Donaueschingen hat Tradition. Alljährlich zum bekanntesten Festival für neue Musik an der Donauquelle im ländlichen Teil Baden-Württembergs (deren Felsen im Donautal am ehesten Kletterern gut bekannt sein dürften) wird der warme Mantel, werden Handschuhe und Schal aus dem Sommerschlaf geweckt, um dann drei Tage lang ohne zu frieren von einer Sporthalle zur nächsten zu wandern. Obwohl, in diesem Jahr waren die Renovierungsarbeiten der Donauhallen abgeschlossen. Mehr als ein wenig Kosmetik und ein zusätzlicher Saal? Akustisch zumindest nicht. So schade dies ist, doch so ist es in Donaueschingen. Und die schlechte Akustik bei der NOWJazz Session, auch diese gehört leider dazu. Eine riesige Sporthalle lässt sich trotz ganzem Einsatz bester Kräfte von seitens der SWR-Technik nicht in einen akustisch optimierten Konzertsaal verwandeln. Doch zur Musik:
Interpretationsvergleich, ein beliebter Seminartitel. Nicht nur, denn hochinteressant sind dabei nicht nur die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit verschiedenen ästhetischen, klanglichen und rezeptionsgeschichtlichen Ansätzen, sondern auch das damit verbundene Kennen lernen des jeweiligen Stückes, das Betrachten von verschiedenen Seiten und Blick-, respektive Hörwinkeln. Je nach Interpretationsansatz wird mal der eine, mal der andere Aspekt in den Vordergrund gerückt.
Interpretationsvergleich zeitgenössischer Musik war denn auch das zentrale Thema der vergangenen drei Festivaljahrgänge. Nach einem Vergleich drei der wichtigsten Ensembles für zeitgenössische Musik (darunter das Klangforum Wien) 2008, standen im vergangenen Jahr Orchesterwerke im Zentrum. Die Trilogie abgeschlossen hat heuer die (einstige) „Königsdisziplin“ der Kammermusik, das Streichquartett. Mithin ausgerechnet die Gattung, die im 20. Jahrhunderts als zumindest fragwürdig gegolten hatte, weil es doch allzu sehr die bürgerliche Musiktradition repräsentierte. Doch immer gab es Komponierende, die sich dennoch oder gerade deshalb an dieser Besetzung (mit Erfolg) abarbeiteten, auch wenn nicht immer mehr, etwa im Falle Feldmans, die ursprüngliche Definition der Gattung Streichquartett als „Vier vernünftige Leute sich unterhaltend“, wie es einst Gorthe beschrieben hatte, bedient wurde und wird. Ausschließlich Männer waren es in Donaueschingen, die zum Interpretations- und Streichquartett-Vergleich, denn der war es unweigerlich auch, antraten. Neben dem renommierten Arditti-Quartett, das in den vergangenen Jahrzehnten wesentlich dazu beigetragen hat, das Streichquartett als Besetzung lebendig zu erhalten, waren es das Diotima Quartett aus Frankreich und das Jack Quartet aus den USA. Die beiden jungen Quartette boten zwei recht unterschiedliche Auslegungen von Peter Ablingers „Wachstum und Massenmord“. Das Werk selbst ist mehr Konzeptkunst, die die Gattung Streichquartett in ihrem Soziotop Kammermusik-Konzert thematisiert: Die Musiker sollen eine Quartettprobe inszenieren oder vielmehr öffentlich proben. Und genau hierin unterschieden sich die beiden Interpretationen. Das Diotima Quartett trat in Alltagskleidung auf, also kostümiert, denn ihre normale Konzertkleidung trugen sie vorher und auch für die anderen Stücke wieder. Sie inszenierten das Stück, probten eher extrovertiert. Sie inszenierten die Probe als Bühnenwerk und legten damit einen Kontrapunkt zur traditionell intimen kammermusikalischen Besetzung Streichquartett. Diese stand für das Jack Quartet im Vordergrund. Die vier Musiker saßen einander zugewandt an einem Tisch, der dem historischen Spieltisch nachempfunden war. Sie probierten leise, exakt, langsam-präzise. Auch ihre wechselseitigen Kommentare und Anmerkungen waren leise: Probenarbeit, eher zufällig auf der Bühne.
Das Publikum als Voyeur. So sehr man solcherart Konzepte Jahrzehnte lang kennt, so sehr zeigten diese konträren Ansätze die Spannweite der Interpretation auch bei relativ exakten Angaben und Spielanweisungen zeitgenössischer Musik. Das 6. Streichquartett von James Dillon interpretierten alle drei Quartette. Mäandernde Entwicklungen ausgehend von einem Zentralton, kontrastierende Zustände, Spiel mit Klangfarben; auch dieses Stück bot sich zum Interpretationsvergleich an. Das Fazit des Vergleiches, zugegeben verknappt dargestellt: Das jüngste Quartett, Jack, spielte am geradlinigsten (amerikanisch?), das Diotima Quartett am expressivsten (französisch?), während das Arditti Quartett am stärksten binnendifferenziert arbeitete. „Die Ardittis spielen doch am besten“, das war des Öfteren zu hören gewesen. Und doch sollte man fairer Weise betonen, dass, wie bei jedem Ensemble, vor allem in kleiner Besetzung, eine so lange Spieltradition und das Aufeinander eingespielt sein den Ardittis einen Vorsprung gab. Qualitativ zählen auch die beiden anderen Quartette zu den vielversprechenden hochqualitativen Besetzungen.
Das Soziotop Streichquartett beäugte auch Georg Nussbaumer in seiner Installation „Salon Q“. Er legte es offen, entlarvte in gewissem Sinne das Mystische dieser historischen Besetzung und zementierte dieses zugleich. Im örtlichen Einrichtungshaus waren die Instrumente eines Quartetts verstreut, wurden gelegentlich gespielt, Bruchstücke der Quartettliteratur, einzelne Stimmen. Dazu: Noten, Bleistift, Flugtickets, typische Utensilien eines jeden Streichers. Videos, die Nussbaumer nicht zum ersten Mal recycelte – oder aber, je nach Sichtweise, als wiederkehrendes Moment in seine Installationen integrierte – nebst manchmal leider allzu plakativen Assoziationsketten: Eine Frau im kleinen Schwarzen kniet vor einem Streichinstrument, flicht ihre Haare durch die Saiten, zieht sie heraus, ihre Haare werden zum Bogen, die Frau und die „weiblichen“ Formen des Instruments… Ähnlich plakativ leider eine Skulptur aus vier Streichinstrumenten und surrenden Vibratoren. Oder das mit Pfeilen durchlöcherte Cello nebst Live-Performance der örtlichen Bogenschützen.
Der Orchesterpreis des SWR-Sinfonieorchesters ging in diesem Jahr an Georg Friedrich Haas. Das bedeutet, dass das Werk ins Repertoire des Orchesters aufgenommen wird und gute Chancen hat, wiederholt aufgeführt zu werden. Schwierig ist es dabei in diesem Falle allerdings, Veranstalter zu finden, die sechs Klaviere im Vierteltonabstand bereitstellen können. In Erinnerung an einen der Gründerväter der Mikrotonalität, Wyschnegrasky (von dem zwei kurze Stücke zu hören gewesen waren), komponierte Haas ein Werk für 6 Klaviere und großes Orchester. Hier zeigte sich wieder einmal sein ganzes instrumentatorisches Wissen und Können im Umgang mit der Mikrotonalität. Haas weiß genau, wie er Klaviere und Orchesterfarben zum Flirren und Oszillieren bringt, welche Klangschichtungen besondere Interferenzen ergeben. „Limited approximations“ ist ein faszinierend klangschönes Werk, in dem weit ausladende, flächige, binnendifferenziert oszillierende Texturen eine Weile lang überwiegen, um nach und nach gebrochen und vorsichtig entwickelt werden. Überraschend war die Präzision und Ausgearbeitetheit, ein neuer ästhetischer Ansatz war es jedoch nicht. „In Vain“ z.B. rief sich in Erinnerung. Diese kompositionstechnische Feinheit mit klangschönem und trance-verdächtigem Resultat, mag sie nicht manchmal gar über ästhetische Fragestellungen täuschen?
Vinko Globokar bündelte in „Radiographie d’un roman“ für Vokalensemble mit Solisten, Elektronik, einen Schlagzeuger und Orchester seine verschiedenen ästhetischen Positionen und Ansätze seines musikalischen Lebens als Komponist, Improvisator und Performer. Dichte, scheinbar anarchische Texturknäuel, unverständliche, weil allein aus einzelnen Silben bestehende Vokalaktionen zwischen Sprechstimme und Gesang wechselnd, der Chor schließlich am Schluss performativ in Kreisen gestellt, gebrochene Volkslieder intonierend. Dazu erschien Globokars langjähriger Weggefährte und einstiger „New Phonic Art“-Kollege Jean-Pierre Drouet als Jahrmarktstrommler, der sich in der Bühne geirrt zu haben schien: Anarchisches und Theatrales, die Musik seiner slowenischen Heimat, nicht ungebrochen, Live-Elektronik. Eine mögliche inhaltliche Assoziationskette bleibt dem Publikum selbst überlassen. Globokar gelangen Verweise und Verwebungen, Anleihen gerieten nie zu plakativ. Eines der Orchesterhighlights des Festivals.
Die Radio Kamer Philharmonie Hilversum war das zweite Orchester. Sie brachten Werke von Felipe Lara, Michael Norris, Marco Stroppa und Simon Steen-Andersen zu Gehör. Erwähnenswert ist hier vor allem der junge Spahlinger-Schüler Anderson. Er arbeitete mit Wiederholungen, die zeitweise an die Arbeit Bernhard Langs denken ließ. Allerdings standen bei Steen-Anderson viel stärker Entwicklungen, Wechsel und Veränderungen im Zentrum. Zugespielte Samples aus Alltagsgeräuschen oder aber auch leicht variiert aus dem Orchestermaterial erstellt, setzte er klug als Kontrapunkt, als wiederkehrende Elemente oder auch für subtile Klangmischungen ein.
Wiederholungen, Bernhard Lang: Mit einem über 60Minuten dauernden Streichquartett, Monadologie IX, eröffnete das Arditti Quartett die Donaueschinger Musiktage. In Langs Serie Monadologie werden Wiederholungen zerstückelt und verändert. Die Ausgangssamples sind Bruchstücke aus jeweils einem Werk des klassischen Musikkanons, hier Haydns „Sieben Worte des Erlösers am Kreuz“. Das Original scheint immer wieder durch, meist am Satzanfang. Zunächst sehr subtil, in den späteren Sätzen zunehmend plakativer. Anfangs besticht der Wechsel zwischen der Tragik des Originals und den fast groovenden Wiederholungen. Mit der Zeit allerdings liegt das Prinzip der Arbeit mit zellulären Automaten, mit dem Computer, dessen Vorschläge vom Komponisten korrigiert werden, allzu offen und fast ein wenig ermüdend zu Tage. Doch Bernhard Lang lernt und feilt, wie er selbst sagt, bei jedem Stück weiter, denn als Komponist zieht er sich zurück aus dem Geschehen, sobald – und hier bleibt er derjenige, der die Fäden in der Hand hat – der zentrale Ausgangsimpuls entwickelt und gesetzt ist: ein für das jeweilige Werk entwickelter Algorithmus, der die Granulation vornimmt.
Die jährliche SWR2 NOWJazz Session war diesmal ohne österreichische Beteiligung. Neubefragungen und Neudenken von Bebop und Free Jazz. In den USA gibt es so manche Musiker der jüngeren Generation, die, hervorragend ausgebildet mit besten Kenntnissen nicht nur in der Jazztradition, sondern auch der der Klassik und zeitgenössischen Komponierten Musik versiert, den Jazz zu erneuern versuchen. Kein postmodernes Patchwork steht im Vordergrund von Musikern wie des Pianisten Vijay Iyer, des Schlagzeugers Tyshawn Sorey oder eben des noch keine 30 Jahre alten Trompeters Peter Evans, sondern eine Neubetrachtung des Bebop aus der Sicht des 21. Jahrhunderts. Peter Evans: Man kombiniere Peter Brötzmanns Energie mit Evan Parkers schier endlosen zirkulargeatmeten Klangströmen. Dann unterlege man diese Mischung mit den zurückgenommenen, feinst ausdifferenzierten Rausch- und Geräuschklängen Franz Hautzingers. Schließlich würze man das Ganze mit einer bunten Mischung aus verschiedenen Spieltechniken und Spieltraditionen – den Jazz nicht zu vergessen. So etwa lassen sich die Ingredienzien der Musik von Peter Evans beschreiben. Der junge Trompeter aus New York ist ein Tausendsassa. Er ist technisch perfekt, vor allem aber stilistisch versiert. Er saugt Einflüsse auf, weder um daraus ein Patchwork zu flechten, noch um reine Virtuosität zu demonstrieren. Er ist auf der Suche, das Gewesene und Gehörte zu amalgamieren. Und so klingt sein Jazz neu durchdacht, rhythmisch, harmonisch, melodisch, funktional. Peter Evans war sowohl mit seinem neuen Jazz-Quartett als auch im noise-betonten Duo mit seinem Trompetenkollegen Nate Wooley zu hören gewesen.
Im zweiten Teil interpretierten Full blast und friends ein neues Werk des Schlagzeugers Michael Wertmüller. Komponierter Free Jazz, kein Paradox, sondern Tradition. Man denke z.B. an Kompositionen von Barry Guy oder Alexander von Schlippenbach. Präzise und voller Energie gespielt, gebändigter und doch entfesselter Free Jazz. Kleiner Wermutstropfen: Wertmüllers Komposition ähnelt so vielen Kompositionen im Free Jazz. Breaks stoppen ruckartig komplexe und dichte Strukturen, die Musiker setzen neu an, brechen wieder ab. Soli und wiederholtes Colla-parte-Spiel ergänzen das Ganze.
Nicht nur am Streichquartettpodium, auch bei der JazzSession standen in diesem Jahr ausschließlich Männer auf der Bühne. Im kommenden Jahr allerdings wird es eine reine Frauen-Session werden, mit vielversprechenden Musikerinnen.
Nina Polaschegg
P.S. Warum suchte man in den Presseaussendungen den Jazz eigentlich vergebens? Warum wurde nicht auch der Jazzredakteur und Kurator der NOWJazz Session, Dr. Reinhard Kager, bei der Abschlusspressekonferenz neben vielen anderen, inkl. Der LeiterInnen von SWR Vokalensemble und Experimentalstudio des SWR, auf die Bühne gebeten?
P.P.S. Die niederländische Regierung will das Musikzentrum des niederländischen Rundfunks abschaffen! Ein Aufruf bzw. Link der Radio Kamerfilharmonie Hilversum sei hier weitergeleitet.
www.mco.nl
http://www.swr.de/swr2/donaueschingen/