Porträt: Tanja Brüggemann-Stepien

„Min Deern“ heißt das neueste Werk von Tanja Brüggemann-Stepien. Im Rahmen von Wien Modern 2013 gelangt die Auftragskomposition am 2. November in der Alten Schmiede durch das Ensemble Wiener Collage zur Uraufführung.

Sensibilitätserfahrungen unter dem Klavier

„Als Kind liebte ich es unter dem Klavier zu liegen. Wann dies begann, ich weiß es nicht. Solange ich wahrnehmen kann, fühle ich mich am wohlsten inmitten eines Klangs. Genauso liebte ich es unter dem Tisch Gesprächen zu lauschen. Meistens legte sich meine Schäferhündin mit Namen ‚Fee‘ zu mir. Unterschiedliche Stimmungen wusste sie exakt zu erkennen. Ihre Sensibilität lehrte sie mich, ja sie war meine Lehrmeisterin in Sachen Sensibilität.“ (aus Tanja Brüggemann-Stepien: Über mich, das Kind und das Komponieren. 10/2013)

1970 in Linz geboren, erhielt Tanja Brüggemann-Stepien ab dem Alter von fünf Jahren ihre Klavierausbildung am Linzer Brucknerkonservatorium, später erweitert auf die Bereiche Komposition bei Gunter Waldek und Doug Hammond sowie IGP Jazzklavier bei Dejan Pecenko. Ein Stipendium des Unterrichtsministeriums ermöglichte ihr 1993 weitere Kompositionsstudien bei Francis Shaw in London, ab 2007 schließlich studierte sie Musiktheorie bei Alexander Mullenbach und Komposition bei Adriana Hölszky am Salzburger Mozarteum. Weitere Anregungen erhielt sie in Meisterklassen bei Klaus Huber, Fabio Nieder und José Manuel López López sowie durch Zygmunt Krauze und Krzysztof Knittel in Łódź, wo sie 2011/12 postgraduale Studien in den Bereichen Komposition, Filmmusik, Computermusik und Audiovisuelles Arbeiten an der Akademia Muzyczna betrieb. Seit 2012 geht sie weiteren Studien mit Tristan Murail am Mozarteum nach. Die Vielfalt dieser Liste an Lehrerpersönlichkeiten betrachtet Brüggemann-Stepien als große Bereicherung: „Jede(r) hat ihre/seine eigene Arbeitsweise und ihr/sein Agitationsfeld. Ich hatte und habe das Glück, dass die Persönlichkeiten, mit denen ich arbeiten wollte immer in meine Umgebung kamen. So unglaublich das ist, so wahr ist es.“

Das Hineinhören in die Klänge

„Situationen und ihre emotionalen Inhalte zu erspüren ist auch zu meiner Leidenschaft geworden. Ich erforsche die Menschen, meine Umgebung, höre zu, empfinde und bilde Systeme, die es mir ermöglichen, ähnliche Momente wieder zu empfinden. Situationen, Momente, Augenblicke ziehen ihre Spuren, oftmals ohne zu wissen, dass diese es taten und tauchen während des Komponierens wieder auf – unvermutet.
Mein Lehrmeister ab dem 5. Lebensjahr am Klavier – Horst Matthäus – liebte und liebt das Hineinhören in den Klang des Klaviers, so lernte ich, das Klavier zu erlauschen. Die Feinheiten des Klangs, die unterschiedlichen Charaktere der verschiedenen Noten- und Tonfolgen mit größter Aufmerksamkeit dem Instrument gegenüber zu spielen, lies Horst Matthäus mir Zeit, er wünschte es sich sogar. ‚Wollen wir viele verschiedene Nuancen probieren?‘, fragte er oft. Er versuchte es, ich versuchte es. Er suchte, ich suchte. Ein Takt – unzählige Varianten. Bis heute frage ich  immer wieder nach den verschiedenen minimalsten Unterschieden, die doch unendlich viel Unterscheidung, Änderung in der Aussage – der Übermittlung, dem Wesen in der Musik bringen.
Der schönste Moment mit meinem Vater in meiner Kindheit war in Hamburg ins Steinwayhaus zu gehen und die verschiedensten Instrumente zu probieren und wir gingen jedes Mal, wenn wir Hamburg besuchten. Wir überschütteten uns mit Noten und Partituren. Ein herrliches Gefühl!
Darum Komponieren! Ich habe Zeit, um zuhören zu können. Nach dem Klang zu suchen, immer wieder und wieder und das Klangleben der Zeichen in mir zu bilden und zu tragen…“ (Brüggemann-Stepien: Über mich, das Kind und das Komponieren)

Klavier – Stimme – Elektronik

Das Klavier zieht sich als treuer Begleiter durch alle Lebens- und Arbeitsphasen von Tanja Brüggemann-Stepien. Demgemäß ist sie einerseits seit vielen Jahren selbst als Klavierpädagogin an der Musikschule der Stadt Linz tätig, zum anderen fasziniert sie auch die Erforschung des Klaviers, etwa in Hinblick auf einen experimentellen Umgang mit festen und beweglichen Präparationen. Improvisation ist für sie ein ebenso wichtiges Mittel, ihre Klangempfindungen auszudrücken.

Rund drei Dutzend Werke enthält der Katalog ihrer gültigen Werke, wobei sie als zentral immer jenes Stück empfindet, an dem sie gerade arbeitet. Eine zentrale Rolle spielt dabei immer wieder die Stimme, die sie nicht im Sinne herkömmlicher „Vokalmusik“ sieht: „Vielmehr interessiert mich die Eigenheit der Stimme, der stimmliche Ausdruck per se. Die Authentizität der Information der Stimme fasziniert mich. Ich bin in Kontakt mit Professor Sendlmeier von der TU Berlin, da es in seiner Forschung um das Quantifizieren von Emotionen in der Stimme geht. Es gibt bestimmte Informationsraster, die gegeben sein müssen, damit  Emotion ebenso über die Sprache mitgeliefert wird.
Mich interessiert das Sezieren von Sprache und all ihren Bestandteilen (Frequenzen, Geräuschen). Musik ist für mich überhaupt im Mikroskop interessant, besonders der Anteil der Einschwingphase und Ausschwingphase hat mich schon immer interessiert. Dies ist sicherlich auch die Ursache meiner Entscheidung, mit elektronischer Musik zu arbeiten, denn hier kann ich den Klang sezieren, wie ich möchte, oder besser gesagt wohin er mich leitet.“

Das angesprochene Arbeiten mit elektronischen Mitteln erfolgt in Brüggemann-Stepiens Arbeiten zumeist in Verbindung mit akustischen Instrumenten. Nicht zuletzt sieht sie darin die Möglichkeit eines form- und strukturgebenden Prozesses: „Es gibt je nach Komposition verschiedene Ansätze. Im Fall von ‚Min Deern‘, welches ich jetzt für Wien Modern komponiert habe, ist die Arbeit mit Elektronik ein zentrales Element, nicht nur in Hinblick auf Struktur und Klang, sondern speziell im Sinne eines eigenen Instruments, einer eigenen Hauptrolle. In diesem Fall ist die Zuspielung als zentrales Instrument zu sehen, um das sich die anderen Instrumente herumspinnen.“

„Mein Mädchen“ bei Wien Modern 2013

„Min Deern (übersetzt: Mein Mädchen) entstammt dem plattdeutschen Dialekt, den ich aus dem Umfeld meiner in Hamburg lebenden Familie kenne. Mit dem Hören dieser Sprache eröffnet sich mir ein Erinnerungsraum, der sich über Generationen erstreckt und deren spezielle Ausdrucksart und Wortmelodie mein Interesse geweckt hat. Wörter, Sätze wurden auf ihren Rhythmus und ihre kräftigsten Frequenzen hin bearbeitet und bilden das Material für alle folgende Musik.
Aufnahmen einer Stimme und des Hamburger Hafens im Sommer 2012 bilden die elektronische Grundlage meiner Komposition. Geschichten und das Knarren und Ächzen der Anlegestege im Hafen lassen die Zeit durch ständige Repetition und das Erklingen von Echos stillstehen. Erinnerungsräume eröffnen sich, die sich über Generationen erstrecken. Ausdrucksart und Wortmelodie werden auf ihren intensivsten Kern reduziert. Es bleiben einzelne Frequenzen, Rhythmen, die den Erinnerungsraum füllen und als Auslöser für Assoziationen aus dem Unterbewusstsein dienen.“

Einen Hintergrund für „Min Deern“ bildet der Text „Memory 1988“ aus Tadeusz Kantors „A Journey Through Other Spaces“. Für ihre bisherigen Arbeiten zog die Komponistin etwa Thomas Bernhard bei „Sand auf meinen Schuhen“ für Countertenor, Klavier, Violine und Violoncello (2010), Ingeborg Bachmann in „Was wahr ist“ für Sopran, Flöte, Klarinette, Violoncello und Elektronik (2011), Felix Pollak in „Man wird nie fragen“ für Altflöte, Bassflöte, Bassklarinette und Crotales (2011), Wysława Szymborska in „Das Verfassen eines Lebenslaufs“ und „Ein Beitrag zur Statistik“ für Mezzosopran, Klavier, Klangutensilien, Spielzeugklavier und Papiershredder (2012) sowie Louise Bourgois und Augustinus von Hippo in „Fliegende Leitern“ für Altflöte, Bassflöte, Klarinette, Violoncello, Klavier, elektronische Zuspielung und Sopran (2012) heran. Relevant ist für Brüggemann-Stepien auch der polnische Theaterregisseur Jerzy Grotowski, dessen Arbeit sie seit Jahren begleitet.

Interdisziplinäres auf dem Arbeitstisch

Zu den Projekten, die Brüggemann-Stepien zurzeit beschäftigen, gehören die Musik für einen Dokumentarfilm aus der Schweiz, ein neues Werk für Anna Maria Pammer (Sopran) und Clemens Zeilinger (Klavier) sowie ein Orchesterstück, wobei sämtliche nach Aussage der Komponisten dazu tendieren, interdisziplinäre Arbeiten zu sein bzw. zu werden.

Bereits vorhandene Arbeiten von Tanja Brüggemann-Stepien lassen sich am 5. Dezember 2013 bei einem Porträtkonzert im Augustiner-Chorherrenstift Sankt Florian erleben, tags darauf ist im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Die Waffen nieder“ des Instituts für Gender Studies an der Universität Mozarteum die Bachmann-Vertonung „Was wahr ist“ zu hören.

Christian Heindl

http://www.tanja-brueggemann-stepien.com