Szene im Umbruch: Abschiede und Newcomer prägten in den letzten Jahren die österreichische Jazzlandschaft

“Dynamisch” ist wohl jener Terminus, mit dem man am ehesten jene Umbrüche auf einen Nenner bringen kann, die die österreichische Jazzszene in den letzten Jahren geprägt haben. Manche Institutionen sind verschwunden, neue Strukturen dafür entstanden. So hat Joe Zawinuls 2004 in Wien eröffneter Club Birdland seinen 2007 verstorbenen Gründer nur um ein Jahr überdauert. 2009 wurden zudem die Hans-Koller-Preise – mit ihnen der internationale „European Jazz Prize“ – zum letzten Mal vergeben. Einen Paukenschlag bedeutete weiters das Ende eines der wichtigsten Szene-Aushängeschilder: Im Juli 2010 verfügte Mathias Rüegg nach 33 Jahren die Auflösung des Vienna Art Orchestra (VAO), lange Jahre Flaggschiff des europäischen Bigband-Jazz. Die Musiker, die seit den 1980er-Jahren aus diesem Klangkörper hervor gegangen sind, prägen indessen weiterhin das Geschehen: Voran die international etablierten Saxofonisten Wolfgang Puschnig (*1956) und Harry Sokal (*1954), aber auch Instrumentalisten, die in den letzten Jahren im VAO bekannt geworden sind: Dazu zählen Trompeter Thomas Gansch (*1975) und der einst bei den Wiener Philharmonikern beschäftigte Kontrabassist Georg Breinschmid (*1973). Beide sind gleichermaßen virtuose wie musikantisch veranlagte Instrumentalisten, schöpfen in ihren Stücken auch aus der Blasmusik- bzw. Wienerlied-Tradition und ergötzen das Publikum nicht zuletzt als amüsantes, musikkabarettistisches Duo.

Seit der Auflösung des VAO firmiert die Mitte der 1980er-Jahre gegründete Wiener Bigband Nouvelle Cuisine als ältestes zeitgenössisches Jazzorchester des Landes. Der von Pianist Christoph Cech (*1960) und Perkussionist Christian Mühlbacher (*1960) geleitete Klangkörper hat sich als wichtiges Postmoderne-Ensemble etabliert, im Zuge der 2013 vorgelegten CD „Swing!“ beschäftigen sich die beiden Co-Leiter kompositorisch auf originelle Weise mit der Jazztradition. Christoph Cech, der 2005 in Wien seine zweite, Monteverdi-inspirierte Oper „Orfeo“ zur Uraufführung brachte, steht zudem für jene Musiker, die sich sowohl als Improvisatoren als auch als zeitgenössische (Musiktheater-)Komponisten einen Namen machen konnten: Zu ihnen zählen weiters Trompeter Franz Koglmann (*1947), Keyboarder Wolfgang Mitterer (*1958), Saxofonist Max Nagl (*1960) und Posaunist/Pianist Christian Muthspiel (*1962), wobei letzterer zuletzt u. a. mit seiner Yodel Group und dem die Musik John Dowlands fokussierenden Quartett aufzeigte, dem u. a. E-Bassisten-Legende Steve Swallow angehört.

Gitarrist Wolfgang Muthspiel (*1965) und der vielseitige Kontrabassist Peter Herbert (*1960), in den 1990er-Jahren in der New Yorker Szene bekannt geworden, leben heute in Wien bzw. Paris. Muthspiel ist in einer Vielzahl von Projekten aktiv, u. a. im Gitarristen-Trio mit Ralph Towner und Slava Grigorjan, zudem legte er 2013 mit „Vienna Naked“ sein Debüt als Singer/Songwriter vor. Peter Herberts Horizont reicht von freier Improvisation über Streichquartett-Rekompositionen von Joni-Mitchell-Songs bis hin zur auf arabischen Maqams basierenden Musik, die er im Ensemble des libanesischen Sänger und Oud-Meisters Marcel Khalife spielt. An internationalen Aushängeschildern des österreichischen Jazz ist zudem das Radio.String.Quartet.Vienna zu nennen, das mit druckvollen und farbintensiven Streichquartett-Adaptionen von Rock-Jazz-Kompositionen aus dem Repertoire des Mahavishnu Orchestra und von Weather Report zu einem Star auf Europas Konzertbühnen avanciert ist. Erwähnt sei auch Franz Hautzinger (*1963), der im Rahmen seiner Solo-CD „Gomberg“ (2000) auf der Vierteltontrompete eine völlig neue, von elektronischer Musik inspirierte Klanggrammatik entwickelte. Im aktuellen Ensemble Poet Congress verwebt Hautzinger instrumentale Linien auf großartige Weise mit den Stimmen von bis zu drei freien Text-Improvisatoren bzw. Vokalisten.

Obwohl Österreich das Vienna Art Orchestra abhanden gekommen ist, ist die Situation in Bezug auf orchestralen Jazz eine erfreuliche. Nicht nur konnte sich die Jazz Big Band Graz unter der Leitung von Heinrich von Kalnein (*1960) und Horst-Michael Schaffer (*1971) in Programmen wie „A Life Affair“ (2005, komponiert von John Hollenbeck) oder zuletzt „Urban Folktales“ (2012) international positionieren, im Lande selbst lassen zahlreiche Neugründungen von einem kleinen Bigband-Boom sprechen. Einer der interessantesten jungen Großklangkörper ist dabei das vom in Wien lebenden Posaunisten Daniel Riegler (*1977) gegründete Ensemble Studio Dan, das Kammerorchester und Bigband in sich vereint und auf CD-Veröffentlichungen u. a. mit Gitarrist Elliott Sharp verweisen kann.

Riegler ist zudem Gründungsmitglied der von Pianist Clemens Wenger (*1982) initiierten JazzWerkstatt Wien, die für den Aufbruch der jungen MusikerInnen-Generation in Österreich steht. 2004 ins Leben gerufen, machte die neue alte Idee der selbstverwalteten Musiker-Kooperative von Wien aus rasch in Graz, Bern, Köln und Berlin Schule. An wichtigen, aus dem Umfeld der JazzWerkstatt Wien hervorgegangen Ensembles sind heute u. a. auch das Quartett von Saxofonist Clemens Salesny (*1980) mit Trompeter Herbert Joos, die Formation Falb Fiction um die Saxofonistin Viola Falb (*1980) sowie das grandiose schweizerisch-österreichische Trio Rom/Schaerer/Eberle zu erwähnen. Aus dem Dunstkreis der 2007 gegründeten Schwesternkooperative der JazzWerkstatt Graz konnten hingegen das gewitzte Kammer-Punk-Jazz-Trio Edi Nulz und die nunmehr in Wien bzw. Berlin lebenden Sängerinnen Ángela Tröndle (*1983) und Laura Winkler (*1988) auf sich aufmerksam machen. An jungen Ensembles mit internationalem Ruf sind weiters das mit räudigem Trash-Funk elektrisierende Quartett Kompost3 um Trompeter Martin Eberle (*1981) und Keyboarder Benny Omerzell (*1984) zu nennen, zudem der Vorarlberger Pianist David Helbock (*1984), der u. a. mit dem Soloprogramm „Purple“ hervorgetreten ist. Inhalt: Cover-Versionen von Prince-Songs, dargeboten am mit perkussiver Energie bearbeiteten präparierten Klavier.

Zur Bereicherung der hiesigen Szene trugen seit den 1990ern auch zahlreiche, aus allen Himmelsrichtungen zugezogene Musiker und Musikerinnen bei: Der serbische Bassist Nenad Vasilic (*1975) und seine Balkan Band sowie die türkischstämmige Sängerin Fatima Spar alias Nihal Sentürk (*1977) und ihre Freedom Fries haben etwa wesentlichen Anteil daran, dass sich Wien und Graz heute mitunter stolz als musikalische Balkan-Vorposten bezeichnen. Auch der Umstand, dass Musiker wie der schwedische Saxofonist Mats Gustafsson (*1964) oder der amerikanische Schlagzeuger Mark Holub (*1981), dessen Band Led Bib seit Jahren ein Fixpunkt der britischen Szene ist, in Wien eine neue Heimat gefunden haben, verstärkt die vibrierende Dichte der kreativen Impulse, die heute von Österreichs Jazzszene ausgehen.
Andreas Felber

Foto Mats Gustaffson © Werner Krepper
Foto Nouvelle Cuisine © M. Lackinger
Foto Wolfgang Muthspiel © Laura Pleifer
Foto JBBG © Erich Reismann
Foto Falb Fiction © Lukas Gansterer
Foto Nenad Vasilic © Press/Nenad Vasilic
Dieser Artikel ist als Broschüre im April 2014 erschienen, in einer deutschen und englischen Version.
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