Protagonisten des österreichischen Jazz nach 2000

Vor 20 Jahren wurden sie als Talente und Nachwuchshoffnungen apostrophiert, in den Jahren seit der Jahrtausendwende ist in Österreichs Jazz die Generation der um 1960 Geborenen endgültig in szenetragende Positionen aufgerückt. Gute Anschauungsbeispiele sind etwa Pianist und Komponist Christoph Cech, der seit 1999 das Institut für Jazz und improvisierte Musik an der Anton-Bruckner-Privatuniversität Linz leitet, sowie Saxofonist Wolfgang Puschnig, seit einigen Jahren Vorstand des 2002 gegründeten Instituts für Popularmusik an der Musikuniversität Wien. Von Andreas Felber.

Wolfgang Puschnig (*1956), der in den 1980er-Jahren als Solist des „Vienna Art Orchestra“ (VAO) bekannt wurde, avancierte in den 1990ern in der Versöhnung von kosmopolitischer Offenheit, repräsentiert durch die Zusammenarbeit mit den südkoreanischen Perkussionisten von SamulNori oder die Philly-Funk-Achse mit Ex-Ornette-Coleman-Bassist Jamaaladeen Tacuma, und starkem regionalem Roots-Bezug zum hochrespektierten Modellfall eines europäischen Jazzmusikers: Reflektierte Puschnig in seinem Spiel doch immer bewusster seine Sozialisation in der slawisch beeinflussten Tradition des schwermütigen Kärntnerlieds und entwickelte sich so zu einem hinreißenden „Sänger ohne Worte“, der sein Altsaxofon wie kein anderer seufzen und jubilieren lassen kann.

Obwohl die meisten jener Kooperationen, etwa auch die Mitgliedschaft in der Carla Bley Big Band, auch nach 2000 weiterliefen, bedeuteten die Nullerjahre für Puschnig weniger eine Phase neuer, spektakulärer Projekte denn der Konsolidierung. Mit der exzellenten Duoplatte „Traces“ mit Pianist Uli Scherer (2001) und dem Album „Voices of Time“ mit Saxofonistenkollege Harry Sokal (2005) vereinigte sich Puschnig mit altbekannten Kollegen aus VAO-Tagen. 15 Jahre nach dem Bühnen-Debüt und neun Jahre nach dem letzten Auftritt (beim London Jazz Festival 1997) erweckte er zudem 2006 eines seiner brillantesten Projekte zu neuem Leben: Mit dem Amstettner Musikanten, mit denen er schon 2001 im Rahmen des grandiosen Albums „Alpine Aspects“ österreichische Blasmusiktradition und tiefschwarzen Jazz-Funk verschmolzen hatte, intonierte er auf „Homage To O. C.“ (2008) Ornette-Coleman-Tunes zwischen „In All Languages“ und  „Theme From A Symphony“ aus „Skies of America“.

Eine der interessantesten Arbeiten der letzten Jahre ist – neben „Things Change – The 50th Anniversary Box“ (2006) – weiters Puschnigs auf zwei CDs verbreitetes Opus „Late Night Show“ (2005), auf dem er und Linda Sharrock sich nur vordergründig in die aktuelle Pop-Cover-Welle einklinken und sogar Elvis Presleys „Love Me Tender“ einer Neudeutung unterziehen. Das eigentliche Thema lautet: Entschleunigung. „’Late Night Show’ ist eine Fortsetzung des ‚Chants’-Projekts von 2002“, so Puschnig. „Es geht um langsame Grooves, ich wollte wissen, wie weit man reduzieren und doch die Spannung halten kann. Je langsamer, desto mehr geht es ans Eingemachte.“

Der erwähnte Harry Sokal (*1954), lange Jahre Antipode zu Puschnig im VAO, dem er bis zur Auflösung anno 2010 angehörte, ist bekannt als virtuoser Post-Coltrane-Saxofonist, der die Töne über die Akkorde legt, als würde – so schrieb einmal ein Journalist – „ein Vogel durch vier verschiedene Jahreszeiten fliegen“. Auch Sokal hat in den letzten Jahren eines seiner erfolgreichsten Bandprojekte wieder belebt: Ab 2006 kurvte für einige Jahre wieder das Schweizerisch-österreichische Trio „Depart“ durch den internationalen Jazz-Parcours, das als Drei-Mann-Kraftwerk schon zwischen 1985 und 1994 die europäischen Festival- und Club-Auditorien elektrisiert hatte. Der Relaunch geschah klugerweise unter veränderten musikalischen Vorzeichen: Wo früher hochenergetische Rock- und Funk-Jazz-Grooves mitrissen, da vernahm man jetzt – im Rahmen der Alben „Reloaded“ (2005) und „Mountain Messenger“ (2008) – Verbeugungen vor Jazzinstitutionen wie Charles Mingus und Eddie Harris, aber auch Adaptionen kirgisischer Hirtenmelodien, Schweizer Jodler und zudem ferne Wienerlied-Echos. 2010 legte Sokal weiters die hörenswerte Duo-CD „Stories“ mit Wolfert Brederode vor, auf der er in hochempathische, von melodischem und hermonischen Ideenreichtum geprägte Dialoge mit dem niederländischen Pianisten eintrat.

Der oben genannte Wiener Christoph Cech (*1960) ist in den letzten Jahren neben seiner pädagogischen Tätigkeit in Linz den Tätigkeitsfeldern Komposition und Improvisation treu geblieben. In ersterer Funktion konnte er 2005 in Wien seine zweite, Monteverdi-inspirierte Oper „Orfeo“ zur Uraufführung bringen, weiters die „Messe“ 2008 in Innsbruck im Rahmen der Tiroler Festspiele Erl sowie 2010 die „Totentanz-Fragmente“ im Rahmen von „Imago Dei“ in der Kremser Minoritenkirche. Gemeinsam mit Perkussionist Christian Mühlbacher leitet Cech weiterhin die Mitte der 1980er-Jahre gegründete Bigband „Nouvelle Cuisine“, nach der Auflösung des „Vienna Art Orchestra“ nunmehr ältestes zeitgenössisches Jazzorchester des Landes. Zuletzt dokumentierte „Nouvelle Cuisine“, längst zum Talente-Sammelbecken verjüngt, seine kraftvolle, weitausladende Epik auf den Alben „Live at Porgy & Bess“ (2002), „Mozart Revisited“ (2006) und „gDoon“ (2008). In kleineren Improvisationsensembles ist Cech vor allem als Pianist hervorgetreten, etwa mit der Jimmy-Giuffre-Hommage „Giuffre Zone“ im Trio mit Saxofonist Gerald Preinfalk und dem norwegischen Bassist Per Mathisen (2006) sowie in der Neuauflage des schon um 1990 aktiven Trios „Jubilo Elf“ mit Vokalistin Elfie Aichinger und Schlagzeuger Mecky Pilecky (CD „Live at Porgy & Bess“, 2010).

Der aus Oberösterreich stammende und seit vielen Jahren in Wien lebenden Saxofonist und Komponist Max Nagl (*1960) hat sich zuletzt jener hochkulturellen Sphäre angenähert, in der sich Cech schon seit Langem parallel zur Jazzszene bewegt: Mit „Felix – Ein Jazzmärchen“ (2002, Volksoper Wien), „Der Siebte Himmel in Vierteln. Operette zum Einachteln“ (2005) nach einem Libretto von Franzobel sowie der Kinderoper „Camilo Chamäleon“ (2011) erlebten in den vergangenen Jahren gleich drei Musiktheaterwerke in Wien ihre Premiere, in denen Nagl seine polystilistischen Neigungen ausleben konnte.

Als Instrumentalist trat Nagl u. a. mit dem Quartett „Big Four“ hervor, in dem er sich mit Steven Bernstein (Trompete), Noël Akchoté (Gitarre) und Brad Jones (Bass) aus der Perspektive der freien Musik der Jazztradition nähert und neben Eigenkompositionen auch Standards wie „Lazy River“ in überraschungsreiche, kammermusikalische Arrangements einkleidet (CDs „Big Four“ und „Big Four Live“, aufgenommen 2001 bzw. 2005). Aus den zuletzt beim Eigenlabel „Rude Noises“ veröffentlichten Arbeiten Max Nagls ragen „Boulazac“ (2009) mit den jungen Mitstreitern Clemens Wenger (Keyboards) und Herbert Pirker (Schlagzeug) sowie die Solo-CD „Irresberg“ (2011) hervor, in deren Rahmen Nagl einmal mehr seinem Ruf als meisterhafter Choreograf farbenreicher, lyrischer Stimmungsbilder gerecht wird. Im Zentrum der „13 Stücke, Lieder, denen die Wort fehlen“ steht das Sopransaxofon, dessen Klänge jedoch mit solchen von Tischtennisbällen, Preßlufthämmern und ratternden Filmprojektoren etc. zu fragilen Collagen von entspannter Melancholie destilliert werden.

In den Jahren 1986/87 hatte es Gitarrist Wolfgang Muthspiel und Kontrabassist Peter Herbert (*1960) von Graz aus, wo sie gemeinsam an der Jazzabteilung der Kunstuniversität studiert hatten, in die USA gezogen, um u. a. am Berklee College of Music ihre Kenntnisse zu vertiefen und sich im Folgenden in der New Yorker Szene zu etablieren. Nach rund 15 Jahren in den USA leben heute beide wieder in Europa: Muthspiel seit 2002 in Wien, Herbert seit 2003 in Paris.

Was für Letzteren auch Ausdruck einer Schwerpunktverlagerung innerhalb seines Tätigkeitsspektrums ist, das mit dem Etikett „Jazz“ schon lange nur mehr teilweise beschrieben werden kann. Die Bekanntschaft mit dem libanesischen Sänger und Oud-Meister Marcel Khalife, einem Musiker mit Pop-Star-Status in der arabischen Welt, ließ Peter Herbert tief in den Kosmos der klassischen arabischen Maqams eintauchen. Der Entdeckergeist des gebürtigen Vorarlbergers, der für Symphonieorchester und Kammermusikbesetzungen komponiert, der ebenso selbstverständlich frei improvisiert wie er Standards interpretiert, gilt indessen nicht nur der Breite, sondern im besonderen auch der Tiefe: Sein Instrument selbst avancierte in den letzten Jahren zum Forschungsgegenstand. Erstmals dokumentiert wurden die Expeditionen ins Innere des Kontinents Kontrabass bereits 1993 im Rahmen der CD „King Oedipus And Other Calamities“ (mit Dave Liebman als Gast). Mit den Solo-Schlüsselwerken „Bassooka“ (2001) und „Naked Bass“ (2005) bringt Herbert sein seit 30 Jahren entwickeltes Vokabular an Sounds und Techniken auf den Punkt. Um einige jener Funde aus dem Kontrabass-Klang-Labor im spektakulären Sextett „Bass Instinct“, in dem sich Herbert mit den Solo-Bassisten der führenden Wiener Symphonieorchester vereinigt, wieder in den Ensemble-Kontext zu projizieren. Zuletzt outete sich Peter Herbert im Zuge der CD „Joni“ (2011) als Fan der kanadischen Songwriterin Joni Mitchell. Die Melodielinien  ihrer Lieder – gesungen von Vokalistin Ena alias Verena Pruka – bleiben im Zuge der Bearbeitungen intakt, sehen sich allerdings mit harmonisch herben, rissigen Streichquartett-Texturen unterfüttert, gespielt vom Wiener Koehne-Quartett um Joanna Lewis. Selten steckte in einem Bassisten ein derart vielgestaltiger musikalischer Kosmos.

Für Gitarrist Wolfgang Muthspiel (*1965) war die Übersiedlung von New York nach Wien, so scheint es rückblickend, auch mit einer ästhetischen Neuorientierung verbunden. Die in den Jahren 2000 und 2002 erschienenen, noch vor der Rückkehr nach Österreich entstandenen Alben „Daily Mirror“ bzw. „Beloved“ mit der norwegischen Sängerin Rebekka Bakken gaben den Kurs für eine stärkere Fokussierung von Songstrukturen und kantablen Melodielinien vor: Eine Entwicklung, die sich etwa auch im Übergang vom Trio mit Marc Johnson und Brian Blade (CDs „Real Book Stories“ und „Air, Love And Vitamines“, 2002/2004) hin zum rein österreichisch besetzten Dreier mit dem Tiroler Bass-Schlagzeug-Zwilling Matthias und Andreas Pichler (CD „Bright Side“, 2006) bzw. im „Friendly Travellers“-Duo mit dem ebenfalls Songwriting-affinen Brian Blade manifestierte. Dass Muthspiel 2012 im Rahmen des Solo-Albums „Vienna Naked“ erstmals tatsächlich seine Stimme erhob und sich als – durchaus fähiger – Singer/Songwriter outete, mutet rückblickend beinahe wie ein logischer Schritt an. Weitere wichtige Arbeiten Wolfgang Muthspiels aus den letzten Jahren dokumentieren seine Zusammenarbeit mit den Gitarristenkollegen Ralph Towner und Slava Grigoryan (CD „From A Dream“, 2008) sowie mit seinem ehemaligen Lehrer am New Englad Conservatory in Boston, Mick Goodrick (CD „Live At The Jazz Standard“, 2010). 2011 legte Muthspiel zudem das Debüt seines „DrumFree“-Trios mit Saxofonist Andy Scherrer und Bassist Larry Grenadier vor, erschienen wie alle anderen CDs auf Muthspiels anno 2000 gegründetem Label Material Records.

Wolfgangs älterer Bruder Christian Muthspiel (*1962), dem er bis 2003 (CD „Early Music“) durch eine langjährige Duozusammenarbeit verbunden war, startete nach Beendigung seines zehnjährigen Engagements als Posaunist im „Vienna Art Orchestra“ 2004 durch: Das neu formierte Trio mit den beiden ehemaligen VAO-Kollegen Franck Tortiller (Vibrafon) und Georg Breinschmid (Bass) legte 2007 die CD „Against the Wind – The Music of Pirchner & Pepl“ vor. Inhalt: Bearbeitungen der Musik des in den 1980er-Jahren auf Europas Jazzbühnen erfolgreichen österreichischen „JazzZwios“, bestehend aus Gitarrist Harry Pepl und Vibrafonist Werner Pirchner. 2009 folgte mit „Dancing Dowland“ ein weiteres Muthspiel-Trio-Album, für das John Dowlands bekannte Tanzmusiksammlung „Lachrimae, or Seaven Teares“ aus Ausgangsbasis fungiert. 2010 hatte beim Jazzfestival Saalfelden zudem Christian Muthspiels u. a. mit Trompeter Matthieu Michel, Bassist Jerome Harris und Schlagzeuger Bobby Previte besetzte „Yodel Group“ Premiere, die seither in ganz Europa alpine Jodlergesänge in respekt- und kunstvollen Reharmonisierungen zelebriert und sie so zu Improvisationsvorlagen umdeutet. Die Musik der „Yodel Group“ ist auf den Alben „May“ (2010) und „Huljo“ (2011) dokumentiert.

Parallel dazu ist Christian Muthspiel zuletzt als Dirigent klassischer Orchester wie der Camerata Salzburg und dem Münchener Kammerorchester verstärkt in Erscheinung getreten. Ausgebaut hat er auch die kompositorische Tätigkeit. So fanden in den vergangenen Jahren die Uraufführungen des „Eine Art Requiem (…meines Vaters schöne Weisen…)“ betitelten Doppelkonzerts für Violine, Cello and Orchester (2002), des Konzerts für Posaune und großes Orchester „ENNAHH…(an Albert Mangelsdorff)“ (2006) und eines Konzerts für E-Gitarre und Orchester namens „Little Big Guitar Dance“ (2011) statt. Letzteres mit dem Staatsorchester Hannover unter Dirigent Christian Muthspiel. Und natürlich mit Bruder Wolfgang als Solist.

Vierteltontrompeter Franz Hautzinger (*1963) trat anno 2000 mit einem wegweisenden Solo-Album herbor: Mit „Gomberg“ erschloss er lange nach dem Ende der Moderne tatsächlich über direkte Arbeit am Material eine neue, höchst differenzierte Klanggrammatik, mithin eine unbekannte musikalische Welt: Blasgeräusche, Stimmlaute, perkussive Akzentketten, blubbernde, fauchende, zischende Klänge in mannigfaltigen Oberton-Schattierungen und dynamischen Abstufungen, sie waren hier zu hören und sahen sich höchst musikalisch in flüchtige akustische Skulpturen, feinnervige Klangfarben-Melodien oder faszinierende soundozeanische Fluten und Wogen gegossen. Hautzingers Album nahm auch die Entwicklung vorweg, die die (frei) improvisierte Musik in den Nullerjahren beschäftigen sollte: Galt es doch, nach Abflauen des Booms digitaler Sounds die in langen Laptop-Sessions erarbeiteten Materialien, etwa die Drone-orientierte Morphologie oder die neu erwachte Sensibilität für Klangfarben, nun auf akustisches Instrumentarium zu übertragen. „Gomberg“ bedeutete auch das Ticket für einen Studiotermin mit Derek Bailey. Wenige Monate nach der Veröffentlichung trafen sich der österreichische Trompeter und der „non-idiomatische“ Improvisationsphilosoph in London, das Resultat der Session sah sich 2002 auf der CD „Derek Bailey/Franz Hautzinger“ veröffentlicht: Baileys kantige, spröde E-Gitarren-Splitter hoben sich markant gegen die dunklen Soundflächen und die obertonreichen Impulsketten ab.

Nach Arbeiten mit Blickrichtung „Klangmikroskopie“, etwa in wechselnden Kooperationen mit den britischen „AMM“-Veteranen Keith Rowe (CD „A View From The Window“) und John Tilbury (CD „Absinth“), griff Hautzinger in einigen Projekten wieder bewusst auf Grooves und tonales Melos zurück, ohne den erreichten Materialstand zu verleugnen. Treibende, handgemachte Rhythmen, Funk- und Dancefloor-infiziert, eine bluesig-kraftvolle E-Gitarre und fahrige Sampler-Interventionen waren da schon 2003 anlässlich eines Konzerts im Porgy & Bess zu hören, zudem ein Christian Fennesz, dessen grobkörnig granulierte Geräuschstrukturen sich rhythmisch in die elektrisierend dichte Textur einklinkten. Der Trompeter selbst warf blubbernde, fauchende Sounds in die hochenergetische Free-Groove-Schlacht, um immer wieder mit klarem Trompetenton feurige Linien zu ziehen: Hier gelang tatsächlich ein stimulierender Brückenschlag zwischen dem Rockjazz der 1970er und den Electronica-Sounds und -Beats der 1990er- und 2000er-Jahre. Als „Regenorchester XII“ wurde das Projekt in der internationalen „Dream Team“-Besetzung mit Hautzinger, Fennesz, Otomo Yoshihide, Luc Ex und Tony Buck im Dezember 2006 im Rahmen des SWR2 NEW Jazz Meeting in Baden-Baden in jene grandiose Form gegossen, die 2008 unter dem Namen „Town Down“ auf Tonträger  erschien. Unter den Projekten der letzten Jahre sticht vor allem „Franz Hautzinger‘s Poet Congress“ heraus, jenem frei improvisierenden Sextett, in dem sich die Klänge des Trompeters, Burkhard Stangls (Gitarre) und Manon-Liu Winters (Klavier) sowie die Text-Improvisationen und Vokalisen von Steve Gander, Christian Reiner bzw. der auch an der Klarinette tätigen Französin Isabelle Duthoit glückhaft wechselseitig stimulieren (CD „Weltallende“, 2012).

Der aus Niederösterreich stammende und großteils in Wien lebende Akkordeonist Otto Lechner (*1964) ist in Österreich maßgeblich dafür verantwortlich, das sein Instrument aus dem Eck verstaubter Gestrigkeit geholt wurde und man heute weiß, dass der „Quetsch‘n“ auch zeitgemäße Töne zu entlocken sind. Der Musiker, der in den 1990er-Jahren als Mitglied von Guy Klucevseks „Accordion Tribe“ international bekannt wurde, zeichnet sich in seinem musikalischen Output durch – so Lechner über Lechner – „für ihn selbst irritierende Vielseitigkeit“ aus: Während er alle zwei Jahre im Advent trashig-folkige Weihnachtslieder mit Klaus Trabitsch und den „Bethlehem Allstars“ intoniert, ist Lechner ebenso in avancierten Improvisationsdialogen mit Saxofonist Max Nagl zu vernehmen (CD „Flamingos“ im Trio mit Bassist Brad Jones, 2003). Soloprogrammen mit Eigenkompositionen, inspiriert von österreichischer bis bosnischer Volksmusik, steht die klingende Illuminierung von Martin-Walser- und Thomas-Bernhard-Lesungen seiner Lebenspartnerin, der ehemaligen Burgschauspielerin Anne Bennent, gegenüber. Wie auch die klangfarbenfrohe Gestaltung von Franz-Kafka- und Nizami-Hörbüchern. Im Zuge der von Lechner mitinitiierten Akkordeon-Renaissance wurde im Jahr 2000 auch das Wiener Akkordeonfestival gegründet, bei dem er regelmäßig zu Gast ist – und anno 2009 sogar ein 20-köpfiges Orchester, bestehend ausschließlich aus Instrumentalkollegen, präsentierte.

Wie Lechner hat der Kärntner Akkordeonist Klaus Paier (*1966) tatkräftig mitgeholfen, dem Instrument ein neues, hipperes Image zu verpassen. Im Duo mit Saxofonist Gerald Preinfalk (CD „More Than Tango, 2000), im langjährigen Trio mit Bassist Stefan Gfrerrer und Schlagzeuger Roman Werni (CDs „Tiempo“, 2005, und „Dragonfly“, 2008), sowie solo schlägt Paier Brücken zwischen Rio de la Plata, New Orleans und dem Balkan und zelebriert die eigenkomponierten Resultate in hochexpressiv ausgesungenen Melodien. Unter den Solo-Opera ragt die CD „Vibrations“ (2007) heraus, in deren Rahmen Paier sich selbst an Akkordeon bzw. Bandoneon per Overdub zu Trios und Quartetten klonte. Eine langjährige Zusammenarbeit verbindet ihn auch mit dem Radio.String.Quartet.Vienna, mit dem er u. a. 2008 die CD „Radiotree“ vorlegte. Im Duo mit der kroatischen „Radio.String.Quartet“-Cellistin Asja Valcic nahm Klaus Paier, ein stiloffener Geist und leichtfüßiger Improvisator, 2008 zudem die CD „À Deux“ auf, auf der Tango-, Musette- und klassische Einflüsse in substanzvolle Ethno-Jazz-Kammermusik-Formen gegossen werden.

„Ich war vom ersten Ton an fasziniert, wie sich diese Gruppe meiner Musik genähert und sie sich zu eigen gemacht hatte. Sie haben sogar die Atmosphäre getroffen, die damals herrschte. Tief berührt hat mich auch der Stellenwert, den sie der Improvisation beimessen. Und wie sie improvisieren! […] Dies ist kein gewöhnliches Streichquartett. Die leidenschaftliche Hingabe der vier Musiker an ihre Instrumente ist bewundernswert. Und dass es ihnen gelungen ist, Musik, die eigentlich elektrischer Fusion-Jazz ist, mit Elementen ihrer klassischen Herangehensweise zu verschmelzen und dabei die ‚elektrische‘ Atmosphäre zu erhalten, ist einfach einzigartig“, so schrieb niemand Geringerer als John McLaughlin in den Liner Notes zur 2007 veröffentlichten CD „Celebrating The Mahavishnu Orchestra“, die den internationalen Durchbruch des Radio.String.Quartet.Vienna (RSQV) bedeutete: Der 2004 gegründete Vierer um Violinist Bernie Mallinger demonstrierte, dass es tatsächlich möglich ist, die elektrifizierte Energie des Rock-Jazz der 1970er-Jahre nicht nur glaubhaft, sondern mit einem gewissen Mehrwert auf eine Streicher-Besetzung zu übertragen. Druckvolle Kompaktheit, enormer Klangfarbenreichtum, exakt groovendes Timing bei dennoch kammermusikalischer Stimmbalance und Beweglichkeit: Dank dieser bewährten Tugenden startete das nach klassischem Vorbild mit zwei Violinen (Mallinger, Igmar Jenner), Viola (Cynthia Liao) und Cello (Asja Valcic) besetzte Streichquartett in der Folge einen internationalen Erfolgslauf mit ausgedehnten Europatourneen. Auch die CD-Nachfolger „Radiotree“ (2008) und „Radiodream“ (2011) überzeugten. Im Rahmen des ersteren begleitete Akkordeonist Klaus Paier die Quartettanten auf ihrer klingenden-Reise durch Tangos und Tarantellas, wobei das Thema Rock-Jazz diesmal in Gestalt von Bearbeitungen dreier „Weather Report“-Hits aus der Feder Joe Zawinuls präsent war: So sah sich etwa die Ballade „A Remark You Made“ in leuchtenden Farben kraftvoll energetisiert, während Paiers Akkordeon die Melodie gekonnt aussang. Mit „Radiodream“ legte das RSQV, das 2010 im Rahmen der CD „Calling You“ auch mit der schwedischen Sängerin Rigmor Gustafsson kollaborierte, hingegen ein ambitioniertes Konzeptalbum vor: Das Streichquartett geht hier dem Thema „(Alb-)Traum“ in Stücken von Radiohead, Franz Liszt und Henry Mancini auf den Grund, changiert in den Arrangements clever zwischen klangsinnlicher Verführung und quecksilbriger Doppelbödigkeit – und lässt Billie Holidays „Strange Fruits“ in hörenswerter Weise zur collagenhafte Soundscape mutieren.

Aus der Generation der um und nach 1970 Geborenen ist der aus Reutlingen bei Stuttgart stammende Ulrich Drechsler (*1969) zu erwähnen, der in Graz studiert hat und seit 1999 in Wien sesshaft ist. „Café Drechsler“ hieß das Trio mit dem der Tenorsaxofonist und Klarinettist bekannt wurde, gemeinsam mit Bassist Oliver Steger und Breakbeat-Schlagzeuger Alex Deutsch produzierte er frei improvisierte Groove-Musik für Party- und Club-Lounges. 2006 überraschte Drechsler mit der CD „Humans & Places“ mit dem norwegischen Pianisten-Shootingstar Tord Gustavsen, auf der man plötzlich weit geschwungene, eingängige Melodielinien, dezenten Puls und luzide kammermusikalische Kontrapunktik vernahm, kurz: Musik, die sich geschmackvoll irgendwo zwischen Folklore Imaginaire und der ausgesparten Klarheit des ECM-Sounds bewegt. In Richtung Kammerjazz hat Drechsler, der sich mittlerweile ausschließlich auf die Bassklarinette konzentriert, seither in diversen Projekten erfolgreich weiter gearbeitet, u. a. mit seinem mit zwei Violoncelli und Schlagzeug besetzten „Cello Quartet“ (CD „Concinnity“, 2010) sowie im Rahmen der Trio-CD „Beyond Words“ (2012) mit der in Berlin lebenden israelischen Sängerin Efrat Alony als Gast.

Als „österreichische Norah Jones“ wurde in den Medien immer wieder die Salzburger Sänger-Pianistin Sabina Hank (*1976) apostrophiert. Vom Jazz ausgehend, hat sich Hank mit den Jahren zunehmend als Singer-Songwriterin zwischen Pop, Jazz und klassischen Einflüssen positioniert. Besondere Beachtung verdienen die beiden 2007 veröffentlichten CDs „Inside“ und „Nah an mir“, in denen sie ihre eingängigen, ausdruckstarken Lieder einmal auf englisch, einmal auf deutsch intoniert. Zudem hat Hank, die im Jahr 2008 ein Benjamin Schmid gewidmetes Violinkonzert beim „Mattseer Diabellisommer“ zur Uraufführung brachte und mit Bob Mintzer und Maria Schneider zusammen arbeitete, im selben Jahr auch die Doppel-CD „Abendlieder“ mit Österreichs Dialekt-Pop-Grandseigneur Willi Resetarits vorgelegt. Der Inhalt: Kunstvolle und doch zugängliche Vertonungen von Texten der österreichischen Autoren Jura Soyfer und H.C. Artmann.

Zu guter Letzt sind da zwei Musiker zu nennen, die aus Mathias Rüeggs „Vienna Art Orchestra“ hervorgegangen sind und mittlerweile eigene Karrierewege eingeschlagen haben: Der aus Niederösterreich stammende Trompeter Thomas Gansch (*1975) ist in Österreich vor allem durch das populäre, 1992 von Studenten der Wiener Musikuniversität gegründete Blechbläser-Ensemble „Mnozil Brass“ bekannt:  In rund 100 Konzerten pro Jahr verbreitet diese siebenköpfige – so die Eigenbezeichnung –  „Selbsthilfegruppe für gescheiterte Klassikstudenten“ Gute-Laune-Musik in Gestalt eines amüsant zelebrierten Zitatfeuerwerks aus Film-Melodien, Polkas, Mozart- bis Bruckner-Fragmenten sowie trashigen Gesangseinlagen. Ermutigt durch seine „wahre Studienzeit“ (Gansch über Gansch) im „Vienna Art Orchestra“ (1998-2006), betreibt der Trompeter zudem auch eigene Jazzprojekte: 2002 erschien das Debüt-Album seiner neunköpfigen „little big band“ namens „Gansch & Roses“, auf dem er ein fulminantes, geistreiches Feuerwerk an musikantischem Spielwitz und Virtuosität abbrennt. Gleich akustischen Comic-Strips werden der Hörerschaft bereits im Opener „Tom & Jerry“ Zitate und rasch geschnittene, zeitrafferartige Bild-Sequenzen um die Ohren geblasen, und in dieser Tonart geht es weiter. Thomas Gansch treibt seine luxuriös besetzte Mini-Bigband zu einer Tour de Force durch die Jazzgeschichte an, in der freilich auch immer wieder hörbar wird, dass die Blasmusiktradition das fette Substrat für den aus einer Musikerfamilie stammenden Trompeter abgibt. Seither sind drei weitere CDs von Gansch & Roses erschienen, zuletzt „Resal“ (2010) mit einem erneut kurzweiligen Programm zwischen „Italian Folk Song“-Paraphrase, New-Orleans-Hommage und Dizzy-Gillespie-Tribute. Zudem stellte sich der Trompeter anno 2008 im Wiener Porgy & Bess mit einer „regulären“, 17-köpfigen „Thomas Gansch Big Band“ vor. Und er beliebt mit Bassist Georg Breinschmid im musikkabarettistischen Duo aufzutreten.

Proben dieser gleichermaßen vergnüglichen wie erzmusikantischen Duette sind auf den drei CDs zu finden, die Kontrabassist Georg Breinschmid (*1973) bis dato unter eigenem Namen veröffentlicht hat. Der wie Gansch im niederösterreichischen Amstetten geborene Musiker studierte klassischen Kontrabass an der Wiener Musikuniversität und arbeitete im Anschluss zwei Jahre lang bei den Wiener Philharmonikern, ehe er sich entschloss, dem Orchesterdienst zu entsagen und sich stattdessen dem Jazz zu widmen. Auch für ihn bedeuteten die sieben Jahre im „Vienna Art Orchestra“ (1999-2006) eine wichtige Reifephase: Schon während dieser zeit spielte Breinschmid eine Trio-CD mit Waldhornist Arkady Shilkloper und Gitarrist Alegre Corrêa ein („Mauve“, Hans-Koller-Preis für die „CD des Jahres“ 2002), nach seinem Ausstieg legte er das Debüt „Wien bleibt Krk“ (2008) vor: Ein Kaleidoskop der Musiken und Besetzungen, mit dem Breinschmid seine breiten musikalischen Interessen andeutet. Diese umfassen etwa metrisch vertrackte bulgarische Volksmusik, der Breinschmid auf der CD mit dem norwegischen Balkan-Experten Stian Carstensen und dem auch als Jazzer nicht unbekannten klassischen Violinisten Beni Schmid frönt. Und diese umfassen Wienerlied-inspirierte Songs aus eigener Feder, die Breinschmid mit unmanieriertem Sprechgesang intoniert. Die 2010 veröffentlichte Doppel-CD „Brein’s World“ stellt den Bassisten erneut in illustrer Freundeschar vor, wiederum im Duo mit Trompeter Thomas Gansch, im Quartett „XXXClass“ mit dem Schweizer Saxofonisten Daniel Schnyder, vor allem aber im Trio „Brein’s Cafe“, mit Violinist Roman und Pianist Frantisek Janoska aus der Slowakei. Gemeinsam stimmt man freigeistige Musette-Walzer, „7/8-Landler“ und „Todespolkas“ an, fingerbrecherische Abgründigkeiten, die sich auf der Doppel-CD „Live“ (2012) gar zu einem „Voodoo-Wienerlied“ auswachsen.

Ja, die österreichische Jazzszene ist reich an jüngeren und älteren musikalischen Charakterköpfen. Jahrzehnte nach dem Ende der Postmoderne beweisen diese immer wieder auf‘s Neue, dass die Enwicklung unverwechselbarer, an den ersten Tönen identifizierbarer musikalischer Signaturen auch im zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends immer noch möglich ist.

Foto Harry Sokal: R. Schuster
Foto Wolfgang Muthspiel: Laura Pleifer, lauraplei@me.com
Foto Christian Muthspiel: Ursula Kaufmann
Foto Franz Hautzinger: Clara Zalan
Foto Otto Lechner: Klaus Tauber
Foto Klaus Paier: Jörg Becker
Foto Ulrich Drechsler: Wolf-Dieter Grabner
Foto sabina Hank: Markus Roessle
Foto Thomas Gansch: Julia Wesely
Foto Georg Breinschmid: Julia Wesely