Porträt: Thomas Wally

Man stelle sich vor, eine Mutter geht zum Friseur – und ihr Filius nutzt die unbeobachtete Gelegenheit anstelle anderen Unfugs (oder zusätzlich zu solchem?), diverse Kügelchen auf Papier zu zeichnen. So geschehen nach aktueller und wohl einigermaßen authentischer Erzählung des einstigen Jungkünstlers selbst im Hause Wally. Dass jene Kritzeleien dann aus heutiger Sicht verdächtig nach Bach-Inventionen klangen, wenn sie die heimgekehrte Frau Mama am Klavier “vorspielte”, mochte einem weit voraus schauenden erzieherischen Konzept zuzuschreiben sein: Das so erhaben Klingende mag für Klein-Thomas sicherlich um einiges motivierender gewesen sein, als die tatsächlichen Eigenschöpfungen.

Melancholie, Ironie und Partylaune.

Thomas Wally (1981) würde dem gerne herangezogenen Begriff von der erblichen Vorbelastung wohl eher mit Vorbehalt zustimmen. Viel lieber spricht er von Beziehungskonstellationen und -formen, die auch über Generationen Wirkung entfalten können. In seinem Fall ist dieses Beziehungsgeflecht jedenfalls schon im engsten Familienbereich ein sehr dichtes: Der Großvater Ernst Tittel (1910-1969) wirkte seit den frühen 1930er-Jahren als angesehener Organist, Lehrer und Komponist in Wien und prägte hier die österreichische Kirchenmusik bis in die ersten Jahre nach Abschluss des zweiten Vatikanischen Konzils. Auch wenn Thomas Wally erst zwölf Jahre nach Tittels Tod zur Welt kam, so mochten die Spuren des Ahnen in verschiedenster Form atmosphärisch präsent sein. Wallys Mutter studierte Schulmusik und ist bis heute begeisterte Sängerin, sein Vater hatte eine Oboenkarriere angedacht, sich dann aber für ein Germanistik- und Romanistik-Studium entschieden.

Ungewöhnlicherweise stammen aus seiner Hand sowohl Grammatikbücher für Italienisch als auch für Französisch. In den drei Söhnen verbinden sich auffällig viele all dieser Elemente: Ernst (1976) wurde in den Fußstapfen des Großvaters sowohl Organist als auch Komponist, wirkte bereits an mehreren prominenten Wiener Kirchen und ist seit 2007 Assistent der Dommusik von St. Stephan. Johannes (1978) befasste sich zwar intensiv mit Gitarre und E-Gitarre, studierte aber schließlich Anglistik und Germanistik. Bei Thomas Wally wiederum stehen wie bei seinem älteren Bruder Ernst die praktische Musikertätigkeit und das Komponieren gleichberechtigt nebeneinander. Hatte er die frühen Kügelchen noch ohne detailliertere Kenntnis von deren Bedeutung zu Papier gebracht, so begann er im Alter von sechs Jahren mit dem systematischen Aufschreiben von Noten, die je nach Stimmung und Laune Barock-, Klassik- oder Romantikstilisierungen entsprachen. Weit bemerkenswerter erscheint freilich eine frühe Leidenschaft für Musiktheorie, die ihn beispielsweise bereits im achten Lebensjahr ein von einer Klosterschwester in der Schule erhaltenes Lehrbuch abschreiben ließ.

Schien sich dennoch – nach zehnjährigem Privatunterricht, zwei Jahren Konservatorium und schließlich einem Studium bei Josef Hell an der Wiener Musikuniversität – alles in Richtung einer professionellen Geigerlaufbahn zu entwickeln, so brachte eine heute wohl am ehesten als “burn out” definierte, vorübergehende Krise eine wesentliche Zäsur: Mitten im Studiensemester begab Thomas sich auf ärztliches Anraten zur Erholung nach Südafrika und fand durch eine “World Music”-CD im Pfarrhaus eines mit der Familie befreundeten Missionars in Durban zu dem Entschluss, nun auch selbst professionell komponieren zu wollen. Anfangs noch verunsichert – Bruder Ernst riet zum Bereich Medienkomposition, die eigene Tendenz ging eher in Richtung Jazz zumal die gängige zeitgenössische Musik ihm eher weniger zusagte – kam schließlich die Liebe zum Metier durch das Selbermachen: Im Tonsatzunterricht zunächst, seiner Theorieneigung entsprechend, vor allem an Harmonielehre und Kontrapunkt interessiert, stellte ihm sein nunmehriger Lehrer Dietmar Schermann ab dem zweiten Jahr immer öfter die Frage nach eigenen Kompositionen. Dadurch animiert entstanden nun neben weiteren Stilübungen bald eigenständige Werke, wobei mit jedem neuen Stück die Begeisterung für den schöpferischen Aspekt wuchs. Das eigentliche Kompositionsstudium bei Erich Urbanner wurde während eines Erasmusjahres an der Sibelius-Akademie in Helsinki (Komposition bei Paavo Heininen, Violine bei Erkki Kantola und Päivyt Meller) mit wesentlichen Einflüssen ergänzt und schließlich wieder in Wien nach der Emeritierung von Urbanner bei Chaya Czernowin ebenso wie das Geigenstudium mit Auszeichnung zum Abschluss gebracht.

Es mag bezeichnend für Thomas Wallys Individualismus sein, dass er sich für sein Auslandsjahr nicht eine pulsierende Weltmetropole wie London, Paris oder New York aussuchte, sondern partout die finnische Hauptstadt – die unter Kennern freilich seit langem ein Geheimtipp als Zentrum zeitgenössischer Kunst und Musik ist. Für ihn war dort nicht nur das hohe Niveau der Universität und die Persönlichkeit Heininens beeindruckend, sondern insbesondere die Offenheit und Zukunftsorientiertheit der Stadt und die Aufgeschlossenheit für neue Musik. Dass er etwa in einem Konzert in Espoo ausschließlich neue Werke jedoch ästhetisch unterschiedlichster Art – Sampo Haapamäkis Design, ein Werk Unsuk Chins und ein “traditionelles” Cellokonzert – hören konnte, unterschied sich doch sehr von dem hierzulande Üblichen. Dass es für all das Riesenapplaus gab und dass Komponisten dort an der Universität “weniger schräg” (Wally) angesehen werden als in Wien, eröffnete ihm neue Betrachtungsweisen.

Blickt Wally auf seine Lehrzeit zurück, so sind es auf die einzelnen Lehrer bezogen bei Schermann die mitreißende Begeisterung für Musik, bei Urbanner der ungezwungene Zugang zum Komponieren und die Lust am Schreiben, bei Heininen die systematische Reflexion des eigenen Tuns und bei Czernowin ein ständiges sich Hinterfragen und eine atypische Art von philosophischem Zugang, die er dem Unterricht als für sich prägend entnahm.

Seine Rolle als junger Komponist betrachtet Thomas Wally keineswegs als eine missionarische Aufgabe gegenüber der Gesellschaft, sondern vielmehr als etwas, das aus dem eigenen Wollen heraus zu geschehen hat, etwas, das ihm Spaß macht, ihn fasziniert und ihn weiterbringt. Das Herangehen an ein neues Stück ist für ihn dabei jedes Mal Neuland, in dem er sich zwar nicht zu verirren fürchtet, das aber doch immer eine gewisse Herausforderung darstellt. Gleichermaßen selbstbewusst und mit einem vielleicht “leicht verkümmerten politischen Sendungsbewusstsein” (Wally) meint er präzisierend, dass ein gutes Stück ohnedies keine andere Herausforderung benötige als seine Qualität.

Kann man den Geiger Wally als Substitut der Wiener Philharmoniker und des Wiener Staatsopernorchesters ebenso erleben wie in nahezu allen führenden Wiener Ensembles für zeitgenössische Musik – so dem Klangforum Wien, dem Ensemble Wiener Collage, dem Ensemble Reconsil, dem Ensemble on_line Vienna und dem u. a. von ihm und seinem Bruder Ernst mitbegründeten ensemble LUX -, so besteht natürlich auch ein Rückbezug des Instrumentalen auf das Schöpferische. Vor allem durch das häufige Spielen neuer Musik gelangte er für sich zu der Maxime, stets “so schwer wie nötig, aber so leicht wie möglich” (Wally”) zu schreiben. Als Komponist reflektiert er jede Note demnach auch aus der Sicht eines Ausführenden. Und so stellt sich denn schon einmal die Frage, ob ein einziger Lauf dreißigstündiges Üben rechtfertigt – wenn man ihn überhaupt nicht wirklich hören kann.

Weitere, rein praktische Aspekte des Doppelberufs: die Auswirkungen der vielseitigen Kontakte des Geigers Wally für den Komponisten und des Komponisten für den Interpreten, die ihm zahlreiche Anregungen bieten und sich in vielen konkreten Projekten niederschlagen. Durch das Geigenspiel eröffnete sich ihm während der letzten Jahre auch ein neuer Zugang zur älteren Musik (in seinem Fall: der Musik vor 1950!), während sich durch das Spielen neuer Musik – deren vielfältige technische Herausforderungen – eine deutliche Verbesserung des Blattspiels entwickeln konnte.

Erst seit etwa sechs, sieben Jahren als Komponist auch professionell in Erscheinung getreten, konnten einige seiner mittlerweile über zwanzig gültigen Werke bereits nicht nur in Österreich, sondern auch international reüssieren. Insbesondere das 2003 entstandene und 2004 als Pflichtstück zum II. Internationalen Joseph Haydn-Kammermusikwettbewerb der Wiener Musikuniversität erkorene Streichquartett Vier Bagatellen konnte zahlreiche Aufführungen im In- und Ausland erzielen. Mit Verästelungen für 19 Solostreicher stand er im Finale des Jeunesses Musicales-Kompositionswettbewerbs Bukarest 2005, und mit dem Klavierstück impressions.en relief gewann er im Mai 2008 den dritten Preis beim music+culture international competition for composers in den USA. Wurde dieses Werk heuer auch beim Berliner Ultraschall Festival aufgeführt, so blieb dies 2009 nicht das einzige bemerkenswerte Ereignis im Komponistendasein. Am 4. Mai brachte Peter Keuschnig mit seinem Ensemble Kontrapunkte im Brahms-Saal des Wiener Musikvereins loops&grids zur Uraufführung, im September das Trio EIS Caprice für Streichtrio bei den Schwazer klangspuren. Die Vier Bagatellen, in diesem Frühjahr mehrfach gespielt, erklangen im Oktober ebenfalls im Musikverein.

Am 18. November hat ein neues Ensemblewerk am Moskauer Tschaikowsky-Konservatorium mit dem Ensemble Studio Neue Musik Premiere. Und am 28. November wird die Solistin und Widmungsträgerin Bojidara Kouzmanova das Violinkonzert …und ein einziger Ton weinte in einem Frühling… aus der Taufe heben, mit dem Wally Anfang dieses Jahres den Helmut Sohmen Kompositionspreis gewann. Er selbst wird sein Konzert im Februar 2010 bei einem Austauschkonzert in Hongkong interpretieren. Bereits zuvor erklingt noch am 18. Dezember ein neues Stück für Klavier, Akkordeon und Streichquartett im Wiener Arnold Schönberg Center und am 19. Jänner ein Werk für Violine und Klavier im Österreichischen Kulturforum in New York.

Dass bei all dem auch Zeit für Hobbys, für ein Privatleben bleibt, wagt man nicht wirklich anzunehmen – und doch fördert eine entsprechende Nachfrage eine Leidenschaft für Lesen (Wally-Tipp: “The Hitchhiker’s Guide to the Galaxy” von Douglas Adams), Quentin Tarantino-Filme (“Kill Bill 2”), aktives Fußballspielen und – vielleicht als Zugeständnis an die eigene Poptrio-Vergangenheit mit seinen Brüdern in den Jugendtagen – die Pet Shop Boys zutage. An letzteren schätzt er die ihnen eigene intelligente Verbindung von Melancholie, Ironie und lebensbejahendem Partygefühl. Mag sein, dass mancher der ihn kennt, gerade darin auch eine verkürzte Selbstbeschreibung des Thomas Wally erkennen mag.

Christian Heindl