Komponist, Improvisator, Elektroniker und Turntablist (auch unter dem Namen JSX auftretend) ist der aus Venezuela gebürtige Wahl-Wiener Jorge Sánchez-Chiong. Ihn zeichnet Offenheit in Stilistik und Genres aus, dennoch bleibt er unverwechselbar er selbst. Mit vielen Interpreten und Musikern, die er kennenlernt(e), arbeitet er oft immer wieder zusammen. Neben vielen CDs mit seinen Arbeiten als Turntablist (zuletzt „bonanza“ mit Alexander J. Erberhard), liegt etwa auch eine ORF-CD von ihm vor, die einige der wichtigsten Werke von ihm für „klassische“ Klangkörper enthält; die Kompositionen darauf werden unter anderem vom ORF Radio-Symphonieorchester Wien und dem Klangforum Wien interpretiert.
Jorge Sánchez-Chiong, häufig in Darmstadt und Donaueschingen eingeladen, zieht es trotz „Lebensmittelpunkt“ Wien viel in der Welt herum, sein Terminplan ist derzeit sehr voll, trotzdem folgte er gerne der Einladung, nach dem vor 5 Jahren bereits gegebenen mica-Interview erneut ausführlich für eine Standortbestimmung seines gegenwärtigen Tuns in einem Porträt Rede und Antwort zu stehen.
Zum Gespräch, das im August auf seinen Vorschlag hin im Garten des Cafe Rüdigerhof stattfindet, kommt er gerade aus Gstaad in der Schweiz, wo er bei einem dortigen Festival auf 3000 m Seehöhe auf einer Gondel-Liftstation, einem sehr schönen Gebäude des Architekten Mario Botta, in einem Projektkonzert mit Patricia Kopatchinskaja eine Uraufführung eines neuen Stücks für Geige und Turntables aufgeführt hat.
Intuition und Genauigkeit
Seine Berufsbezeichnung „Komponist, Turntablist, Elektroniker“, die sich als Berufsbezeichnung in allen Bios und Websites über ihn findet, führe ihn seit einiger Zeit fast zu einer Art von „Schizophrenie“. Schon beim mica-Interview 2008 wies er darauf hin, dass bei aller angestrebten Übergreifung der Genres es für ihn notwendig ist, auch stärker Grenzen zwischen diesen zu ziehen: zwischen Improvisation und sozusagen „strenger“ Komposition, eine Arbeitsweise, die er sich mit großer Genauigkeit angeeignet habe. In der Zwischenzeit ist es eben „weitergegangen“. Auch, wenn er nicht immer selber mitspielt, was oft der Fall ist, hat das Element Improvisation und „Auflegen“ Auswirkungen auf sein Komponieren gehabt, es, wie er sagt, „ernährt“. Aber es gibt es natürlich Partituren, die sehr festgelegt sind, das hinge auch davon ab, für wen er schreibt und welchen Zweck das erfüllen soll.
Jorge Sáncez-Chiong: „Im Prinzip glaube ich sehr stark an die Intuition. Das ist etwas, das man sich mit sehr viel Arbeit erwirbt, es ist ein sehr langer Prozess. (Viel zu) oft sitze ich ja auch über einer Komposition mit mathematischen Modellen, es kann auch sein, das ich beim Improvisieren auf einmal eine zündende Idee habe. Aber auch das läuft extrem langsam bei mir. Beides sind für mich verschiedene Arten intuitiv zu arbeiten, einige sehr schnell, beim live spielen, wo ich keine Zeit zum Überlegen, zum Denken habe, das was man ordinär Musikalität nennt, bei den andern habe ich viel Zeit und Berge von Material zu bewältigen.“
Überlegt sich Jorge vor einem Soloauftritt, wo er auflegt vorher genau, was er da machen könnte? – „Ich hatte zum Beispiel für Patricia für das Stück, das am Ende nur 12 min dauerte, sehr viel Material gesammelt, ich habe in der Zeit zuviel generiert, die Schallplatten , die ich in die Schweiz auf dem Flug mitnehmen wollte, wogen über 15 kg, und das ging nicht, ich musste aussortieren. Patricia, die in Bern lebt, und ich reden seit Jahren über eine Art Violinkonzert, also sammelte ich Material für Orchester. Das Projekt, das jetzt entstanden ist, war für Geige und Turntables, also zu zweit. Ihren Part musste ich auch genau ausnotieren, weil sie das so wollte, es gab nur ein paar ‚Module’. Meine Platten waren Zuspielungen, teils mit vorher aufgenommenen Sachen von ihr, teils Schallplatten von mir, eine mit einem Liegeton und eine unerkennbare Sprachaufnahme, die ich eben auch „gescratcht“ habe. Patricia spielte vorher eine Bach-Chaconne und Solostücke von Kurtág, Enescu und Georges Antheil, sie hat das Publikum moderierend sehr gut auf das letzte Stück vorbereitet.
Kommende Schwerpunkte beim Komponieren
Mit dem Komponieren wurde es mehr vor allem im angewandten Bereich, für Film, für Neue Medien, für Tänzerinnen, auf dem Gebiet hat Jorge Sánchez-Chiong sehr gute Partner gefunden und es ist zu etwas geworden, wo derzeit ein Schwerpunkt von ihm liegt Das Projekt mit Patricia Kopatchinskaja hingegen nennt er „Klassik-Klassik“, sehr unkonventionelle allerdings. Über neue Projekte will mit ihr will er noch nicht reden, Kopatchinskaja ist derzeit in Bern, auch viele ihrer Kommilitonen und Studenten reisen bereits viel herum. Das Nächste ist jedenfalls ein neues kurzes Stück für sie und die Cellistin Sol Gabetta, das die beiden als „Encore“ nach ihren Konzerten machen werden. „Ein Format, das mich sehr interessiert.“
Jorge ist in nächstem Jahr Composer in residence beim Ensemble „PHACE“. Bei Wien Modern steuert er für das Palais Kabelwerk eine „Kurzoper“ bei, beim Projekt „Gates“ wird das „progetto semiserio“ von ihm ein Stück namens „Bill“ aufführen. Es sei weniger als eine Kurzoper, eher eine Mini-, Mikrooper, der Text stammt vom Ausstatter und Beleuchter. Im Projekt „Gates“ sollen sich an einem Ort verschiedene Gesellschaften, die miteinander nichts zu tun haben, treffen. „Und ich dachte, ok, das ist ein Ort, der besetzt wird („Occupy“!). Da ist mir der Thomas Jelinek als Texter eingefallen, der auch als Performer sehr viel in diese Richtung arbeitet, auch Projekte von besetzten Orten gemacht hat und auch politische mit Einbezug von Politikwissenschaftlern usw. „Wir nehmen Zahlen und Zahlenkurven, um die Perversion eines Kapitalismus der Finanzmärkte, wo etwas aufsteigt und nicht zu bremsen ist, aufzuzeigen. Etwas darzustellen, was man längst hätte bremsen sollen und müssen. Das ist die Quelle für unsere Sachen, etwas sehr Installatives, wir geben sozusagen die Rechnung weiter“, und darum heißt das auch „Bill“-Projekt.
Die kleine Besetzung umfasst Tonband, zwei Sänger sowie drei Musiker: Lars Mlekusch, für den Jorge Sánchez-Chiong auch ein Konzert mit Saxophon und Ensemble geschrieben hat, als erste Zusammenarbeit mit PHACE; Schlagzeuger Bernd Thurner („mit dem ich auch ein Stück in einer neuen Fassung mit PHACE in Lunz mit Marino Formenti gespielt habe“). Und einen Cellisten, „mit dem ich auch in der Zukunft einige Projekte habe“. Wie waren die „Wellenklänge“ in Lunz mit Marino Formenti als Gastgeber vieler Künstler und Leute unterschiedlicher Genres? „In Lunz war es super, am Ende habe ich auch noch aufgelegt, bis in die frühen Morgenstunden ging die Fete, bis die Polizei kam …“
Meilensteine im Werk: Eine Visitenkarte
Eine auch im Internet zu findende Auswahl wichtiger Kompositionen von Sánchez-Chiong, so etwas wie seine „Visitenkarte“, umfasst auf einer ORF/Ö1-CD das 2004 bei Wien Modern uraufgeführte „trapos | Catwalk en Guantánamo“ für Kontrabass, Turntables, elektronische Instrumente und großes Orchester (RSO Wien, Matthias Pintscher) mit Christian Weber (Kontrabass) und Joke Lanz (Turntablist), von dem auch eine Version 2 mit zwei 2 Turntable-Solisten existiert, aufgenommen mit dem Haydn Orchestra Bozen & Trient unter Johannes Kalitzke. Berühmt geworden ist das Stück „FINAL GIRL“ (2009), das Sánchez-Chiongs Auseinandersetzung mit filmischen „Horror“ in „Splatter“-Movies und mit der Ästhetik des Grauens dokumentiert. Typisch für seine Vorgangsweise sind vorangegangene Sequels und Fassungen (etwa für Turntables oder zum Beispiel für Soloinstrumentalistinnen wie Dorothee Oberlinger, Tenor- oder Pia Palme, Subbassflöte.
Das trifft auch auf „Veneno“ zu, das Thema dieses Titels („Vergiftung“) beschäftigte den Komponisten von Beginn seines Schaffens an immer wieder. „Veneno 3“ (1999) für Bassklarinette und elf Instrumente wurde mit Musikern des Ensembles „die reihe“ sowie mit Ernesto Molinari und mit Patricia Kopatchinskaja (Violine) aufgenommen. Der Bassklarinettist Molinari ist als Solist auch gemeinsam mit Gerald Preinfalk (sax) und Dimitrios Polisoidis (Viola) im dem Stück „Algarabía” für Ensemble zu hören. Das aus dem Arabischen kommende spanische Wort bedeutet im übertragenen Sinn einfach „gemeinsam Lärm machen“.
Die häufigen Um- und Neubearbeitungen von Kompositionen (Paradebeispiel etwa jene unter dem Titel „Veneno“), sind oft auch stark voneinander verschiedene, jeweils neue Werke. „Das ist, was jeder von uns macht, aber ich lege die Netzwerke und Entstehungszusammenhänge offen, woher das Material kommt.“ Schon im mica-Interview 2008 bemerkte er dazu: „In ‚Veneno’(‚Gift’) geht es um Improvisation und Bearbeitung, das hat eine ganze Serie gezeitigt. Es geht es um das ‚Vergiften’ von Stücken, das hat vielleicht mit meinem Werdegang zu tun.“ Die Stücke auf dieser CD, bei deren Auswahl auch die jeweilige Aufnahmequalität eine Rolle spielte, sind auch heue noch tatsächlich so etwas wie Meilensteine in seinem Schaffen, was Orchester- und Ensemblemusik mit oder ohne Elektronik betrifft, erklärt der Komponist. Heute habe sich das geändert, als auch seine Ensemblestücke meist sehr stark mit dem verwoben sind, was aus der Elektronik kommt.
Im Jänner 2014 wird bei einem von der Jeunesse veranstalteten Konzert im Porgy & Bess das Stück “Chromatic Abberation” für Streichquartett und Turntables zu hören sein, das 2012 von ihm mit dem US-amerikanischen Mivos String Quartet bei den Internationalen Musiktagen in Darmstadt live uraufgeführt worden ist (einen Mitschnitt findet man als Video auch auf youtube). Dabei kann man sich eine gute Vorstellung davon machen, wie Jorge Sánnchez-Chiong bei solchen Stücken derzeit kompositorisch vorgeht. Die Zusammenarbeit mit einem von ihm sehr bewunderten, heute befreundeten Berliner Elektroniker (PURE, Berlin), für den er bei einem Remix einer legendären CD mitmachte, wird zu einem neuen Stück für Darmstadt führen, wo die Elektronik nicht von ihm, sondern von PURE stammt, „nämlich einer „uralten Hard-Techno-CD von ihm, deren Stücke extrem schrullig gemacht sind“. Auch 2014 wird Jorge wieder in Darmstadt als Dozent unterrichten. Und er macht ein Projekt mit Peter Votava aka PURE und dem Filmregisseur Thomas Wagensommer an der Schnittstelle zur Medientheorie.
Angewandte Musik
Ganz wichtig ist Jorge Sánchez.Chiong die „angewandte Musik“, er macht die Musik für Tanzprojekte im Tanzquartier Wien mit der von der Arbeit mit der Gruppe „toxic dreams“ bekannt gewordenen Performerin Anna Mendelssohn („die erste, die mir etwas entlocken konnte, was ich sonst nie mache, nämlich einzelne sehr ‚klassische’ Sätze“) und für die Choreographin und Tänzerin Brigitte Wilfing („bei der die Technologie, die aus ihrem Kostüm kommt, eine große Rolle spielt, auch das Phänomen der Luft“). Es fasziniert ihn, dass man in solche Performance-Projekte von Anfang an involviert ist. Auch eine Filmmusik für das Österreichische Filmarchiv ist in Arbeit.
Neben dem amerikanischen Mivos Quartet arbeitet Jorge Sánchez-Chiong auch viel mit anderen internationalen Künstlern, etwa dem belgischen Nadar-Ensemble zusammen, das 2012 in Donaueschingen und Darmstadt, auch bereits in Wien aufgetreten ist. Ein weiterer Partner unter den Ensembles ist das Decoder Ensemble Hamburg, eine junge Formation für aktuelle Musik, das im Dezember 2013 eine CD in Kooperation mit dem Deutschlandfunk Köln aufnehmen wird. Teil des Programms ist neben Werken von Burkhard Friedrich, Leopold Hurt, Alexander Schubert und anderen eine neue Komposition von Jorge Sánchez-Chiong, die speziell von Decoder in Auftrag gegeben wurde. Alle Kompositionen, meldet das Ensemble, „zeichet ein innovativer und origineller Umgang mit Elektronik in Verbindung mit Live-Instrumenten aus: von subtilen, hintergründig ironischen Einspielungen bis hin zu brachialen, rockigen aber stets differenzierten Soundscapes“. „Sie spielen das, was sie auch selber gerne hören würden“, sagt Sánchez-Chiong dazu.
Auf der DJ-Ebene hat Jorge Sánchez-Chiong gerade ein neues Album von „bonaNza“ mit Alexander J. Eberhard (Viola, E-Viola und electronic devices) unter dem Titel „we never die at home“ veröffentlicht. .Das ist „Tanzmusik“, findet er. In einer „WDR 3-open“-Rundfunksendung wird Jorge Sánchez-Chiong am 18 September unter dem Titel „Elektronische Musik made at home“ laut Vorankündigung des Senders „überwiegend in Eigenproduktion und frei vom wissenschaftlichen Diktat entstandene Werke freischaffender Künstler“ vorstellen. Sie stammt, so heißt es weiter „hauptsächlich von Bedroom-Producern, Autodidakten und Improvisatoren aus der freien Szene“. Die auch dem Autor dieses Porträtartikels nur teils bekannten Namen, von denen Musik gespielt werden soll, seien hier genannt: Eva Reiter, Stefan Prins, Alva Noto / Ryuichi Sakamoto / Ensemble Modern, Ryoji Ikeda, Joke Lanz, Ground Zero, Pure, Trapist, Sudden Infant, Fennesz, Super Looper, Efzeg, Kid 606, und natürlich auch Musik von ihm selbst. Da sind auch Aufnahmen teils von den Pionieren der 80er und 90er Jahre, dabei, erzählt Jorge. Jedenfalls hat er mit den meisten von ihnen bereits gearbeitet. In deren Schaffen finde er wieder, was elektronische Musik für ihn ausmacht: Körperlichkeit und die Qualität des Klangs.
Heinz Rögl
Jorge Sánchez-Chiong © Jorge Sánchez-Chiong © JSX / Jorge Sánchez-Chiong
Patricia Kopatchinskaja © Klaus Rudolph
Ensemble PHACE © Ensemble PHACE