CONCHITA WURST musste durch etliche TV-Castingshows tingeln, bis sie schließlich 2014 den SONG CONTEST gewann. In Sachen Mainstream-Pop heißt es in Österreich: Ohne Castingshow-Unterstützung wird‘s schwierig …
Drei Minuten Fernsehen können nicht nur eine Karriere, ein Leben verändern. Manchmal sogar ein ganzes Land. Tom Neuwirth, in der viel zitierten „österreichischen Provinz“ aufgewachsen, stand da im Mai 2014 als Conchita Wurst auf der Song-Contest-Bühne in Kopenhagen, schmetterte eine bombastische Nummer in die europäischen Haushalte – und holte doch glatt die Eurovisionskrone. Und weil der Song Contest eben die größte TV-Show der Welt ist – und eigentlich die Mutter aller TV-Castingshows –, genügten diese drei Minuten, um so etwas wie globale Aufmerksamkeit zu erregen. Weltstars wie Elton John, Cher, Lady Gaga, Karl Lagerfeld und Jean Paul Gaultier outeten sich als Fans. Internationale und – siehe da – nationale PolitikerInnen zeigten sich beeindruckt. Plötzlich ist Conchita Wurst nicht nur Sängerin, sondern auch ein gefragtes Model, Interviewpartnerin und – natürlich – Botschafterin der Liebe. Conchita Wurst ist die neue Königin der Herzen. Und der Hype hält an.
Doch der Erfolg kam nicht über Nacht: Tom Neuwirth tingelte durch mehrere österreichische TV-Castingshows – immer mit dem Ziel, als Sänger durchzustarten. Währens seines Studiums an der Modeschule Graz nahm er 2006 an der dritten Staffel des österreichischen Casting-Formats „Starmania“ des öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders ORF teil und landete dank emotionaler Performances auf dem zweiten Platz. Aber wie es Castingshows so an sich haben: Einen musikalischen – oder gar finanziellen Erfolg – konnte Neuwirth daraus nicht generieren. Aber Neuwirth gab nicht auf: 2011 trat er dann erstmals als Kunstfigur Conchita Wurst ins TV-Rampenlicht – erneut im Rahmen einer Castingshow des ORF. In „Die große Chance“ spaltete die „bärtige Lady“ erstmals die Nation und erreichte schlussendlich den sechsten Platz. Auch danach: kein Erfolg. Aber Conchita gab nicht auf: 2012 nahm sie an der TV-Vorausscheidung für den Song Contest teil, wo sie jedoch knapp dem Rap-Duo Trackshittaz unterlag. Spätestens da war klar: Conchita Wurst würde wohl nie eine österreichische Publikumsabstimmung, nie eine österreichische Castingshow gewinnen …
2014 war dann alles anders. Der ORF verzichtete aus Kostengründen auf eine Vorausscheidung zum Song Contest, nominierte Conchita, ohne das Publikum zu fragen. Ohne Kameras, ohne Castingshow, ohne Show-Wettbewerb. Und Conchita Wurst wurde zum Weltstar.
Da stellt sich die Frage: Braucht es in Österreich überhaupt Castingshows, um erfolgreich zu werden? Sind sie ein Sprungbrett oder eher ein Hindernis für eine große Karriere in der Musikbranche?
Castingshows im öffentlich-rechtlichen Rundfunk: Mit „Starmania“ fing‘s an
Österreich sprang 2002 mit der ersten Staffel von „Starmania“ auf den Zug der Castingshows auf – in einer Zeit, in der internationale Formate wie „Pop Idol“ (Großbritannien), „American Idol“ (USA) oder „Popstars“ und „Deutschland sucht den Superstar“ (beide Deutschland) Hochkonjunktur hatten. „Starmania“ gehört bis heute zu den erfolgreichsten Shows der ORF-Geschichte, die erste Staffel verfolgten im Schnitt 910.000 ZuschauerInnen (bei 8 Millionen ÖsterreicherInnen eine sehr starke Performance), im Finale wurden unglaubliche 6 Millionen Televotings abgegeben. Die gemeinsam veröffentlichten Singles der FinalistInnen und die „Starmania“-Alben erreichten allesamt die Top-10-Charts, mitunter sogar die Poleposition. Auch die der TV-Show folgende Österreich-Tour, an der alle KandidatInnen teilnahmen, wurde ein riesiger Erfolg. Die folgenden drei „Starmania“-Staffeln (insgesamt bis 2009), bei denen zum Teil Änderungen in der Dramaturgie vorgenommen wurden, konnten an den Anfangserfolg zwar nicht mehr anschließen, bescherten dem ORF aber nichtsdestotrotz zufriedenstellende Quoten – einzig die vierte Staffel mit zum Teil weniger als 400.000 ZuschauerInnen blieb hinter den Erwartungen zurück.
2010 wurde „Starmania“ von der Castingshow „Helden von morgen“ abgelöst. Ähnlich wie beim international erfolgreichen „The Voice“-Format wurden die KandidatInnen hier von Prominenten (u. a. Reinhard Fendrich, Christina Stürmer, Marilyn Manson, Aura Dione) gecoacht, die für die NachwuchssängerInnen auch die Songs auswählten. Diese bekamen aber auch die Möglichkeit, selbst komponierte Songs zu präsentieren. Bei der Auswahl der KandidatInnen wurde auf einen musikalischen Genre-Mix geachtet: Erstmals in Österreich war es auch RapperInnen erlaubt, an einer Castingshow teilzunehmen. Bis zu 564.000 SeherInnen waren dabei. Für den ORF zu wenig. Nach der ersten Staffel wurde „Helden von morgen“ eingemottet.
Trotz der enttäuschenden Quoten von „Helden von morgen“ wollte der ORF nicht auf eine Freitagabend-Castingshow verzichten und startete „Die große Chance“. „Neue Talente aus Österreich“ sollten die SeherInnen begeistern, wobei man sich nicht nur auf das Musikgenre beschränkte: Auch AkrobatInnen, Comedians, TänzerInnen etc. konnten an der Show teilnehmen. Die Siegerin, die abermals durch Promi-Jury und Publikumsvoting ermittelt wurde, erhielt 100.000 Euro. Bis dato wurden aufgrund des großen Quotenerfolges (bis zu 946.000 ZuschauerInnen) vier Staffeln von „Die große Chance“ produziert. Dass sich MusikerInnen, die von einer großen Karriere träumen, mitunter von einem turnenden Hund geschlagen geben mussten – Pech. So ist eben das TV.
Auch Österreichs Privatsender versuchten sich in Sachen Castingshows – mit wenig Erfolg: 2011 floppte im Privatsender Puls 4 eine österreichische Version der deutschen Castingshow „Popstars“. Auch ein zweiter Anlauf mit „Herz von Österreich“ wurde für Puls 4 ein Quotendebakel.
Christina Stürmer: Falcos Nachfolgerin
Castingshows sorgen also – bis auf einige Ausnahmen – für gute Quoten. Wie sieht es aber mit den Karrieren der KandidatInnen aus?
Das beste Beispiel, dass man eine Castingshow nicht gewinnen muss, um sich im nationalen und internationalen Musikbiz behaupten zu können, ist Christina Stürmer. Die oberösterreichische Sängerin belegte bei der ersten Staffel von „Starmania“ den zweiten Platz, ließ aber nach der TV-Show den eigentlichen Sieger Michael Tschuggnall weit hinter sich. Ihre erste Single „Ich lebe“ belegte 2003 neun Wochen lang die Spitze der österreichischen Charts, das Debütalbum „Freier Fall“ verkaufte sich in Österreich mehr als 80.000-mal. Insgesamt kann Stürmer bis dato fünf Nummer-1-Hits vorweisen, seit 2006 feiert sie auch in Deutschland und der Schweiz große Erfolge. Mit mehr als 1,5 Millionen Tonträgern und zahlreichen Auszeichnungen (u. a. 10 Amadeus Austrian Music Awards und zwei ECHOs) gehört Christina Stürmer nicht nur zu den erfolgreichsten Sängerinnen im deutschsprachigen Raum, sondern gilt auch als der erfolgreichste österreichische Musik-Act seit Falco. Stürmer singt ausschließlich auf Hochdeutsch, ihr Stil oszilliert zwischen Pop, Rock und Schlager. Clever: Zu Castingshowzeiten „Christl“ tituliert, distanzierte sie sich schon bald vom televisionären Schaulaufen. Christina Stürmer will sie genannt werden. Und „Starmania“ mag ja fein gewesen sein – darüber sprechen will sie aber nicht (mehr).
Lukas Plöchl: der Skandal-Rapper
Für viel Aufsehen in der österreichischen Musikszene haben auch Lukas Plöchl und seine Mundart-Hip-Hop-Band Trackshittaz gesorgt. Plöchl belegte, ähnlich wie Stürmer, bei der Castingshow „Helden von morgen“ auch „nur“ den zweiten Platz, fiel aber unter den farblosen KandidatInnen von Beginn an durch seine Zielstrebigkeit und seine originellen Bühnenshows bzw. Songs auf. Plöchl schreibt, gemeinsam mit Partner Manuel Hoffelner, die Texte selbst, die sich – auch hier zeigen sich Parallelen zu Stürmer – durch ihre große Authentizität auszeichnen. In Mühlviertler Mundart rappt Plöchl über Partys, fesche Mädchen und das idyllische Leben am Land. Als Solokünstler schlägt er aber auch kritischere Töne an und thematisiert Aspekte wie Ausgrenzung und Selbstzweifel. Während Plöchl als Solokünstler nur bedingt Erfolge vorweisen konnte, gehört seine Band Trackshittaz zu den erfolgreichsten österreichischen Acts der letzten Jahre: Schon während „Helden von morgen“ konnten sich Singles der Band in den Charts positionieren. Insgesamt schafften es zwei Singles und zwei Alben auf Platz 1 der heimischen Charts. Plöchl, der für seinen Geschäftssinn bekannt ist, entdeckte eine Nische für sich: Mit Trackshittaz gab es endlich einen österreichischen Act, der die junge Partygeneration des Landes vertrat und zudem ein neues Musikgenre, nämlich den österreichischen Hip-Hop, nachhaltig etablierte. Als Karriereknick erwies sich die Teilnahme am Song Contest 2012, wo Trackshittaz (deren ESC-Song „Woki mit deim Popo“ eine Debatte über Sexismus in Österreich auslöste) bereits im Halbfinale scheiterten und auf dem allerletzten Platz landete.
Christine Hödl: großer Erfolg, tiefer Fall
Die gelernte Kindergärtnerin Christine Hödl gewann die erste Staffel der Show „Die große Chance“. Hödls großer Wiedererkennungswert sind ihre bluesig-rauchige Stimme und ihre authentische Art, mit der sie, sich selbst mit der Gitarre begleitend, eigene Songs auf der Bühne vorträgt. Obwohl ihre Singles nicht mal die Top 20 der Charts erreichten, wurde ihr Debütalbum bereits sechs Tage nach dem Erscheinen mit Gold ausgezeichnet. Aufsehen erregte Hödl von Beginn an durch ihren freien Umgang mit ihrer Homosexualität, wofür sie auch Kritik einstecken musste. Kurz nach dem Debütalbum kam der tiefe Fall: Die Karriere liegt bis heute auf Eis, angeblich soll heuer ein neues Album folgen. Hödl übt in Interviews offen Kritik am ORF und spricht davon, im ersten Jahr nach ihrem Sieg vom Sender sehr gepusht worden zu sein, bevor sie mit Beginn der zweiten Staffel „unsanft fallen gelassen“ wurde. Hödl betont immer wieder, nicht erneut an einer Castingshow teilnehmen zu wollen.
Julian le Play: interne Rückenstärkung
Zu den aktuell erfolgreichsten österreichischen Musikern gehört Julian le Play, der unter seinem richtigen Namen Julian Heidrich 2010 an „Helden von morgen“ teilnahm, allerdings nur den siebten Platz erreichte. Zwei Jahre später veröffentlichte er unter seinem Künstlernamen die selbst geschriebene Single „Mr. Spielberg“, die zu einem der meistgespielten Songs des Jahres 2012 wurde. Auch seine beiden Alben waren jeweils Top-10-Hits. 2014 tourte er mit den international erfolgreichen Acts James Blunt und Revolverheld durch Deutschland und Österreich. Seine Hits haben zwar zweifelsohne Ohrwurmcharakter, der Erfolg ist aber kein Zufall: Als Julian Heidrich ist er seit 2011 als Moderator bei Ö3 tätig, Österreichs größtem Radiosender. Und welch Zufall: Seine Songs stehen seit Jahren ganz oben auf der Ö3-Playlist.
Tagträumer: Erfolg versprechende Newcomer
Die größte Konkurrenz von Julian le Play ist zurzeit die steirisch-burgenländische Band Tagträumer. Obwohl die fünf Jungs bei „Herz von Österreich“ nur den fünften Platz belegten, schafften sie es seit Ende der TV-Show mit zwei Hits in die Top 10 der Charts; die Single „Sinn“ erreichte gar Goldstatus und hielt sich sensationelle 38 Wochen in den Austro-Charts. Das Unplugged-Video des Songs hält bei YouTube bei aktuell 1,6 Millionen Zugriffen. Tagträumer präsentieren sich als bodenständige Popband, die im Stil von Christina Stürmer radiotaugliche Songs mit Ohrwurmcharakter abliefert. Ende 2014 ergattern Tagträumer einen Plattenvertrag in Deutschland und wollen nun auch in Österreichs Nachbarland durchstarten.
Papilaya, Beiler und Co.: musikalische Mittelklasse
Neben Stürmer, Plöchl und Co. gibt es einige Ex-Castingshow-KandidatInnen, denen die große Karriere zwar verwehrt blieb, die sich in den letzten Jahren aber doch als verlässliche Größen in der österreichischen Popbranche etablieren konnten.
Eric Papilaya war Top-5-Kandidat der dritten Staffel von „Starmania” und Österreichs Vertreter beim Eurovision Song Contest 2007, schied allerdings bereits im Halbfinale aus. Im selben Jahr sang er den offiziellen Life-Ball-Song. Aktuell ist er Teil der Swingband The Rat’s Back und der Heavy Talents – der Liveband der Castingshow „Die große Chance“. Charterfolge konnte er mit seinen Singles keine verbuchen.
Nadine Beiler ging als Gewinnerin von „Starmania 3“ hervor und vertrat Österreich beim Song Contest 2011 in Düsseldorf. Sie belegte den 18. Platz. Aufgrund von Problemen mit der Plattenfirma und ständig wechselnden Musik-Genres kam ihre Karriere aber nie richtig in Fahrt.
Vera Böhnisch nahm an der ersten „Starmania“-Staffel teil. Ihr Musikstil wechselt zwischen R&B, Jazz, Swing und Nu-Soul. Seit Beginn ihrer Karriere 2003 gelang es Vera, unter anderem mit ihrer Band L’Enfant Terrible, einige Charterfolge zu verbuchen.
Auch Lukas Perman war Teil der ersten „Starmania“-Staffel, in der er den achten Platz belegte. Nach seiner ersten Single (Platz 9 in den Charts) kehrte er wieder zu seinen Musical-Wurzeln zurück. Dank Produktionen wie „Elisabeth“ und „Romeo und Julia“ gehört Perman heute zu den gefragtesten Musical-Stars in Österreich.
Während er bei „Starmania 1“ nur den zehnten Platz erreichte, konnte Thomas David die dritte Staffel von „Die große Chance“ für sich entscheiden. Seine bisherigen beiden Singles, von David selbst komponiert, erreichten Platz 4 und 5 der österreichischen Charts, sein Album stieg bis auf Platz 3.
Fazit: Das Geheimnis ist Authentizität
Österreichische Castingshows stellen – wie auch in anderen Ländern – eine einzigartige Plattform für NachwuchskünstlerInnen dar, um in kürzester Zeit einem großen Publikum bekannt zu werden. Aber: Kaum gehen die TV-Scheinwerfer aus, liegt es an den KünstlerInnen alleine, ihre Karriere nachhaltig aufzubauen. Unterstützung von TV-Sendern ist keine zu erwarten. Die Show ist ja vorbei. Eher untypisch im Vergleich zu anderen Ländern: Die Erfolge von Christina Stürmer oder Trackshittaz – und natürlich von Conchita Wurst – zeigen, dass man die jeweilige Castingshow nicht gewinnen muss, um Karriere zu machen. Eher im Gegenteil. Offensichtlich gehorcht ein TV-Wettgesinge doch anderen Regeln als das Musikbusiness …
Autor: Ralf Strobl
Koautor: Manuel Simbürger
Foto Starmania: ORF/Franz Neumayr
Foto Conchita Wurst: Julian Laidig
Foto Christina Stürmer: Universal
Foto Trackshittaz: P. Benovsky
Foto Julian Le Play: Julian Le Play