RADIAN gelten als Pioniere der Wiener Elektronikszene. Seit nunmehr zwei Dekaden widmet sich die dreiköpfoge Band der Erforschung und Entwicklung neuer elektronischer Klangwelten und treibt diese unentwegt voran. Rechtzeitig zum 20-jährigen Bandjubiläum erscheint mit „On dark silent off“ ein neues Album von RADIAN, eines, das musikalisch doch etwas andere Akzente setzt. MARTIN SIEWERT und MARTIN BRANDLMAYR im Interview mit Julia Philomena.
Ihr neues Album trägt den Titel „On dark silent off“ und spielt damit auf ein Zitat des Malers Ad Reinhardt an.
Martin Siewert: Ad Reinhardt ist ein Mann, den wir nicht nur als Künstler, sondern auch als Denker sehr schätzen. Er gehört zu den wenigen Autoren kunsttheoretischer Texte, die für mich auch einen enormen künstlerischen Gehalt aufweisen. Demnach haben wir diesen Albumtitel auch einer seiner Schriften entnommen. Außerdem arbeitet und spielt Radian ja sehr gerne mit Gegensätzen, unerfüllten Erwartungen oder Brüchen und hat die Referenz demnach als sehr passend empfunden.
1999 ist der Kurzfilm „Outer Space“ von Peter Tscherkassky erschienen. Er verwendete Bildmaterial der 80er Jahre, einen Horrorfilm mit Barbara Hershey, der durch ein Kontaktkopierverfahren zu „Outer Space“ wurde. Ebenfalls ein Einfluss?
Martin Brandlmayr: Im Rahmen der Viennale haben wir 2012 in den Räumlichkeiten des Gartenbaukinos live Filme vertont. Da war unter anderem auch „Outer Space“ von Tscherkassky dabei. Das ist ein beeindruckendes Werk und begleitet uns schon lange. Diesen Abend kann man eigentlich als Startschuss für das neue Album und speziell das Stück „On dark silent off“ verstehen.
Wie kann man sich Ihre Vorgangsweise bei der damaligen Filmvertonung vorstellen?
Martin Siewert: Das war von Film zu Film verschieden, rein improvisiert war quasi nichts, aber das passiert uns ja auch eher selten [lacht]. Wenn wir improvisieren, dann im Studio, bei der Entwicklung einer neuen Komposition zum Beispiel. Auf der Bühne ist von unserer Seite immer eine starke Struktur gegeben. In dem Fall waren einige Filme, „Outer Space“ oder auch „La Jetée“ von Chris Marker, ziemlich genau definiert. Wir haben sicher einige Monate dafür geprobt.
Martin Brandlmayr: Innerhalb unserer strikten Struktur eröffnen sich schon ab und an Improvisations-Möglichkeiten. Im Zuge der Film-Arbeit war das aber tatsächlich gar nicht der Fall. Da haben wir uns an einen genauen Ablauf gehalten und nichts dem Zufall überlassen.
“Das Basteln an Radian-Stücken kann man mit dem Basteln an einer Skulptur vergleichen.”
Welche Rolle spielt das Visuelle für Sie heute?
Martin Brandlmayr: Ich würde sagen, dass ich nach wie vor einen sehr visuellen Zugang zur Musik habe. Das Basteln an Radian-Stücken kann man mit dem Basteln an einer Skulptur vergleichen.
Martin Siewert: Auch für mich steht das in einem sich gegenseitig befruchtenden Verhältnis. Wichtig dabei ist mir aber, dass sich (Film)musik keiner Hierarchie unterordnet, Bilder unterstützt oder illustriert. Mich interessieren Szenarien, in denen Egalität hinsichtlich der Hierarchie herrscht. In denen sowohl Film, als auch Musik als eigenständiges Kunstwerk funktionieren können. In diesem Sinne glaube ich auch, dass uns der Viennale-Abend recht gut gelungen ist [lacht]. Radian haben auch jetzt gerade wieder eine große Filmarbeit, gemeinsam mit Billy Roisz und Dieter Kovačič (dieb13) vollendet. Also man kann sagen, das Visuelle bleibt omipräsent.
„Scary Objects“ lautet der dritte Titel des neuen Albums. Inwiefern spielen Emotionen eines Horror-Films, wie man sie auch bei „Outer Space“ erlebt, für „On dark silent off“ eine Rolle?
Martin Siewert: Die Beschleunigungs-Ebene des Films „Outer Space“ war für mich ein guter Input und lässt sich, wenn man danach sucht, auch wiederfinden in der Nummer oder generell im Album.
Martin Brandlmayr: Und natürlich suspense. Ich würde sagen, dass die Nummer mit einer Art zurückgehaltener Spannung beginnt, so lange, bis es zum Ausbruch kommt. Das ist für mich die filmische Referenz.
Können Sie etwas zum Aufnahmeprozess des aktuellen Albums sagen?
Martin Brandlmayr: Ein Aufnahmeprozess ist es bei uns ständig [lacht]. Die ersten Versionen der jetzigen Stücke sind 2012 entstanden, eben u.a. im Rahmen des Viennale-Abends. Von da an haben wir kontinuierlich an den Nummern gearbeitet. Aufgenommen haben wir immer stückchenweise. Es gibt bei uns keine Recording-Sessions. Sukzessive nehmen wir neues Material auf, montieren das an bereits Bestehendes und so wächst das Stück.
Martin Siewert: Wir verwerfen auch wieder. Das ist ein modularer Prozess und die Proben sind dabei sehr entscheidend.
In welcher Regelmäßigkeit finden Proben statt?
Martin Brandlmayr: Es gibt unterschiedliche Modi. Momentan proben wir beispielsweise unsere Live-Versionen. Dafür setzten wir uns zu dritt hin, arbeiten gemeinsam und sehr zeitintensiv. Für eine Platte schaut das ganz anders aus. Da sind dann oft nur zwei da, die sich dann ausschließlich auf das Aufnehmen von Schlagzeug oder Gitarre konzentrieren. Eine andere Probenform wäre die Prozessierungs-Session. Da werden Klänge durch Outboard-Equipment geschickt, wofür Unmengen an Material aufgenommen wurde, das man zuvor teils kollektiv, teils jeder für sich ausgewählt hat.
Martin Siewert: Vieles von dem, was man eventuell als Arrangement bezeichnen könnte, wird von Martin editiert. Wir sammeln lange Zeit diverse, inspirierende Klang-Aggregate, die dann oft von Matz in abgewandelter Form zurückkommen. Er macht schon auch viel alleine.
Martin Brandlmayr: Ein gutes Sinnbild ist vielleicht der Destillations-Prozess [lacht].
Bei den letzten Platten, vor allem in alter Radian-Konstellation, war das Endprodukt ganz klar. Die Stücke waren durchkomponiert, wir sind ins Studio gegangen und haben sie aufgenommen. Jetzt finde ich es sehr interessant, dass durch die verschiedenen Arbeitsweisen, eben teils kollektiv, teils separat, ganz anders in die Nummern eingegriffen werden kann und eingegriffen wird. Mittlerweile entstehen oft erst ganz am Ende die obskursten Variationen. In den letzten drei, vier Wochen hat sich die Musik noch total verändert. Wir sind durchgehend im Studio gesessen und haben herumgeschraubt. Das war für Radian ein ganz neuer Zugang.
Martin Siewert: Es gibt wirklich einige finale Ausformungen, die erst im Endspurt entstanden sind und bei denen jahrelanges Reflektieren ausgeblieben ist [lacht]. Und mit diesen Endergebnissen sind wir eigentlich sehr happy.
An welchem Punkt können Sie ein Stück als fertig betrachten?
Martin Brandlmayr: Wenn es fertig sein muss [lacht].
Martin Siewert: Deadlines sind so gesehen ganz gut. Wenn es keine gäbe, dann würde das wahrscheinlich alles noch wesentlich länger dauern.
Martin Brandlmayr: Darum hat mir dieser letzte Monat so gut gefallen. Weil es wirklich spannend war, dass durch den Zeitdruck so viel passiert ist.
Martin Siewert: Einerseits müssen ja die ganzen technischen Angelegenheiten, wie etwa das Mischen, rechtzeitig stattfinden, und andererseits müssen aber auch die Inhalte termingerecht ausdefiniert werden und Form annehmen. Wenn es keine Deadline gibt, habe ich bei anderen Produktionen gemerkt, dass man den Punkt oft verabsäumt, aufzuhören. In kollektiven Situationen muss das Reflektieren, das Hinterfragen irgendwann beendet werden, sonst beginnt es zu nerven, wird nicht mehr besser und bleibt unvollendet.
Nimmt man mit der Deadline zwangsläufig das Übergehen der eigenen Zufriedenheit in Kauf?
Martin Siewert: Nein, dass man zufrieden ist, ist wichtig! Aber es ist auch wichtig zu versuchen den Überblick zu bewahren, Prioritäten zu setzten und demnach zu entscheiden, in welche Stücke man noch mehr Zeit investieren möchte und in welche nicht. Es gibt ein Stück auf der Platte, „Codes and Sounds“, das ist so unfassbar ungewöhnlich schnell entstanden, wie überhaupt noch nie. Das war eigentlich als Outro für ein anderes Stück gedacht und hat seine jetzige Form nach nur drei, vier Stunden Ausdefinierung gefunden. Dieser schnelle Zugang führt zu einer ganz anderen Direktheit.
Auf der Homepage von Wien Modern ist anlässlich der Album-Präsentation am 5. November 2016 im Semperdepot zu lesen: „Das erste reine Trioalbum in der neuen Besetzung mit Martin Siewert zeigt sich näher an der Rockmusik und am Songformat, als man vor 20 Jahren vorausgesagt hätte – denn da waren beide ja aktuell für tot erklärt worden. Oder geht’s doch eher um eine Rückkehr zu den Wurzeln?“
Martin Siewert: Also mit den Worten „ Rückkehr zu den Wurzeln “ würde ich das Album eher nicht beschreiben (lacht). Zu sagen, es wäre etwas ganz Neues ist aber vielleicht auch etwas anmaßend. Das müssen andere beurteilen. Zweifelsohne gibt es vieles, wodurch sich diese Platte von älteren unterscheidet.
Martin Brandlmayr: Und darum geht es ja auch, etwas Neues hineinzubringen. Das Alte völlig zu verwerfen wollen wir ja gar nicht. Wir werden sicher immer im Radian-Kosmos schweben. Insofern bewegt man sich auch immer in einem gewissermaßen abgeschlossenen Rahmen. Dass wir uns dabei strukturell wiederholen beziehungsweise variieren ist okay. Ich denke, dass die Variation die entscheidende Rolle bei uns spielt. Das „Neue“ lässt sich sicher in der Klanglichkeit finden, oder durch den improvisatorischen Charakter, den wir vorhin näher ausgeführt haben. Dass wir versucht haben, Momente einzufangen, ist zwar auch schon dagewesen, nur sind wir diesmal radikaler damit umgegangen und haben diesen Momenten auch mehr Platz und Bedeutung geschenkt.
Martin Siewert: Auch an Hand der Instrumentierung lässt sich Neues feststellen: Es gibt ein Saxophon, eine akustische Gitarre und sogar ein Guitarron. Und es gibt erstmals einen Gast.
Martin Brandlmayr: Naja, außer auf der Platte mit Howe Gelb [lacht]. Das war wirklich sehr speziell, weil wir uns zum ersten Mal mit fremdem Song-Material auseinandersetzen mussten. Es war ein wunderbarer Prozess und eine schöne Erfahrung, hier einen Zugang finden zu müssen. Da wurden wir aus unserer Blase zwangsläufig herausgerissen.
„In den ersten zwei Jahren war Radian für uns alle Forschungsarbeit.“
Was darf man sich im Zuge des 20-Jahr-Jubiläums von Radian und des bevorstehenden Konzerts erwarten?
Martin Siewert: Es wird einige Stücke von der Platte geben, die wir erstmals live spielen werden. Daran arbeiten wir gerade und das ist auch gar nicht so leicht. Vor allem weil tatsächlich über weite Strecken ein neues Programm zu erleben sein wird.
Wie fällt die Bilanz nach 20 Jahren aus? Haben Sie, was oft behauptet wird, für die elektronische Musikszene Österreichs Pionierarbeit geleistet?
Martin Brandlmayr: In den ersten zwei Jahren war Radian für uns alle Forschungsarbeit. Es ging darum, eine elektronische Ästhetik zu finden, Synthesizer mit akustischen Instrumenten zusammenzuführen oder Klänge und Sounds zu modulieren, die sich an einem Pattern orientieren. Dabei sind sehr viele Stücke entstanden, die ich eigentlich Studien nennen würde. Dass wir irgendwann so einen Pionier-Status einnehmen würden, war nicht geplant.
Martin Siewert: Über die Frühzeit von Radian würde ich als einst Außenstehender sagen, dass es damals nicht viele Ensembles gab, die mit einer so abstrahierten Klangsprache gleichzeitig in einem so ausdefiniert rhythmischen Feld agiert haben. Ich glaube schon, dass dadurch ein neues Bewusstsein geschaffen wurde. Nicht nur in der elektronischen, sondern überhaupt in der neuen Musik.Martin Brandlmayr ist außerdem der einzige Schlagzeuger, der einen so hohen Originalitäts- und Wiedererkennungswert hat, dass die gesamte Welt, also die gesamte Fachwelt, einen Besenwischer von ihm sofort erkennen würde. Wie er groovt, ist irgendwie anders. Warum, weiß ich auch nicht.
Bob Dylan bekommt den Nobelpreis. Ein Grund zur Freude?
Martin Siewert: Ich, als großer Dylan-Verehrer, sage zwar, dass es sehr schade ist, dass er diesen Preis nicht schon 1997 für seine „Time out of Mind“ – Platte bekommen hat, aber besser jetzt, als gar nicht! Ich finde das gut, kann es aber sicher nicht objektiv beurteilen [lacht].
Vielen Dank für das Gespräch!
Julia Philomena
Radian live
05.11. Wien Modern 2016, Semperdepot, Wien (A) – Albumpräsentation
12.11. Alternativa Festival, Prag (CZ)
23.11. Manufaktur, Schorndorf (D)
24.11. Instants Chavires, Paris (F)
25.11. Cafe OTO, London (UK)
27.11. Islington Mill, Manchester (UK)
28.11. The Exchange, Bristol (UK)
29.11. Magasin 4, Brüssel (B)
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