Porträt: Šimon Voseček

Er gewinnt Preise und er killt Mäuse. Letzteres ist drastisch auf youtube nachzuerleben (Achtung: Die Musik beginnt erst bei 0’34”), womit er nicht zuletzt einen wütenden Protest des Autors dieser Zeilen, eines deklarierte Mäuseliebhabers, auf sich zog. Das Nicht-Problem ist das Selbstverständliche, mit dem er das eine wie das andere tut. Es ist einfach so. Das kann man ihm nicht wirklich übel nehmen.

Die Liebe eines Tschechen in und zu Wien

Eine Begegnung mit Šimon Voseček spielt sich fast immer irgendwie ungewöhnlich ab. Vor nun schon rund einem Jahrzehnt programmierte der oberösterreichische Pianist Josef Mayr in einem Klavierrecital auch ein Werk des jungen Tschechen, der mir damals noch kein Begriff war. Als Moderator des Abends begann ich ein vorab nicht geplantes kurzes Publikumsgespräch mit dem Komponisten mit der naiven wie unverfänglichen Frage, warum er denn ausgerechnet nach Wien gekommen sei und nicht etwa eine der heute vielleicht überragenderen internationalen Musikmetropolen – London, Paris oder Berlin – bevorzugt habe. Erwartete ich die Nennung einer prominenten Lehrerpersönlichkeit als Motivation, so war die Antwort gleichermaßen spontan, wie überraschend und für den darauf nicht vorbereiteten Musikjournalisten beglückend „anders“. Sie lautete: „Wegen der Liebe, wegen meinem Freund.“
Dass man beim Googlen im Internet durchaus die Bemerkung finden kann, Voseček wäre nach Wien gekommen, „um hier zu studieren“, zeigt die Berechtigung der damaligen Erwartungshaltung, zeigt aber auch, wie schwer sich allgemeine Biographik mit Persönlichem tut. Umso wohltuender nimmt sich aus, dass Šimon Voseček ausspricht, dass er wegen der Liebe seine Heimat verließ und sich in Österreich niederließ.

Elfjähriger Revolutionär

Heimat. Im April 1978 in Prag geboren, erlebte Voseček den Fall des Eisernen Vorhangs, diesen seltenen Glücksmoment in der Europäischen Geschichte, bewusst mit. Er gehört zur letzten Generation, die noch das „davor“ wahrnahm und – anders als die nach ihm Geborenen – den Vergleich ziehen kann. Sein Onkel, der Musiker Mikoláš Chadima war einer der Unterzeichner der Charta ’77, seine Familie stand unter Beobachtung, und das Gymnasium wäre ihm bei Weiterbestand der kommunistisch ausgerichteten ČSSR mit hoher Wahrscheinlichkeit versagt geblieben. – Um nicht zu übersehen, dass dieses alte System gerade im künstlerischen Bereich durchaus auch vorbildhafte Aspekte besaß. Voseček konnte eine der vom sozialistischen Apparat eingerichteten Volksschulen für Kunst besuchen, in der er nebeneinander Tanz, Malerei, Klavier und Orgel erlernte. Erfreulicherweise wurde diese Art der vielfältig musischen Erziehung auch ins Heute der Tschechischen Republik übernommen; etwas von dem man im Kultur- und Musikland Österreich kaum etwas ahnt.

Die „sanfte Revolution“ der Tschechen im Spätherbst 1989 erlebte Voseček sozusagen ganz vorne mit. Mit Vater und Schwester fand sich der Elfjährige zur großen Demonstration für die Freiheit und den Rücktritt des Regimes ein – auch wenn seine Mutter sehr darüber aufgebracht war, dass die Tschechen ausgerechnet im Winter Revolution machen!

Staatlicher Preis für einen Unerwünschten

Eine nachfolgende Parallele zwischen den (in Wirklichkeit fast nur durch die Sprache getrennten) Nachbarn Österreich und Tschechien hatte erneut gravierende Auswirkung auf Vosečeks Leben: der Beitritt beider Länder zur Europäischen Union, wobei Tschechien erst im Rahmen der (geographisch gesehen gerade in Bezug auf dieses Land nicht sehr logischen) „Osterweiterung“ 2004 aufgenommen wurde. Voseček – nicht politisch oder künstlerisch, sondern eben durch die Liebe motiviert – war bereits zwei Jahre zuvor nach Wien übersiedelt. Besser gesagt, er versuchte, sich hier anzusiedeln, was ihm alles andere als leicht gemacht wurde. Die bei einem Gespräch aus ihm herausbrechende Erzählung, wie er vom Südbahnhof aus nicht einfach in seine nahe gelegene Wiener Wohnung gehen konnte – „Ich durfte nicht nach Hause!“ –, sondern von der Fremdenpolizei in den nächsten Zug nach Prag gesetzt wurde, weil seine Aufenthaltserlaubnis abgelaufen war, dann wirkt das für den aufgeschlossenen Österreicher beschämend. Vielleicht kann es Voseček ja als kleine Genugtuung auffassen, dass es den Südbahnhof heute längst nicht mehr gibt, während er selbst aber mittlerweile als „Hiesiger“ gilt, der  selbstverständlich auch das Anrecht auf österreichische Staatsbürgerschaft hätte.
Würde man vermuten, dass die Vereinigung der benachbarten Nationen in der EU eine rasche Befriedung der persönlichen Situation brachte, so muss man an die wahrscheinlich von vielen heute schon vergessene Skurilität erinnern, wonach die „neuen“ EU-Bürger von 2004 bis 2011 hier regulär Arbeitsverbot hatten. Dass ein Tscheche im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts in Österreich nicht arbeiten durfte, gehört unzweifelhaft zu den absurden Irrwegen amtlicher Bestimmungen und könnte die Theorie bestätigen, wonach der Mensch – sicher aber die Politik – auf einem unvollkommenen evolutionären Stand stecken blieb.

Um der Groteske die Krone aufzusetzen und ihr eine versöhnlich-humoristische Wendung zu geben: Für seine Oper Biedermann und die Brandstifter (2005-2007) wurde Voseček 2008 auf einstimmigen Jury-Entscheid aus einer schier unüberschaubaren Masse an Bewerbungen der Förderungspreis für Musik der Republik Österreich (ab dem Folgejahr umbenannt in Outstanding Artist Award für Musik) zuerkannt. Der Laudator – zugleich Verfasser dieser Zeilen – konnte sich bei der Überreichung am 20. November 2008 in den Räumen der Kunstsektion des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur in Hinblick auf die oben geschilderte Situation die Bemerkung nicht verkneifen, dass es erfreulich sei, dass diese Zuerkennung in Übereinstimmung mit den fremdenrechtlichen Bestimmungen erfolge, da Komponieren in Österreich offenbar nicht als Arbeit gelte…

Doppelt studiert, multipel arbeitend

Über all diese im Nachhinein eher mit einem leicht bitteren Schmunzeln, denn mit zornigem Entsetzen zu reflektierenden Äußerlichkeiten im Österreich(Er)Leben des Šimon Voseček sei nicht übersehen, dass die Auszeichnung für den Biedermann die verdiente Frucht eines über viele Jahre erfolgten konsequenten und seriösen künstlerischen Tuns darstellt. Dazu sei auch kurz der kompositorische Ausbildungsweg rekapituliert, der von der erwähnten Kunstvolksschule zunächst ans Prager Konservatorium zu Otomar Kvěch (1950) führte. Nach Abschluss des dortigen Studiums und seiner Übersiedlung nach Wien begann er hier ein erneutes Studium an der Universität für Musik und darstellende Kunst, zunächst bei Dietmar Schermann, der ihn auch hinsichtlich der bürokratischen Hürden sehr unterstützte, dann bei Erich Urbanner und Chaya Czernowin, bei der er 2008 mit Auszeichnung abschloss.

Würde das Komponieren heute mühelos seinen Tag ausfüllen können, so ist es dennoch nur ein – wenn auch der zentrale Teil – seiner kreativen Arbeit. Man kann ihn ebenso als Chansonnier, Instrumentalisten, Schauspieler und Stückentwickler erleben. Gelegentlich vereinen sich dann auch alle diese Elemente, wie beispielsweise im vergangenen Herbst im DSCHUNGEL WIEN in der Produktion „Da Saund of Music“ der schallundrauch agency. Diese sehr vielen künstlerischen Aktivitäten könnten nun ihrerseits genug sein, um rund um die Uhr keine Langeweile aufkommen zu lassen. Wäre da nicht… Ja, wäre da nicht einerseits seine – von ihm selbst wohl gar nicht so geliebte – besondere Begabung, sich auch in organisatorischen Belangen hervorragend zu bewähren, andererseits die Notwendigkeit schon auch den ökonomischen Bedürfnissen Rechnung zu tragen und Tätigkeiten auszuüben, die rascher positive Zahlen auf dem Konto zeigen, als das Warten auf gut dotierte Kompositionsaufträge. Ersteres zeichnete ihn etwa als Gründungsmitglied der Musiker- und Komponistengruppe Platypus aus, die insbesondere er und Hannes Dufek mit spannungsgeladenen Konzertprojekten zu einem seit mehreren Jahren anerkannten, etwa auch regelmäßig in Wien Modern eingebundenen Ensemble formten. Zweiterem konnte er über die letzten Jahre insbesondere als allseits bereiter und weltweit agierender Sekretär der IGNM-Sektion Österreich nachgehen. Wohlgemerkt: all das nur eine Auswahl Vosečekschen Zeitausfüllens.

Würmer und Kaulquappen, Spermien und Ekberg-Busen

Ebenso kann man seine Werke hier nur sehr oberflächlich Revue passieren lassen. Einige der Titel: Wenn man die Mütter aus der Erde graben könnte, Luftblasen, Löcher, Im Säurebad, Nebenhöhlen, Jsimtasbanejetik, Würmer, Spermien, Kaulquappen, Latte – oder der Busen Anita Ekbergs, Haarausfall – Hommage an Generationen. Dass jedes dieser Stücke eine eingehende analytische (und titelnachvollziehende) Erläuterung rechtfertigen würde, versteht sich.

Neuestes aus der Werkstatt: die eingangs erwähnten Mäuse, die Songs Das Ostblockkind (in berührend-aufwühlendem, fast Eisler evozierendem „Arbeiterlied“-Stil) und Der Indianersong aus „Da Saund of Music“, die am 20. Februar vom Prager Ensemble Konvergence in Wien aus der Taufe gehobenen Schatten und jüngst auch ein waschechtes Wienerlied – Die Ausländer (nach einem Text des Verfassers dieser Betrachtungen), das am 6. März im Arnold Schoenberg Center erstmals erklang. Noch vor der Uraufführung stehen u. a. ein neues Werk für das Ensemble Reconsil, ein Klavierkonzert und… der Biedermann!

Eine Oper in Wiener Tradition

Ganze fünf Jahre musste der Komponist – und mit ihm wir Beobachter – warten, nun wird am 17. September Walter Kobéra mit der Neuen Oper Wien das bislang größte (wichtigste?) Voseček-Opus auf die Bühne bringen. Ein großes Ereignis und zudem auch befriedigend, das sich dieses nicht in die Reihe jener Werke reihen wird, die man mit dem österreichischen Staats- bzw. Förderungspreis auszeichnete, die aber nie öffentlich erklungen sind. Auf die Premiere wird in den kommenden Monaten noch ausführlicher einzugehen sein, hier daher nur kurze Anmerkungen. Grundsätzlich war es jedenfalls 2008 ein bemerkenswertes Ereignis, dass besagter Preis der Republik Österreich dem hier lebenden tschechischen „Österreicher“ Voseček zuerkannt wurde. Dass das so österreichisch wirkende Stück „Biedermann und die Brandstifter“ als Drama von dem Schweizer Max Frisch und in der Folge – erstmals! – musikalisch von einem Tschechen erarbeitet wurde, zeigt dass spezifische Eigenschaften in verschiedenen Nationen und Kulturen in durchaus verwandter Form vorkommen. Eine musikalische Verwandtschaft der Oper lässt sich wohl am ehesten bei Alban Berg ansiedeln. Studium der Partitur und Hören einer Szene lassen spontan an ein organisches Anknüpfen bei „Wozzeck“ denken. Keinesfalls freilich im Sinn eines „Das hat man doch schon vor achtzig Jahren so gehört“, sondern so, dass man meint: Šimon Voseček hat in Kenntnis einer großen europäischen und einer spezifisch österreichischen Tradition einen vitalen und eigenständigen Beitrag zum Musiktheater am Beginn des 21. Jahrhunderts geliefert. Zitat aus der Jury-Begründung von 2008: „Ja, das ist wirkliches Theater!“

Musikalische Brandstiftung erwünscht!

Darf ein Autor drei Wünsche äußern? – Ich wünsche mir, dass Šimon Voseček das Mäuse killen künftig nicht allzu exzessiv gestaltet. Ich wünsche mir, dass er so wenig Biedermann bleibt, wie er es offenbar in seinen ersten 35 Jahren war. Und ich wünsche mir, dass er über das nun erreichte Mozart-Alter hinaus ein weiter ganz kräftig zündelnder „Brandstifter“ im österreichischen Musikleben sein wird. Jetzt, wo er „endlich längst“ einer der Unseren ist!

Christian Heindl

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Simon Vosecek