Am 10. November fand im Wotruba-Saal des Konzerthauses im Rahmen von Wien Modern die von mica-music austria organisierte, in 3 Panels ablaufende Podiumsdiskussion “Publikumswandel: Herausforderungen für die Kunstmusik in der ganzen Welt” statt, mit Diskussionen auch des (dortigen) Publikums. Sie wurde gemeinsam mit dem International Music Council (IMC) und der – nicht zu vergessen in Salzburg 1921 gegründeten – Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (IGNM) abgehalten (wieder kräftige Lebenszeichen mit neuem Team). Im Anschluss lud das BMUKK (MinR Mag. Hildegard Siess) zu einem Empfang ins Schubert-Saal-Buffet. Der Musikologe und Förderer Neuer Musik, Lothar Knessl, moderierte das Panel 1, “wohin……….”.
WOHIN, DU WACKLIGE INSEL DER MUSIKSELIGEN?
Einleitungs-Statement (zum Panel 1) von Lothar Knessl
Wenn Kunstmusik im Themenzentrum steht, ist zu überlegen, bis zu welcher Hervorbringungsart Popularmusik einzuschließen wäre, denn auch diese ist unter Observanz ästhetischer Kriterien ein Teil der Kultur, wenn auch nicht der so genannten Hochkultur.
Die generell aufgeworfene Frage nach dem Wohin der Musik und des Publikums muss aus meiner Sicht in einigen Aspekten offen bleiben. Ob und wohin Musik sich wandelt, ist nicht voraussagbar, heute schon gar nicht. Denn es fehlt die eindeutige Tendenz, fehlt der Mainstream. Statt dessen dominieren die Remakes in vielerlei Gestalt. Ob und wie sich Musik in den letzten Jahrzehnten gewandelt hat, enthüllt sich im uns nahen Zeitfeld global als Kreis- oder Spiralbewegung. Ich registriere interne Veränderungen, Varianten im Kleinen, aber ohne verbindliche Stoßrichtung. Es existiert zwar vielerlei Nebeneinander (diverse Gruppierungen, “Szenen”, mit Schlagworten versehene Schubladen wie neue Einfachheit, neue Komplexität, Spektralmusik, Crossover, visualisierte Musik etc.), aber etliches davon sträubt sich gegen die Öffnung zum jeweils Anderen, verzichtet auf gemeinsame Vernetzung, so dass zu Zeit der Informationsüberflutung quasi als Gegenbewegung das Phänomen lokaler Abkapselungen zu beobachten ist. Das ist ein Problem, dem sich die Musikvermittlung widmen könnte oder sollte.
Spiegelbildlich wandelt sich das Publikum – oder auch nicht. Es lässt sich vom Vielerlei des Angebotes wandeln, indem es sein Wahrnehmungsvermögen erweitert. Das wäre das Beispiel für ein aktives Publikum. Oder es bleibt in den Bahnen vorgeprägter Bildungsnormen und genießt die vertrauten Hörerlebnisse. Das wäre das gleichsam passive Publikum. Ein – kleinerer – Teil des Publikums folgt also relativ rasch eventuellen kulturell soziologischen Veränderungen (auch weil diese derzeit gering sind), ein anderer bestenfalls erheblich zeitverzögert oder nur bedingt, da ja das Angebot sehr pluralistisch ist, auch multikulturell, und eben auch restaurativ. Oder es wandelt sich generationsbedingt, und das ist als geschichtlicher Prozess evident. Aber auch da ist zu unterscheiden, ob nur eine flüchtige Mode den diesfalls oberflächlichen Wandel verursacht, oder ob dieser infolge einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderung eintritt. In diesem Fall muss der Wandel nicht generationsabhängig sein. Er vollzieht sich innerhalb ein und derselben. Zum Beispiel ist es in unmittelbarer Folge der beiden Weltkriege in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, von diesen zweifellos verursacht, zu gravierenden soziologischen Veränderungen gekommen, die sich zeitsynchron auf die Emanationen der Kunst ausgewirkt haben – wenn nicht gar von ihr initiiert wurden -, in der Musik etwa durch das Bedürfnis nach strukturell neuen Ordnungssystemen, Entwicklungsschritte, die man auch dem historischen Zwang subsummieren könnte. Da mangelt es aber noch an grundlegend vergleichender Forschung.
Meinen Hörerfahrungen nach ist der Wandel etwa in den letzten dreißig Jahren in den Ruhestand getreten. Radikal und rasant habe ich diesen Wandel vor rund sechzig Jahren hörend erlebt. Danach ist er abgeebbt. Seit Jahren ist mein Hörbild mit keinerlei gravierenden oder Werte umstülpenden Wandlungen konfrontiert. Ich kann mich also im solcherart vertraut vorhandenen Hörbild etablieren, ohne durch tiefgreifend Anderes aufgeschreckt zu werden – es sei denn durch peinigende Lautstärke.
Wenn Musikvermittlung angesprochen werden soll, besteht deren Herausforderung heute im Vielerlei und in der daher erforderlichen Flexibilität der Vermittlungsart. Womit erreicht man wie wen? Welche Kommunikations-Schienen kommen bei jenen an, die man für Musik, besonders für neue oder heutige Musik, gewinnen will? Wollte man sich da auf nur ein Rezept verlassen, wäre man zumeist schon verlassen, es sei denn, man hat mit Glück den Nerv des Zeitgeistes getroffen, der allerdings alles andere als nachhaltig wirkt.
Wie eingangs erwähnt, existiert auch bei genereller Entwicklungs-Stagnation ein Wandel im Kleinen, sozusagen subkutan, in den Differenzen des sich Wiederholenden. Dennoch ließe sich vermuten, dass das Fehlen einer rasanten Innovationswelle den Rezipienten (dem Publikum) die Chance einräumt, sich im status quo der Kunst alsbald zurechtzufinden. Im allgemeinen bleibt das Publikum gegenüber Kunstentwicklungen apperzeptiv zurück. Wenn jedoch, was sich historisch in zeitlichen Abständen beobachten lässt, keinerlei Schub die Evolution weitertreibt, wenn also Kunstentwicklung temporär quasi still steht, könnte man hypothetisch argumentieren, das Publikum sei nun in der Lage, verzögerungslos die Gegenwartskunst rezeptiv zu erfassen. Dem aber ist nicht so. Und es scheint, als mache die ästhetische Zersplitterung, der Pluralismus, diese Chance wieder zunichte. Wohin soll ich mich wenden, könnte da wieder die Frage lauten. Und die Antworten müsste nolens volens pluralistisch ausfallen.
Um nun das Allgemeine durch geographische Einengung zu spezifizieren: Wie ist die Situation der Musik in Wien und in Österreich? Wiederholt ist die Meinung zu hören, man lebe hier noch auf einer Insel der Seligen. Hochrangige Künstler aus den Nachbarländern, Solisten, Ensemblemitglieder etc., attestieren als Gäste diesen ehrenden Status. Es gebe jede Menge an musikalischen Veranstaltungen, alle seien sehr gut besucht bis ausverkauft, und man könne, zumindest in der Metropole, nahezu alltäglich aus erstklassigen Musikangeboten wählen. Bedauerlicherweise muss ich einwenden, dass der Schein trügt. Er leuchtet retrospektiv glanzvoll nur darauf, was rund hundert Jahre zurückliegt. Mahler-Symphonien sind ausverkauft, koste es, was es wolle, vor allem, wenn beste, zugleich prominente Dirigenten und international renommierte Orchester am Werk sind. Man könnte da, in derlei Fällen durchaus nicht negativ gemeint, von elitären Ereignissen sprechen. Je mehr man sich aber der neuen oder gegenwärtigen oder jüngst vergangenen oder heutigen Musik nähert – es ist hier nicht der Platz, diese Terminologie versuchsweise genau zu definieren -, desto mehr schränkt sich der breite Schein auf ein schmales Spektrum ein. Das leuchtet allerdings punktuell erfreulich hell, nicht nur zum Beispiel das nun schon seit zwanzig Jahren sukzessiv aufblühende Festival Wien modern, oder das sehr spezielle, personell klein dimensionierte Interessen befriedigende “musikprotokoll” in Graz, oder in jüngster Zeit der Konzertsektor bei den Salzburger Festspielen, oder, außerhalb von Metropolen, die konsequent programmierten Tiroler Klangspuren. Inmitten solcher kultureller Ballungszentren mag man den Eindruck gewinnen, sich in seligen Gefilden neuer Musik zu bewegen, auch wenn deren finanzielle Absicherung nicht mit den Teuerungsraten Schritt hält. Da wird das Geld de facto weniger, aber es wäre völlig sinnlos, für eine Eintrittskarte zu einem Konzert heutiger Kunstmusik 60 Euro verlangen zu wollen. Um auf Wien zurück zu kommen: Man gewinnt zuweilen den Eindruck, hier gebe es bereits ein Überangebot. Zwar ist in dieser Stadt das Kulturinteresse relativ hoch, und gerade deshalb herrscht in einschlägigen Bevölkerungskreisen die Meinung, umso mehr seien Musik und Konzerte öffentlich zu fördern.
Bezeichnender Weise ist jedoch dieser Wunsch nach höherer Förderung innerhalb von rund zwanzig Jahren von etwa 35 % auf 15 % zurückgegangen. Jedenfalls wird real nicht zu viel gefördert – seitens der österreichischen Politiker wird die Kunst ohnedies recht schofel abgefertigt -, aber vielleicht oder wahrscheinlich zu vielerlei. Einer wertungsunabhängigen Überprüfung von Gießkannensystemen stehen freilich oft einflussstarke Lobbyisten in Wege.
Neue Musik ist selbst bei Hochpreisen erfreulich stark besucht, wenn sich so genannte Stars für sie einsetzen: Gideon Kremer, Maurizio Pollini, Pierre Boulez, Claudio Abbado, Simon Rattle etc., und wenn prominente Komponisten das Programm attraktiv erscheinen lassen: Webern, Stockhausen, Nono, Kurtág, Ligeti, Cerha, Rihm, Berio, Penderecki, Sciarrino etc., etc. Man sollte sich nun fragen, ob die Tendenz sinnvoll sei, vermehrt derlei prominente Veranstaltungen zu forcieren als das zeitgenössische, aufkeimende Schaffen. Jedenfalls haben sie einen positiven Effekt, eine Magnet- oder Sogwirkung, von der Vieles oder noch wenig Bekanntes profitieren kann, falls der jeweilige Veranstalter richtig zu dosieren versteht. Jahr für Jahr sind Festivals wie die Donaueschinger Musiktage, wo man nur Uraufführungen präsentiert, also qualitativ vorerst Unbekanntes, trotzdem ausverkauft. Aber dort stellt sich gezielt eine Hörergruppe ein, die sich aus versierten Interessenten, Veranstaltern, Musikproduzenten und Verlegern zusammensetzt.
Dennoch wird durch die programmatische Eingliederung international schon renommierter Komponisten und Komponistinnen der Anlockungsfaktor des Prominenten nicht außer Acht gelassen. Freilich deutet diese Tendenz zum qualitativ einigermaßen Abgesicherten auf ein Symptom des hierarchischen Qualitätsbewusstseins, was zugleich ein solches des bürgerlichen Rezeptionsverhaltens wäre: die Lust am Wiedererkennen, die relative Gewissheit hörend erfüllter Erwartungshaltung. Und das ist mit einer der Gründe, warum ich nach fünfzig nicht nur konstant mit neuer und neuester Musik erlebten Jahren den Eindruck habe, dass selbstverständlich das noch aktive Publikum meiner Generation älter und alt geworden ist, das Publikum der nächsten Generation mittlerweile aber so manche (Hör-)Gewohnheiten der vorangegangenen weiter pflegt und eine Gruppe der wirklich Jungen in die gleichen Bahnen gerät. Evolution also in der Ruhephase. Andererseits garantiert diese Situation das Fortwirken der historisch verankerten Musikkultur, ohne die keine soziologische Ordnung humane Lebenswerte aufrechterhalten könnte.
Indes ist die Gefahr einer Unterbrechung dieses Kontinuums groß, sehr groß sogar, wenn in Generationsübergängen eine Lücke sich bildet, und diese Lücke ist bereits vorhanden. Zwar werden Begegnungen mit Musik, konzertante Veranstaltungen mit Einführungen oder theatralischer Präsentation, Events und Workshops für kleine und größere Kinder veranstaltet, aber die nachhaltige Wirkung lässt letztlich zu wünschen übrig. Ab dem vierzehnten Lebensjahr driften viele der vorerst Gewonnenen wieder ab und landen beim MP3-Ohrstöpselkonsum, vor allem jene, die durch das Elternhaus musikalisch nicht vorgeprägt sind. Man bedenke zudem, dass hierzulande gute zehn Prozent der Eltern schulische Kulturvermittlung für ganz unwichtig halten, ein erheblich höherer Prozentsatz für wenig wichtig. Es müssten also dringlichst Musikvermittlungsprogramme für die 14- bis 18jährigen entwickelt und mit ministeriellem Nachdruck angeboten werden, um eine wirksamere Rückführung zur Kunstmusik zu erreichen. Leider aber ist das didaktische Defizit unübersehbar, die letzten hundert Jahre sind infolge Unkenntnis aus dem Unterricht weitgehend ausgeklammert, eine Lehrerausbildung, die sich auf das 20. und 21. Jahrhundert konzentriert, ist nicht existent, oder sie wird ignoriert. Was einst in Österreich zwischen 1994 und 1998 mit den “Klangnetzen” zum Wohle eines initiativen und aktiven Musikunterrichts sukzessiv und mit Erfolg aufgebaut wurde, ist in den nachfolgenden Jahren einer schwarzblauen Regierung von dieser unverantwortlich zerstört worden. Und so entsteht der Eindruck einer Insel der Seligen allenfalls nur dort, wo ein markant großer Kreis kulturell Interessierter, musisch Vorgeschulter ausreicht, ein prozentuell günstiges Verhältnis zur Gesamtbevölkerung zu suggerieren.
Das mag in Wien einigermaßen zutreffen. In Niederösterreich beispielsweise sind es aber laut Statistik nur 4.5 %, die sich für Kultur interessieren (eingeschlossen sind, ausgenommen bildende Kunst, Oper, Operette, Konzert, Musical, Ballett, Schauspiel). Ist das noch ein Land, wo Kunstmusik in seliger Weite blüht? Die Notwendigkeit musischer Bildung wurde in den vergangenen Jahren politisch sträflich vernachlässigt, so dass mittlerweile das Image des Musiklandes Österreich angekratzt ist, sofern es sich nicht um konservierte Bestände der Tradition handelt. Sollte sich neuerdings das Manko politisch zum Besseren wenden, wird viel gegenwartsbewußte Vermittlungsarbeit notwendig sein. Und sollten in anderen europäischen Ländern noch schlechtere Werte vorliegen – es kommen ja nach wie vor Musikstudentinnen und -studenten aus dem Ausland, aus Übersee nach Österreich -, ist dies kein Argument, das musikalische Potential dieser “Insel” brach liegen zu lassen, auf dass es nicht eine unselige werde.