man die Gesetze auslegt bzw. umsetzt. Das wird hier schamlos ausgenutzt.

Enes Özmen: Ja, es ist arg. Es herrscht die Bürokratie und die Polizei hat unfassbare Spielräume. Es gibt auch kaum Türkinnen und Türken bei der Wiener Polizei.

„Rap entsteht im Gemeindebau, im 10. Bezirk, im 12. Bezirk, im 16. Bezirk, im 20. Bezirk und in den Außenbezirken, weil die Mieten niedrig sind.“

Esrap live am Yppenplatz (c) Bianca Ludewig

Inwiefern hat sich Ottakring verändert in den letzten Jahren oder Jahrzehnten? Was bedeutet Ottakring  für euch?

Esra Özmen: Ottakring bedeutet erstmal, zu Hause zu sein. Ich kenne alle Straßen und Gassen, ich kenne die Leute und die Codes. Im Café International, wo viele an ihren Uniaufgaben sitzen, sind es andere als auf dem Platz, der migrantisch geprägt ist. Ich kenne beide Seiten. Tischtennis ist aber z.B. etwas, das beide Gruppen verbindet. Dafür muss man nicht die gleiche Sprache sprechen, da kann ein Syrer mit einem Hipster Tischtennis spielen und es funktioniert. Ottakring ist bunt und für mich auch noch authentisch und ehrlich. Ansonsten ist die Gentrifizierung nach Ottakring gekommen. Damals war die Ottakringer Straße die „Yugo-Straße“ und der Yppenplatz war „Klein-Istanbul“. Das ist jetzt nicht mehr so. Das hat viel mit Stadtpolitik zu tun.

Enes Özmen: Aber das ist nicht nur negativ. Es ist auch schöner geworden.

Esra Özmen: Ja, es ist schöner geworden, aber auch teuer. Das trifft vor allem die Arbeiterklasse, weil die Mieten teurer geworden sind. Ich wohne am letzten Ende von Ottakring. Ich habe mich in meiner Diplomarbeit auch damit beschäftigt. an welchen Orten Rap entsteht: Rap entsteht im Gemeindebau, im 10. Bezirk, im 12. Bezirk, im 16. Bezirk, im 20. Bezirk und in den Außenbezirken, weil die Mieten dort niedrig sind.

Vermischen sich denn in Wien die verschiedenen Lebenswelten? Wie sieht es mit dem Verhältnis zu den Wienerinnen und Wienern ohne Migrationshintergrund aus? Ist es ein Miteinander oder ein Nebeneinander?

Enes Özmen: Zwischen den Migrantinnen und Migranten ist es ein Miteinander. Ich hatte keine österreichischen Freunde. Erst seitdem wir in der Donnerstagsdemo-Gruppe sind, habe ich ein paar österreichische Freunde. Ansonsten hat sich nie die Gelegenheit geboten. In der Schule gab es vor allem Türkinnen und Türken, aber auch Serbinnen und Serben und Pakistani.

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Wieso ist das so? Der Wunsch sich auszutauschen scheint bei vielen da, aber es übersetzt sich nicht in den Alltag.

Esra Özmen: Die Politik hier ist sehr eigen. Das beginnt bei dem Schulsystem. Die meisten Migrantenkinder gehen nach der Volksschule in die Hauptschule. In der Hauptschule waren wir 99 Prozent Migrantinnen und Migranten. Wir hatten einen Österreicher in der Klasse und nach einem Jahr ist er gegangen, weil er es nicht ausgehalten hat. Dann wohnst du in einem Viertel, wo nur Migrantinnen und Migranten sind. Aber als ich ins Gymnasium gekommen bin, war ich die einzige Migrantin in der Schulklasse. Das hat auch sehr viel mit Klassen zu tun. Der Staat schafft es auch nicht Räume zu schaffen, in denen man sich begegnen könnte.

„Österreich ist anstrengend.“

Was kann Hip-Hop da leisten?

Esra Özmen: Sido, Capital, RAF Camora – so etwas hören wir schon, aber viele gehen nicht zu den Konzerten, weil es ihnen zu sexistisch oder politisch inkorrekt ist. Wir organisieren ja selber Rap-Events und begegnen wir immer wieder anderen Rapperinnen und Rappern. Ich kenne mich in der Wiener Rap-Szene sehr gut aus … Aber vom Hip-Hop abgesehen: Österreich ist anstrengend. Als Migrantin bzw. Migrant hast du es wirklich schwer. Es hat zehn Jahre gedauert, bis das Popfest mich eingeladen hat. Es geht nicht um Neid,aber mir ist aufgefallen, dass weiße Newcomerinnen und Newcomer schon nach einem Jahr dorthin eingeladen werden. Meine Musik ist auch nicht schlechter, warum musste ich also zehn Jahre warten, bis ich eine Bühne und Sichtbarkeit bekommen habe? Wenn ich veranstalte, achte ich auf Diversität und darauf, dass auch Frauen eine Bühne bekommen. Dann heißt es: „Es gibt keine.“ Na ja, dann müssen wir sie ausbilden und Workshops machen!

„Es gibt keine“, ist keine Antwort. Das höre ich in Österreich aber ständig. Sobald mal eine Migrantin bzw. ein Migrant erfolgreich ist, heißt es: „Gut, aber sexistisch“ oder „Gut, aber problematisch“ und so weiter und so fort. Aber ich lass mich nicht für dumm verkaufen. Ich weiß auch, dass ich zu 70 Prozent für die Quote eingeladen werde. Aber mit mir können sie ihr Gewissen nicht reinwaschen. Eine Quote finde ich als Instrument schon wichtig, aber es gibt da ja auch unterschiedliche Herangehensweisen: Man macht es aus Überzeugung oder für das Image.

„Die Menschheit braucht einfach Vielfalt, auch Frauen, die verschieden sind.“

Auf „Da Boss“ rappst du sehr schnell, ich konnte nicht alles verstehen, aber ich habe das Wort „Feminismus“ vernommen. Was sagst du da genau und wie ist eure Haltung zu dem Thema?

Esra Özmen: „Sind Bitches, sind Machos, sind, was wir sind. Ich lebe Feminismus wie ich leben will“. Für viele entspreche ich eher der männlichen Lebensweise. Ich fahre einen Benzer, ich habe eine Tesbih – eine Gebetskette – in der Hand; ich lebe so, wie ich bin. Aber irgendwie mögen das die Leute. Sogar die Musliminnen und Muslime. In dem Song sage ich, dass ich der Boss bin, und so werde ich auch anerkannt.

Feminismus betrifft ja Frauen und Männer, Enes hast du auch eine Meinung dazu? Und gibt es auch Erwartungen an dich, Esra, dass du z.B. heiraten musst, wen du heiraten solltest oder so etwas?

Esra Özmen: Die Menschheit braucht einfach Vielfalt und auch Frauen, die verschieden sind. Früher wurde ich hinterrücks immer für meine weiten männlichen Hosen kritisiert, von Migrantinnen und Migranten, vor allem von Männern und älteren Leuten. Mir wurde am Anfang auch immer gesagt, ich solle das Rappen nicht so ernst nehmen, denn ich würde ja irgendwann mal heiraten. Aber ich habe einfach weitergemacht und Enes hat geheiratet. Mittlerweile kommen Frauen zu mir und sagen, dass ich ihr Herz brechen würde, wenn ich nicht weitermache: „Wir brauchen dich.“

Enes Özmen: Das hat alles auch mit Macht und Stärke zu tun, denn jetzt sehen sie, dass Esra damit auch ins Fernsehen kommt und Menschen erreicht. Würde sie einfach rappen und unbekannt sein, würden sie Esra nicht ernst nehmen. Menschen stehen auf Stärke, das ist ein biologisches Ding. Leider sind die Menschen so. Ich hatte auch Leute zu unserem Konzert bei den Wiener Festwochen eingeladen und es ist kaum jemand gekommen. Aber als sie gesehen haben, dass das im Fernsehen übertragen wurde, kamen zahlreiche SMS.

Esrap Tschuschistan Cover

In eurem Promo-Text fällt der Begriff der „kulturellen Gentrifizierung“. Was assoziiert ihr damit?

Esra Özmen: Ich interessiere mich für das Thema Stadt und Architektur und wie die Stadt strukturiert ist. Es gibt sehr viele architektonische Eingriffe, die verhindern, dass Menschen zusammenkommen können. Ein Beispiel: Bewohner und Bewohnerinnen, denen es psychisch nicht so gut ging oder die Probleme hatten, haben sich seit Ewigkeiten am Yppenplatz an einer bestimmten Bank mit Tisch getroffen. Das war inmitten ganzen Cafés und Lokale. Das hat die Menschen beim Konsumieren gestört, also haben sie die Bank abgerissen. Mich hat das so wütend gemacht. Denn wir leben hier seit über 20 Jahren und die Stadtplaner und Stadtplanerinnen sowie die Konsumentinnen und Konsumenten sind erst seit ein paar Jahren hier, falls sie überhaupt in Ottakring leben, und nehmen unseren Tisch weg! Es gibt viele solcher Fälle in Wien. Ein weiteres Beispiel sind diese neuen Bänke, die so konstruiert sind, dass Obdachlose nicht darauf schlafen können.

Aufseiten der Verwaltung und der Behörden passieren sehr viele Ungerechtigkeiten. Zu mir kommen so viele Leute, weil sie denken, ich hätte Kontakte und Wissen, das ihnen helfen kann. Deshalb kenne ich viele Geschichten. Ich habe Kinder  bei Workshops in Sonderschulen gefragt, was ihre Träume sind. Die antworten dann Billa-Mitarbeiter oder Lagerarbeiter, Uber-Fahrer. Aber das sind doch keine Träume! Das sind Vorstellungen, die vermutlich Realität werden. Sie nehmen den Kindern ihre Träume, das ist schrecklich. Das sieht man aber in der Politik nicht so, das ist ein blinder Fleck.

Was beschäftigt euch sonst neben der Musik?

Esra Özmen: Wir geben viele Workshops, viele auch ehrenamtlich. Ich bin gerne unterwegs: auf Demos, auf Debatten. Und ich bin jetzt im Doktoratsstudium an der Akademie der Bildenden Künste und schreibe dort über Rap in Österreich.

Enes Özmen: Ich lege sehr viel Wert auf Freunde und Familie, auf eine gesellschaftliche Haltung. Zusammenzukommen, Zeit zu verbringen, zu diskutieren, das macht mich glücklich. Ich habe geheiratet …

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Ihr habt ja ein charmantes Crowdfunding-Video für euer Album gemacht. Wie habt ihr es letztendlich finanziert?

Esra Özmen: Über den Musikfonds, der uns gefördert hat. Und über Crowdfunding. Wir haben viel Support bekommen von Menschen, die uns vertraut haben.

Ist das jetzt auch ein Versuch, über die Landesgrenzen hinauszukommen?

Esra Özmen: Unbedingt! Da wir ja ein deutsches Label haben, werden wir in Deutschland auf Tour gehen und möchten auch in der Türkei spielen.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Bianca Ludewig

 

Termine:
18. Juli 2019 23:59 “Da Boss” mit Gasmac Gilmore via Youtube (Video-Release)
27. Juli 2019, ESRAP live, Popfest Wien
6. September 2019, Szene Wien
7. September 2019, Fuzzstock Festival, Wolfsberg

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