Ein starkes Stück haben Nora und Michael Scheidl mit “ONE WAY. Ein Trip im Train” zum Abschied von netzzeit geliefert, als letzte Produktion einer der nicht nur längstgedienten, sondern auch der profiliertesten Freien Gruppen der Wiener Szene. Zwei Vorstellungen mit Publikum sind sich im November gerade noch ausgegangen, bevor maßnahmenbedingt der letzte Vorhang fallen musste, und wer nicht im Theater Nestroyhof/Hamakom dabei sein konnte, ist gut beraten, den Trip per Video nachzuholen.
Was da so scheinbar harmlos, holzschnittartig und plakativ daherkommt, ist ein durchaus hinterfotzig angelegter, zutiefst verstörender Albtraum. Wir erleben einen Horrortrip, der die Passagiere – die wir auf der Bühne zu sehen glauben, indessen wir es auf unseren vermeintlich sicheren Plätzen im Zuschauerbereich selber sind – nicht in eine schreckenerregende Phantasiewelt entführt, sondern nur einfach die ganz reale Welt sichtbar macht, in der wir schon längst leben. Dem aufmerksamen Passagier gefriert das Blut schon in der ersten Minute in den Adern, wenn er in den von Nora Scheidl mit boshaftem Blick für das kalt Geschäftsmäßige vorgetäuschter Designergastlichkeit gestalteten Coupés als Zugreisender der Safeway Train Company, powered by Datafare begrüßt wird. Datafare, wirklich? Oder, wie war das nun gleich – tatsächlich Datafare, also eine Reise, die wir mit der Preisgabe unserer Daten bezahlen? Oder doch Datafair, wie der redliche Umgang mit unseren Daten oder aber auch die Messe, auf der diese verhökert werden? Oder – wie uns der verspätete Blick ins Programm belehrt – Datafer, eine Veranstaltung, bei der Informationen über unsere Person – auch die intimsten, wie wir bald lernen werden – einfach so weitergeleitet, eben transferiert werden?
Willkommen also auf der Reise in einem Zug der Safeway Train Company, powered by Datafer, schon der Name eine gefährliche Drohung, der, ehe wir noch richtig Platz genommen haben, mit dem im öligen Marketington angefügten Slogan der Gesellschaft eine weitere, schlimmere folgt: Dank der Daten aller sicher ans Ziel. – Freilich kommen wir gar nicht dazu, uns in angemessener Weise über den ungeheuerlichen Inhalt der Begrüßung zu entsetzen, weil er uns nämlich in so freundlichem Tone eingeflößt wird, weil alles viel zu schnell geht in dem mit 600 Stundenkilometern dahinbrausenden ÖkoHighSpeedExpress, und weil das Grauen sofort camoufliert wird durch das Nestroy-Couplet, mit dem sich der sanftmütige Lokführers Alois (grandios der mit allen komödiantischen Wassern gewaschene, nuancenreiche Rainer Doppler) vorerst einmal samtstimmig einführt und die erste Probe der enormen Spannweite der musikalischen Farbenpalette des Komponisten Clemens Wenger abliefert, von dem wir im Lauf der folgenden erstaunlich kurzweiligen zwei Stunden auch noch Jazz, deutsches Musical, Austropop, feinsinnige Barmusik, Song, Chanson, Minimal und einen Choral im Eisler/Brecht-Stil zu hören bekommen.
Der Textdichter Ibrahim Amir und der Autor der Liedtexte, Lukas Meschik, nehmen sich in der Folge eine ganze Stunde Zeit, um ihr überaus diverses Personal vorzustellen: Meral, die machtbewußte Zugchefin (präsent und glaubhaft wandlungsfähig Lara Scienzak); der spätpubertierende, verkrachte Filmemacher Marcel (Johannes Sautner, der sich im Lauf des Abends zusehends freispielt und in seiner Anklagerede im zweiten Teil zu großer Form aufläuft) mit seiner Ehefrau und Ernährerin, der Opernsängerin Katharina (authentisch rollendeckend Shira Karmon); das wiedergängerische Hippiepaar Karima und Bernhard (Mara Guseynova und Gëzim Berisha höchst vergnüglich im Friede-Freude-Eierkuchen-Ton der 70er); die ukrainische Altenpflegerin Anne-Marie (Anete Liepina nimmt man gerne die nicht ganz selbstlose Entsorgung des ihrer Fürsorge anvertrauten Faschisten-Generals ab) und ihr skrupulöser Ehemann Christoph (Dan Glazer, rundum sympathisch und wohltönend); und schließlich Josef, der ehemalige rechte Politiker (bravourös unsympathisch Nicolaas Buitenhuis) – ein perfekt zusammengestelltes Ensemble, dessen individuelles und gesamthaftes Potential von Regisseur Michael Scheidl virtuos genützt und zum Blühen gebracht wird.
Gerade wenn man nach sechzig Minuten Exposition allmählich auf die Idee kommen könnte darüber nachzudenken, warum man auf dieser Bühne eher Typen als Individuen zu sehen bekommt, tritt zum ersten Mal der eigentliche Protagonist des Trips auf. Es ist der Zug selbst (Angela Reisinger wird ihm später ihren schönen Mezzo leihen), der alles über sein grenzhumanes, ausrechenbares und damit jeder Individualität beraubtes Transportgut weiß. Der ÖkoHighSpeedExpress hat die volle Kontrolle über alles und jede(n) übernommen, mit gutem Grund, wie wir erfahren, denn auf die Menschen ist unterm Strich kein Verlass. Das Pandämonium, das wir in der zweiten Hälfte des Abends erleben, ist dann eigentlich nichts weiter als eine nur ein wenig überdrehte Bestandaufnahme des tatsächlichen status quo am Beginn des dritten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts, einschließlich der jubelnden Zustimmung der vom Hypersubjekt Zug in ihrer Subjekteigenschaft abgelösten Datenklumpen, die ihre Transformation in kalkulier- und lenkbares Material auch noch mit dem vertanzten Jubelchoral (die gleichermaßen witzige wie dezente Choreographie von Alex Riff setzt fein verteilte Akzente) Widerstand hat keinen Sinn feiern.
Bleibt noch das vierköpfige Instrumentalensemble (Piano + Keys/Clemens Wenger, Kontrabass, E-Bass. Synth-Bass/Judith Ferstl, Drums. E-Drums, Vibraphon, Bongos/Robin Prischnik und Substitution Piano Caroline Loibersbeck) für seine hochkonzentrierte und subtile musikalische Leistung zu loben und ein kurzes Resumée über ONE WAY als würdigen Schlusspunkt zu ziehen, der Sinn und Bedeutung von 37 Jahren Theaterarbeit zeigt, die Nora und Michael Scheidl mit netzzeit in der und für die Stadt Wien und die Republik Österreich geleistet haben. Von der Lust und Freude am Theater, am Spiel, an der Begegnung und am Eigenen hat sich diese Arbeit immer mehr zum gesellschaftspolitischen Engagement mit den Mitteln der Bühnenkunst verdichtet und ist zuletzt zu einer heimlichen Königsdisziplin aufgestiegen, dem Volkstheater, das auf den Straßen und Plätzen der Stadt gespielt wird und vornehmlich für jene, die ein Theater kaum aufsuchen würden, auch keines der Off-Szene. netzzeit hat sich dabei konsequent jenem Kunstdiskurs verweigert, der künstlerische Qualität nur solchen Erzeugnissen zubilligen will, für deren Verständnis ein Hochschulabschluss notwendige, aber sehr häufig keineswegs hinreichende Voraussetzung ist. Mit ONE WAY hat netzzeit seine letzte Geschichte in zugänglicher Weise erzählt, brandaktuell und mit virtuoser Theaterpranke.
Mit netzzeit verlässt eine Freie Gruppe die Szene, deren Arbeit nicht in selbstreferenzieller und affirmativer Produktion für den engen Kreis eines in den eigenen Echokammern ebenso beheimateten wie gefangenen Publikums bestimmt war, sondern mit einem prononciert aufklärerischen Programm ebenso auf junge Menschen wie auch auf bildungsferne und theaterfremde Personen zugegangen ist. Es war, mit einem in diesem Zusammenhang sehr passend erscheinenden Begriff aus der Sozialarbeit gesagt, aufsuchendes Theater, das Nora und Michael Scheidl gemacht und mit ihrer sehr persönlichen Handschrift versehen haben.
netzzeit wird fehlen.
Sven Hartberger
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