THE PARTS OF ITS SUM – JAZZ FESTIVAL SAALFELDEN 2021 Nachbericht

Das INTERNATIONALE JAZZ FESTIVAL SAALFELDEN  fand Ende August 2021 zum 41. Mal statt. Es war, wie immer, ein starkes, langes und explosives Programm. Es in eine Sammlung von Worten zu packen, würde dem nicht gerecht werden, aber es gab einige Fäden zu verfolgen und zu beschreiben, die sich in diesem Jahr in das Programm ein- und auswebten.

Jazzfest Saalfelden – ein nationales Kulturgut, eine internationale Legende. Die Figuren, die Geschichte und die Stories hinter dem Festival sind komplex und außergewöhnlich. (Man muss nur selbst hingehen, um sie von dem einen oder der anderen Einheimischen oder Stammgast zu hören.) Man fühlt sich dort wie in einer Familie, aber in einem internationalen Rahmen.

Wie kann ein Festival in einer kleinen österreichischen Stadt eine solche Aufgabe bewältigen? Was ist die Anziehungskraft? Die phänomenale Alpenlandschaft? Die gute Luft? Die gastfreundliche und begeisterte Gemeinde? Die unglaubliche Backline, das Festivalteam und das Programm? Die Offenheit für Veränderung, Anpassung und Wachstum? Sicherlich ist es eine Kombination aus all diesen Dingen. Und obwohl jedes Jahr auf seine eigene Weise besonders ist, lag dieses Jahr etwas in der Luft. Es ist schwer, bei einem so vielfältigen und umfangreichen Programm, das es zum Glück war, den Finger darauf zu legen. Aber ein paar emotionale und thematische Fäden, die sich durch das diesjährige Festival zogen, ließen sich ausfindig machen. Lasst sie uns gemeinsam verfolgen…

Edi Nulz Jazz Hike © Michael Geißler

Invention

Ein unbestreitbar wichtiger Teil der 41. Ausgabe des Festivals war die Improvisation. Mit einem bemerkenswert starken Fokus auf das Unbekannte waren auf den Bühnen weniger Kompositionen und mehr Ideen zu sehen; weniger Proben, mehr Vertrauen; weniger Stillstand, mehr Durchbruch.

Den Ton gab der Artist in Residence an, der Stimm- und Sprachkünstler Christian Reiner, der keinen Hehl daraus machte, dass jedes einzelne seiner Projekte improvisiert sein würde, also allesamt Premierenveranstaltungen, bei denen er in jedem Hafen, den er mit seinem Schiff anlief, in unbekannte Gewässer vordrang. Von seinem Projekt „Luft“ mit fünf Bläserinnen bzw. Bläsern über das improvisierte Live-Kinderprogramm TeTeTe/Bienenkino bis hin zu seiner Zusammenarbeit mit einem Buchbinder, um nur einige Beispiele zu nennen, hat Reiner bei jedem Schritt seines einzigartigen Weges Grenzen überschritten und detaillierte Experimente durchgeführt. Das Ergebnis seiner Residency war eine dynamische und kraftvolle Sammlung von Improvisations- und Konzeptkunst sowie von investigativen Experimenten.

Bienenkino (c) Matthias Heschl

Nicht nur die Improvisation, sondern auch ihr naher Verwandter, der Mut, durchdrang das diesjährige Programm in hohem Maße. Aus der Komfortzone herauszutreten und neue und weniger bekannte Seiten zu zeigen, schien ein gemeinsamer Ansatz auf allen Bühnen und in allen Formationen zu sein. Ein Paradebeispiel war das Trio Kry (Mona Matbou Riahi – Klarinette/FX, Philipp Kienberger – Bass, Alexander Yannilos – Schlagzeug). Die neue (etwa so alt wie die Pandemie) Formation überraschte das Publikum mit explosivem Ausdruck und kühnen Konzepten, die die Musikerin und die Musiker und ihre Musik scheinbar an ihre Grenzen brachten.

Kry (c) Matthias Heschl

Der kraftvolle Klang, der durch die ungewöhnliche Kombination von Instrumenten erzeugt wurde, das nahtlose Hin- und Herspringen zwischen rasenden Free-Jazz-Fragmenten und breiten, einheitlichen, stampfenden Beats, versetzte das Publikum ebenso in Schwingung wie den Raum, in dem es stattfand. Und was für ein Raum das war…

Eine strukturelle Erfindung des diesjährigen Festivals war ein brandneuer Veranstaltungsort, der wohl beste von allen, die in den letzten Jahren neu hinzugekommen sind (Stadtpark, Buchbinderei, Gerichtssaal, Buchhandlung, Jazzbergwanderungen und -hütten usw.). In diesem Jahr kam die Otto-Gruber-Halle hinzu, eine große Maschinenhalle mitten im Zentrum der Stadt, nur wenige Schritte von den wichtigsten Veranstaltungsorten entfernt. Abgesehen vom Glück des Standorts ist der Raum selbst großartig. Ein industrielles Paradies. Und ein Zufluchtsort für eine bestimmte Art von Musikalität – die rohe Art. Die Art, die Rauheit und Schönheit organisch miteinander verbindet.

Otto Gruber Halle (c) Michael Geißler

Was wäre also besser geeignet, um den Raum einzuweihen, als ein Trio grenzüberschreitender Meisterinnen und Meister der Improvisation – die international renommierte Improvisationspoetin und Musikerin Moor Mother zusammen mit dem experimentellen Schlagzeuger Lukas König und dem unverwechselbaren Bassisten und Perkussionisten Shahzad Ismaily? Dieser Eröffnungsauftritt in der Otto-Gruber-Halle entpuppte sich als einer der unerwartetsten Höhepunkte des Festivals – nicht, weil irgendjemand an ihren Fähigkeiten gezweifelt hätte, sondern einfach, weil niemand wusste, was zu erwarten war. Sie hatten buchstäblich noch nie zusammen gespielt. Für dieses neugeborene Trio gab es weder eine Probe noch einen Soundcheck, denn Ismaily, der aufgrund der Pandemie unzählige Reisekomplikationen zu bewältigen hatte, sprang genau zwei Minuten vor Beginn des Auftritts aus seinem Flughafen-Shuttle auf die Bühne.

Moor Mother/Lukas König/Shahzad Ismaily (c) Michael Geißler

Ungeachtet der schwierigen Umstände war das Ergebnis nichts als verblüffend. Das Trio zerriss die Bühne und riss das Publikum mit. Mit intensiver musikalischer Verbundenheit, angetrieben von experimentellen Wunderkindern, wurden drei zu einem, in einer explosiven Performance aus schweren Industrial-Beats, gemischt mit komplexen Rhythmen, dynamischen Wechseln, kraftvoller Poesie, seelenstürmenden Bass-Elementen und verspielter Perkussion, die wie Feenstaub über all dem schwebte. Die drei trieben, schoben, forderten und ergänzten sich gegenseitig. Die Freude an dem Ganzen war auf der Bühne spürbar und übertrug sich großzügig auf das Publikum, das am Ende aufstand und sich bis zum Bühnenrand verführen ließ (ein echtes Kunststück auf einem Jazzfestival).

Eine weitere Szene der Erfindung kam von der Künstlerin Katharina Ernst, die weit über die konventionellen Konzertparameter hinausging, indem sie einen Aufführungsraum schuf, den sie in den Tagen vor der Show selbst bemalte. Das großflächige Wandgemälde im Untergeschoss des Kunsthaus Nexus war eine ausgedehnte Wolkenlandschaft, die Ernst, wenn sie davor platziert wurde, in eine Art perkussiven Engel verwandelte, der am Himmel der konzeptionellen experimentellen Komposition saß. Die hell erleuchtete Klarheit der Szene in Kombination mit der Klarheit ihres aktuellen musikalischen Konzepts war außergewöhnlich. Diese aufwendige Gestaltung begleitete die Veröffentlichung ihrer neuen EP „le temps“, ihrem neuesten Soloprojekt, das einen starken Kontrast zu ihren bisherigen Arbeiten darstellt. Die Künstlerin verzichtete auf jegliche elektronische Elemente und demonstrierte die mikroskopischen Feinheiten und Möglichkeiten ihrer gewählten Instrumente. Wie der Titel andeutet, ist das Projekt eine Art Studie über die Zeit sowie eine musikalische Untersuchung der einzelnen Teile eines Schlagzeugs und anderer perkussiver Elemente. Vor dem Hintergrund ihrer visuellen Kunst stellte die facettenreiche Künstlerin erstmals ihre vielfältigen Talente und Leidenschaften direkt und in Einheit zur Schau.

Katharina Ernst (c) Matthias Heschl

Ein Höhepunkt in der Reihe Shortcuts war die Premiere des Trios Taborn/Lillinger/Stemeseder. Der Pianist Elias Stemeseder übernahm die Rolle des Vermittlers, der mit tiefen Frequenzen und höchst ungewöhnlichen Klängen – fast wie ein Produzent – Kontrapunkte setzte, über denen Lillinger (Schlagzeug) und Taborn (Keyboards) mit ihren kraftvollen Free-Jazz-Ansätzen schwebten. In Wellen aber verschränkten die drei durchwegs Schritte mit minimalen Gesten mit komplizierten rhythmischen Strukturen, die dennoch das Publikum mit in Bewegung brachten. Alles in allem bot das Konzert eine vergnügliche Mischung aus elektronischen Strukturen und akustischer Klangkunst. Improvisation in Harmonie unter äußerst fähigen Musikern.

Taborn Lillinger Stemeseder © Michael Geißler

Das Festival war auch mit der Präsentation des neuesten Werks von Rdeča Raketa gesegnet, dem Duo bestehend aus Maja Osojnik und Matija Schellander mit dem Titel „… and cannot reach the silence“. Wie Ernst nutzten sie den Raum im Untergeschoss des Kunsthaus Nexus, um ihre multimediale Kunst zu präsentieren, indem sie Videos ihrer Mitarbeiter Patrick K.-H. und Ivan Marusic Klif projizierten.

Rdeča Raketa & Patrick KH/Ivan Mariusic Klif (c) Michael Geißler

Dabei wurden die Klänge – eine Mischung aus fragmentierten, schweren und industriellen Beats und Geräuschen – eins mit der seltsamen visuellen Welt der kontrastreichen Szenen, die aus tanzenden Schwarz-Weiß-Figuren in Stop-Motion, sich vervielfältigenden Körperteilen und Augen, die einen anstarren und anblinzeln, bestehen. Majas Stimme, die aus gesungenen und gesprochenen Worten bestand, durchbrach all den Lärm und das Chaos. Traurige Aussagen wie „your love doesn’t love me“ oder „she was born already broken“ hallten durch den Saal. Als Finale färbte sich der ganze Raum rot und der Lärm verstummte plötzlich. Majas Texte wanderten in andere Gefilde der Dunkelheit. „My breasts don’t feed me, nor you…“ Vielleicht hat David Lynch diese Show gefallen. Oder er war ein heimlicher Co-Produzent.

Rdeča Raketa & Patrick KH/Ivan Mariusic Klif (c) Michael Geißler

RAW

Ceramic Dog (Marc Ribot – Gitarren, Gesang, Es-Horn; Shahzad Ismaily – Bass, Keyboards, Backing Vocals; Ches Smith – Schlagzeug, Percussion, Elektronik, Backing Vocals) ist bekannt für seine Rohheit, auch wenn sie vorkomponierte, oft gespielte Songs spielen. Die Rauheit der drei Power-Musiker, getragen von Marc Ribots treffsicheren Texten und politischen Botschaften, trifft genau den Geschmack der Leute. Es gibt eine „who-gives-a-f*ck“-Energie, die in Zeiten wie diesen sehr erfrischend ist. (In allen Zeiten, wirklich.) Marcs krakelige, mit Klebeband befestigte, komisch lange Notenblätter zu sehen, die vom Ständer baumeln, war auch ein Highlight für Detailverliebte. Auf die Frage, wie alt sie wohl seien, antwortete er: „So alt auch wieder nicht. Ich verschütte nur eine Menge Zeug darauf.“ Wer liebt Marc Ribot nicht?

Ceramic Dog (c) Matthias Heschl

Bemerkenswert waren auch Smiths zusätzliche perkussive Elemente neben seinem üblichen Schlagzeug, auf das er wie immer in seiner typischen Hardcore-Rock-Jazz-Drummer-Manier einschlug und wie wild auf die übermäßig hoch über ihm platzierten Becken einhämmerte. Interessant war auch der riesige Gong in Ismailys Ecke, zu dem Smith irgendwann hinüberstolzierte und anfing, auf sich selbst zu schlagen, und zwar ziemlich nah an Ismailys Ohr. Als Ismaily darauf angesprochen wurde, zuckte er mit den Schultern und sagte: „Das war kein Problem. Ich habe einfach meinen Bassverstärker aufgedreht.“ Das ist doch Rock’n’Roll, oder? Alles in allem war die Show laut, kraftvoll und belebend, auch wenn die leisen, jazzigen Passagen, die dazwischen eingestreut waren, nicht unbemerkt blieben. Vielleicht war es ein Zeichen für eine Zeit der stillen Besinnung? Inmitten all der politischen Wut?

Ceramic Dog (c) Matthias Heschl

Fünf brachte Christian Reiner (Gesang), Jim Black (Schlagzeug), Philip Zoubek (Klavier, Fender Rhodes), Martin Siewert (Gitarre) und Christian Weber zusammen, um ein All-Star-Set mit rohen, lauten, energiegeladenen Free-Jazz-Improvisationen mit Rockeinschlag zu spielen. In dieser Formation waren die Musiker noch nie zuvor aufgetreten. Aber angesichts des Talents und der Erfahrung, die dahinterstecken, hat es einfach funktioniert. Unmittelbar. Siewert mit seinen rauen, lärmenden Slides, Reiner mit seinen Schreien und Knurrgeräuschen, die scheinbar gleichzeitig am Boden seines Beckenbodens und seiner Kehle kratzten, Zoubek mit seinem spastischen Klavierspiel – das war Stress und es war rau, aber auf eine gute Art. Aber auch ruhige, melodische Momente mischten sich dazwischen. Ruhig, aber still, von Dunkelheit umhüllt.

Fünf (c) Matthias Heschl

Das Quartett Vegeta (Martin Zrost – Saxophon, Helge Hinteregger – Kehle, Lukas Kranzelbinder – Bass und Lukas König – Schlagzeug) hatte heuer nach elf Jahren sein zweites Konzert in Saalfelden. (Nein, das war kein Tippfehler. Zehn Jahre + eins, so lange hat es gedauert, bis sich die Band wieder zusammenfand.) Ob angesichts der langen Pause alle nervös waren? Wenn ja, konnte man das nicht erkennen. Es war eine Wahnsinnsshow, mit Inbrunst, Power und einer Menge Temperament.

Vegeta © Michael Geißler

Die Kombination aus Saxophon und Kehle schuf kratzende, dröhnende Räume, angetrieben von fieberhaftem Bassspiel und nie vorhersehbarem, immer treibendem Schlagzeug. Es war eine Show, die einen auf Trab hielt und bei der man sich den Kopf darüber zerbrach, wie Hinteregger solche gutturalen, summenden Klänge erzeugen konnte, wie eine männliche Biene in einem heftigen Paarungswettstreit mit einem anderen männlichen Kandidaten. Abgesehen von den Paarungsspielen war die Show fesselnd, und wir hoffen alle, dass wir nicht wieder zehn Jahre auf die nächste Show warten müssen.

Lukas König/Vegeta © Michael Geißler

PLAY

Dell/Lillinger/Westergaard (Christopher Dell – Vibraphon, Christian Lillinger – Schlagzeug und Jonas Westergaard – Kontrabass) ist ein Trio, das für seine Virtuosität und Erfahrung bekannt ist. Aber ist es auch für seine unglaubliche Verspieltheit bekannt? Das sollte es sein. In ihren auffallend nahen Bühnenpositionen schwangen, schaukelten und vibrierten sie intensiv miteinander, in einem paradoxerweise rasenden Gleichklang. Wie ein Atom, in dem die Elektronen um den Kern, ihre Musik, herumschießen. Das Glitzern von Lillingers rasantem und einzigartig sanftem Schlagzeugspiel, das Klopfen und Klirren des Basses und das spastische Stampfen des Vibraphons – das war ein Klang, den man hören, und ein Anblick, den man sehen konnte. Die Musik brachte Assoziationen zu den Klängen von Retro-Videospielen mit sich – Pinball, Pac Man, Donkey Kong. Zu sagen, dass es intensiv war, wäre eine Untertreibung. Sanfte Aggression, leicht und wütend. Nichts weniger als Tinkerbell auf Speed.

GeoGeMa (Gerald Preinfalk – Bläser, Georg Vogel – mikrotonale Tasten, Matheus Jardim – Schlagzeug) war ein weiteres Highlight. Drei bemerkenswerte Musiker mit sehr unterschiedlichen Ansätzen und musikalischen Hintergründen, die zu einer Einheit verschmelzen. Die Verbundenheit und der Respekt zwischen ihnen war spürbar. Sie ließen sich gegenseitig viel Raum, um ihre Fähigkeiten, ihren Geschmack und ihre musikalische Identität zu zeigen, aber dann schlossen sie sich wieder zusammen und bauten sich zu einer Eruption von Melodien auf Geschwindigkeit, breiten kraftvollen Bewegungen und energiegeladenen Beats auf. Im Gespräch mit Jardim erklärte er, dass die Beziehung zwischen ihm und seinen beiden Bandkollegen mit der Zeit immer enger wird. Wenn er mit Georg Vogel spielt, sagt er, hat er so viel gelernt und sich verändert, „auch wenn Georg sich nicht verändert hat“. In seiner und Preinfalks musikalischer Gegenwart zu sein, war ein Geschenk, von dem die drei gegenseitig profitiert und sich gemeinsam stark weiterentwickelt haben. Das war nicht überraschend zu hören, nachdem man die großartige Show gesehen hatte, die sie produziert hatten.

GeoGeMa (c) Matthias Heschl

Die junge Band chuffDRONE zeigte am letzten Abend des Festivals auf der Hauptbühne ihr Können. Sie hüpften zwischen Jazz-Segmenten mit komplexer Komposition und Improvisation hin und her und tauchten dann aus dem Nichts direkt in supertighte Groove-Riffs ein – das Publikum wurde regelrecht auf Trab gehalten (und beim Tanzen aus dem Takt gebracht). Kommunikation und Spielfreude scheinen die Schlüssel zum Erfolg dieser jungen Wiener Gruppe zu sein, die aus Lisa Hofmaninger – Saxophon, Bassklarinette, Robert Schröck – Saxophone, Klarinette, Jul Dillier – Klavier, Judith Ferstl – Bass und Judith Schwarz – Schlagzeug besteht.

chuffDRONE (c) Matthias Heschl

LEGENDS

Was wäre ein österreichisches Jazzfestival ohne den Gitarristen Karl Ritter? Eine kaum zu beantwortende Frage, die sich heuer in Saalfelden zum Glück erübrigte. Er und die Band KOMBOjaner mit Andrej Prozorov am Saxophon, Erich Buchebner am Bass, Philipp Nykrin am Keyboard und Herbert Pirker am Schlagzeug rockten den Stadtpark mit seelenbeglückender, abgehobener, experimenteller Hardcore-Musik. Der Sound reichte von Funk über Jazz, Rock und Groove bis hin zu Komposition und Improvisation. Ritters Auftritt war eine Augenweide: Seine Gitarren lehnten sich seitlich von ihm auf den Boden, auf dem er lässig kratzte und in tickähnlichen Spritzen darüber glitt. Prozorov zeigte seine Vielseitigkeit, mit Momenten luftiger Wiederholungen, gemischt mit langgezogenen Tönen, wie zeitweilige Schreie unter Wasser, die dann zu Klängen übergingen, die 90er-Techno imitierten, um dann zu heiseren Schlägen voller raspeliger Luft überzugehen. Der schwere Bass und das punktgenaue Schlagzeug hielten alles zusammen. Ein Rockkonzert in einem Park in der Sonne. Aber nicht ohne Schattenseiten.

KOMBOjaner (c) Matthias Heschl

Craig Taborn (Klavier) kultivierte in seinem Trioauftritt eine qualitativ hochwertige, bemerkenswert vielfältige Performance. Mit Ches Smith, der nicht nur einer der entspanntesten Schlagzeuger der Jazz-Avantgarde ist, sondern auch große Sensibilität, wenn nicht gar Einfühlungsvermögen an den Tag legt, gewann Taborn einen perfekten Spieler, der seine Ideen ergänzte. Wunderschön komponierte Themen, die Tomeka Reid (Cello) zusammen spielte, wurden durch Smiths lässige, aber brutale Berührungen ausgeglichen.

Taborn-Reid-Smith (c) Matthias Heschl

Einer der unbestrittenen It-Boys der deutschen Jazzszene ist Christian Lillinger. Auf diesem Festival konnte man ihn jeden Tag spielen sehen manchmal sogar mehrmals. Und, wie immer, war er Feuer und Flamme. Er ist allgemein bekannt für seinen Feenstaub-Ansatz, mit dem er das Schlagzeug, vor allem die Becken, mit einer beeindruckenden Geschwindigkeit sanft kitzelt.

Lillinger/KUU! (c) Michael Geißler

Bei einem bestimmten Auftritt wurde die junge Legende jedoch aus der Schublade geholt, für die er am meisten bekannt ist, und in die Rolle eines lauten, schmetternden Rockschlagzeugers versetzt. Dieser Kontext ist KUU!, ein phänomenales Quartett, bestehend aus Jelena Kuljic (Gesang), Lillinger (Schlagzeug), Frank Möbius (Gitarre) und Kalle Kalima (Gitarre).

KUU! (c) Michael Geißler

KUU! bringt die rebellische Teenager-Mentalität der 90er Jahre in die Musik, einschließlich aufwendiger Gitarrensoli, die an Guns’N’Roses, Prince oder Queen erinnern. Was auch immer die Hommage ist, die Band holt das Publikum aus der aktuellen Zeit und dem aktuellen Ort heraus und bringt es zurück. Oder nach vorne. Es ist schwer zu sagen. Was auch immer es ist, es nimmt einen mit, auf und davon. Neben der exzellenten Arbeit an den Instrumenten überzeugt die Leadsängerin mit ihrer enormen Vielseitigkeit – in einem Moment erinnert sie an Janis Joplin, im nächsten an Joni Mitchell, in einem anderen an Punk-Grunge und in einem weiteren an die Beastie Boys, um dann plötzlich wie ein läufiger Affe experimentelle Vocals einzubringen. Sie ist überall, im besten Sinne des Wortes. KUU! probiert alles aus und hat Erfolg.

KUU! (c) Michael Geißler

Das Avram Fefer Quartett beschloss das Festival am Sonntagabend auf der Hauptbühne. Das Quartett, bestehend aus vier Legenden, mit Fefer am Saxophon, Marc Ribot an der Gitarre, Nick Dunston am Bass und Chad Taylor am Schlagzeug, hatte eine solide Basis, auf der sie stehen konnten. Der in San Francisco geborene, in verschiedenen Teilen Westeuropas lebende und vor etwa 20 Jahren in New York gelandete Fefer lässt viele Geschichten und Einflüsse in seine Kompositionen einfließen, so auch in sein aktuelles Projekt “Testament”, das von den legendären Musikern, die er für diese Aufgabe ausgewählt hat, besonders gut ausgefüllt wurde.

Avram Fefer Quartet (c) Matthias Heschl

RAGE

In einer weiteren Uraufführung präsentierte Christian Reiner ein neues Programm seines Trios LAVANT mit Susanna Gartmayer (Saxophon) und Katharina Ernst (Schlagzeug), das (wie immer) auf musikalischer Improvisation und (spezifisch für dieses Projekt) auf der Lyrik von Christine Lavant basiert, für die er sich entschieden hat, entgegen seiner üblichen Herangehensweise an Lyrik (so neutral wie möglich) eine schreiende und wütende Version zu entwickeln, mit dem Ziel, die Klage, die Lavant in ihre Texte einfließen ließ, besser auszudrücken.

LAVANT (c) Michael Geißler

Das Konzert fand nicht auf einer Bühne statt, sondern auf unebenem Gras in einem Wald auf einem Berg. (Sehr Saalfelden.) Man hätte erwarten können, dass die Gelassenheit der Landschaft das aggressionsgeladene Konzept ruinieren würde. Doch irgendwie schaffte es Reiner, in sein Innerstes vorzudringen und genug Wut aufzubringen, um sein Ziel zu erreichen. Das Ergebnis war ironische Perfektion. Wut in Schönheit. Schönheit in Wut.

LAVANT © Michael Geißler

Irreversible Entanglements, die fünfköpfige Band von Camae Ayewa (aka Moor Mother), wurde bei diesem Auftritt in Saalfelden spontan auf sechs Personen erweitert. Als die Nachricht eintraf, dass Schlagzeuger Tcheser Holmes nicht kommen konnte, wurden Lukas König und Shahzad Ismaily an seiner Stelle auf die Bühne gebeten. Es entwickelte sich ein energiegeladener Auftritt, bei dem es kaum Luft zum Atmen gab – was normalerweise eine schlechte Sache ist, aber bei diesem musikalischen Niveau muss man sich fragen, warum überhaupt jemand Luft braucht. Die neu arrangierte Band trat ein und stürzte sich sofort in eine musikalische Raserei.

Irreversible Entanglements © Michael Geißler

Szene 2: Camae Ayewa tritt mit einer Glocke ein und bringt spirituelle Perkussionsmuster mit, die sich zögernd im Kollektiv ausbreiten. Die beschworenen Geister scheinen geweckt. Die Energie wurde in großen Bögen gezogen. Der Saxophonist (Keir Neuringer) wurde in die Knie gezwungen, blieb im Zirkularatmen stehen und schien zum Himmel zu schreien. Ayewas Rufe, Schreie und die direkt ins Herz gehende Wortwahl trafen den kollektiven Bewusstseinsstrom direkt. Die ganze Sache endete mit dem Gebrüll „we had enough!“ Genug wovon? Von Ungerechtigkeit? Unterdrückung? Gewalt? Missbrauch? Wie immer bei ihrer ergreifend minimalen, aber dennoch nachvollziehbaren Sprachkunst muss man sich seine eigenen Gedanken und Assoziationen machen. Ein Zurückkreisen auf sich selbst. Verstrickt, unumkehrbar.

Irreversible Entanglements © Michael Geißler

TENDER

Reiner Weber ist ein Duo, das zwei Jahrzehnte umspannt. Man sieht ihnen die Jahre nicht an, weder in ihren Gesichtern, noch in ihren Körperhaltungen, auch nicht in der Frische ihrer Musik, sondern in ihrer scheinbar mühelosen und organisch sensiblen Kommunikation. Die Verbundenheit und Wertschätzung zwischen den beiden ist bei ihren Auftritten sofort spürbar. Ihre Kunst fließt gegenseitig und wechselseitig, fängt die Impulse, Ideen, Energieausbrüche und Momente der Langsamkeit des jeweils anderen auf. Christian Reiner meinte, er fühle sich bei Weber so sicher wie bei kaum einem anderen Musiker auf der Welt. „Er fängt jeden Ton ein. Ich habe das Gefühl, dass, egal was ich mache, wenn er mit mir spielt, es richtig ist. Ich kann mich nicht irren, denn er macht es richtig“, erklärte er. Ihr Duo-Auftritt in der Buchbinderei Fuchs bewies, dass dies wahr ist.

Buchbinderei Reiner Weber © Michael Geißler

Clemens Wengers aktuelles Soloalbum mit dem Titel „Physics of Beauty“ brachte ihn mit der Designerin Alessia Scuderi und dem Coder Gianluca Monaco aus Sizilien zusammen. Das Projekt besteht aus einer synästhetisch-audiovisuellen Erfahrung und einem Musikalbum als digitalem Kunstwerk. Die ungewöhnliche Konfiguration kam für ihre erste Live-Show auf dem Festival zusammen. Im ruhigen, fensterlosen Raum des Kunsthaus Nexus interpretierte Wenger seine Musik auf dem Pianino, während Scuderi und Monaco mit interaktiven Visualisierungen zur Musik improvisierten.

Clemens Wenger © Michael Geißler

Das Ergebnis war eine gefühlvoll sanfte musikalisch-visuelle Kunstperformance. Flatterhafte Noten und gedämpfte Beats, gespiegelt durch die ebenso zarten animierten Bilder, die über ihnen tanzten – in einem Moment schienen die flachen und scharfen Tasten in der Luft zu schweben, als ob jemand die Saite eines Klaviers riss (als ob es eines gäbe) und alle seine Teile in eine schwerelose Atmosphäre im äußeren Universum drifteten.

Clemens Wenger © Michael Geißler

Community

Elektro Guzzi (Bernhard Hammer – Gitarre, Jakob Schneidewind – Bass, Bernhard Breuer – Schlagzeug) machten mit ihrem aktuellen Programm „Trip“ Station in Saalfelden, zogen ein volles Publikum an und verwandelten das Festival für einen kurzen Moment in eine ausgewachsene Techno-Clubbing-Szene. Wippende Körper, knallende Köpfe, lachende Augen (über den Masken) – ein Moment der Entspannung nach einem weiteren angespannten und harten Jahr. Das Gefühl von Freiheit und Zusammengehörigkeit war greifbar, köstlich und notwendig.

Elektro Guzzi (c) Matthias Heschl

Darüber hinaus war das Gefühl der Gemeinschaft während des gesamten Festivals präsent. Man kann es nicht genug betonen – 41 Jahre sind eine lange Zeit für ein europäisches Jazzfestival. Es hat die Phasen der Geburt und der Kindheit durchlaufen, bis hin zu seinem aktuellen Stadium des Erwachsenseins. Doch anstatt in die berüchtigte Midlife-Crisis zu verfallen, scheint es nur zu wachsen, zu expandieren, sich anzupassen und zu gedeihen. Während einige kulturelle Veranstaltungen dazu neigen, zu stagnieren, überrascht Saalfelden immer wieder aufs Neue.

Elektro Guzzi (c) Matthias Heschl

Und obwohl das Programm einen starken Fokus auf Free Jazz und experimentelle Musik hat – nicht gerade Mainstream -, hat das Jazzfestival Saalfelden eher das Gegenteil getan, als sich von dem Ort, an dem es existiert, zu isolieren und auszugrenzen. Mit seinem umfangreichen Angebot an Gratiskonzerten, seinen Freiluftveranstaltungen im öffentlichen Raum, seinem ständigen Experimentieren mit verschiedenen vorgefertigten Veranstaltungsorten (Buchbinderei, Kirche, Buchhandlung, Gerichtsgebäude, Maschinenlager und sogar gemeinsame Wanderungen zu Konzerten auf Berggipfeln) und der Zusammenarbeit mit der Stadt und ihren Einwohnerinnen und Einwohnern wächst es weiter mit der Gemeinschaft zusammen, anstatt sich von ihr zu trennen. Die Strategien der Öffentlichkeitsarbeit, des Engagements und der lokalen Innovation haben bei Einheimischen und Besucherinnen und Besuchern gleichermaßen ein Gefühl der Wärme und Begeisterung ausgelöst, das sich auf eine ganz besondere Woche im Jahr überträgt, auf die sich alle Seiten zu freuen scheinen. Um auf die ursprüngliche Frage zurückzukommen, was dieses Festival so besonders macht – vielleicht ist die „Gemeinschaft“ der subtilste, aber wichtigste Faktor von allen.

Edi Nulz © Michael Geißler

Eine Anekdote zum Schluss: An einem meiner Tage in Saalfelden besuchte ich einen örtlichen Friseur. Wir tauschten viele Worte über das Festival aus. Wir gingen gemeinsam das gedruckte Programm durch und markierten alle Vorstellungen, die wir beide sehen wollten. Wir tauschten Meinungen und Erfahrungen aus, aber auch unsere Dankbarkeit für das Festival insgesamt. Das ist weit entfernt von den Anfängen vor vier Jahrzehnten, als es, wie sie erklärte, andere Ansichten über das Festival gab und zum Beispiel einige lokale Restaurantbesitzerinnen und -besitzer Schilder an ihre Türen hängten: „No Jazz Musicians Allowed!“

Glücklicherweise ist seitdem viel passiert.

Sylvie Courvoisier & Kris Davis (c) Matthias Heschl

Arianna Fleur

Übersetzt aus dem Englischen Original von Itta Francesca Ivellio-Vellin.

Links:

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