Vergangenes Jahr ist mit „A Rose is a Rose is …“ eine Orgel-solo-CD mit Werken von CHRISTOPH HERNDLER, selbst Organist und interdisziplinärer Künstler, erschienen. Am 5. Jänner 2024 feierte er seinen 60. Geburtstag. Im Gespräch mit Marie-Therese Rudolph erzählt er von der Ursprungsidee seiner Notationsgrafiken, den Klängen, die ihn musikalisch geprägt haben, und über die Orgelstücke, die sein Freund Wolfgang Kogert eingespielt hat.
Geboren 1964 in Oberösterreich ist Christoph Herndler in seiner künstlerischen Entwicklung maßgeblich von seinem Lehrer an der Musikuniversität Wien, Roman Haubenstock Ramati, einem Pionier der grafischen Notation, geprägt. In Wien studierte CHRISTOPH HERNDLER zudem Orgel und Elektroakustik. Es folgten Studienaufenthalte an der Stanford University in Kalifornien, am Department of Visual Art der University of California in San Diego und an der Claremont Graduate University.
Du fixierst deine Kompositionen seit langem in Form von Notationsgrafiken. War das schon immer so?
Christoph Herndler: Nein. Als ich mein Kompositionsstudium begonnen habe, verwendete ich das klassische fünflinige System mit seinen konventionellen Symbolen. So habe ich einmal eine Form notiert, bei der eine lange, rasche Tonfolge ständig wiederholt wird, aber bei jeder Wiederholung ein Ton vom Beginn und ein Ton vom Ende der Tonfolge wegfällt – so lange eben, bis nur noch der zentrale Ton der Linie übrigbleibt. Dieses vollgeschriebene Notenblatt habe ich meinem Lehrer Roman Haubenstock-Ramati gezeigt, der mir daraufhin vorgeschlagen hat, diesen formalen Prozess auch visuell sichtbar zu machen. Da habe ich eine Schere genommen, und mit dem Kürzer-Werden der Tonfolge auch die einzelnen Zeilen des Notenpapiers zerschnitten und gekürzt.
Ich habe also zum ersten Mal gesehen, wie durch das Wegschneiden dessen, was man nicht braucht, die kompositorische Form unmittelbar sichtbar geworden ist, und nicht erst durch spätere Analyse gefunden werden muss. Aus der Sicht der Musikgeschichte war das natürlich ein „alter Hut“, aber wenn man so einen Entwicklungsschritt mit der eigenen Schere nacherlebt, prägt sich das viel besser ein.
Wie kam es überhaupt dazu, dass du eine eigene Notationsform für dich entwickelt hast? War die „herkömmliche“ für dich ein zu strenges Korsett?
Christoph Herndler: Es war vorerst weniger das Korsett, als vielmehr das Überflüssige, das Zu-Viel, das Aufgeladene, das meiner kompositorischen Vorstellung im Weg stand. Also habe ich bei jeder neuen Komposition damit begonnen, alle grafischen Elemente, die ich für sie nicht gebraucht habe, aus dem „herkömmlichen“ System zu streichen.
Und so haben sich durch ein sukzessives Weglassen, manchmal auch durch ein Wegschneiden, durch ein Reduzieren jedenfalls, mehr und mehr visuelle Formen herausgeschält, die unter anderem die Charakteristik meiner Notationsformen ausmachen.
Eine wichtige Erkenntnis auf diesem Weg oder vielleicht sogar die essenzielle Erkenntnis war die, dass die Zeichen, die Schrift, die Notation, die man verwendet, um etwas niederzuschreiben, ganz entscheidend auf die Gedanken einwirken, die man zu formulieren versucht. Daher ist es für mich essenziell, beim kompositorischen Prozess immer auch die verwendeten Mittel selbst zu untersuchen.
„Um die Auseinandersetzung mit dem Legendentext, der die Mechanismen der Notation erklärt, führt also kein Weg vorbei.“
Christoph Herndler schuf mit seinen Notationsgrafiken und intermedialen Partituren eine starke persönliche, künstlerische Handschrift. Er versteht den kompositorischen Kreationsprozess in einem weiteren Sinne und gestaltet auch Installationen und Kunst im öffentlichen Raum. Sein spartenübergreifend agierendes Ensemble EIS gibt es unter diesem Namen bereits seit 1998. Daraus hat sich das gleichnamige Trio geformt, das mittlerweile ganz unabhängig von ihm agiert.
Ist es Voraussetzung, um ein Stück von Dir zu interpretieren, dass Du bei der Einstudierung mit dabei bist?
Christoph Herndler: Nein. Ich habe den Anspruch an meine Partituren, die ja die Erklärungen zu den Notationsgrafiken enthalten, dass sie ohne mich funktionieren müssen. Ich versuche, das Notationssystem, das ich verwende, immer von Grund auf zu erklären. Ich gehe von keinem vorausgesetzten Vokabular aus. Das ist bei einem ersten Lesen vielleicht mühsam oder erscheint überladen. Interpret:innen müssen oft schnell agieren, wollen eine Vorstellung dessen, was sie erwartet – aber da nun die meisten meiner Notationen nicht das klingende Resultat fixieren, sondern in erster Linie Mechanismen, die dazu führen, ist das klangliche Resultat vorerst auch nicht vorstellbar. Auch die Tatsache, dass die Notationsgrafiken den zeitlichen Ablauf der Musik nicht in linearer Form abbilden, erschwert die Vorstellung dessen, was sie erwartet. Um die Auseinandersetzung mit dem Legendentext, der die Mechanismen der Notation erklärt, führt also kein Weg vorbei. Nur wenn die Musiker:innen wissen, dass ich bei der Einstudierung dabei sein werde, tendieren manche dazu, auf die erklärenden Worte des Komponisten zu warten.
Du bist in einer musikalisch aktiven Familie aufgewachsen, warst St. Florianer Sängerknabe, dann später Schüler des Musikgymnasiums in Linz. Die Kirchenorgel ist dein Instrument. Was macht ihren Reiz für dich aus?
Christoph Herndler: Der Klang der Orgel faszinierte mich bereits als sehr kleines Kind. Anfangs, in der Gaspoltshofener Kirche, wahrscheinlich noch im Arm meiner Mutter, wusste ich nicht, woher der Klang kommt – ich versuchte, ihn an einem eulenartigen Ornament am vorderen Kirchengewölbe festzumachen. Der Klang war da, aber noch völlig ungreifbar.
Und dann später hörte ich die Bruckner-Orgel in Sankt Florian mit diesem richtig bombastischen, vollen Klang. Wenn man da als Sängerknabe auf der Empore steht, spürt man ja förmlich den Wind. Von den riesigen 32-Fuß-Pfeifen geht eine große körperliche Kraft aus. Da weiß man dann plötzlich, woher der Klang kommt.
Die Raumklangerlebnisse aus dieser Zeit haben sich tief in mir eingegraben – Erlebnisse, die noch nicht von zu viel Wissen überlagert waren.
Vergangenes Jahr ist eine Orgel-solo-CD mit deinen Kompositionen aus den Jahren 2009 bis 2019, eingespielt von Wolfgang Kogert, bei Da Vinci Classics erschienen. Wie kam es dazu?
Christoph Herndler: Ich denke, die CD mit dem Titel „A Rose is a Rose is …“ gibt es nur deswegen, weil es den Organisten Wolfgang Kogert gibt. Weil er sich in einer langjährigen Auseinandersetzung mit meinen Arbeiten so dafür begeistert hat. Ich selbst bin keiner, der viele CDs produziert. Aber natürlich bin ich immer froh, wenn sich jemand meiner Partituren annimmt und sie auf Tonträger veröffentlicht.
Ich archiviere meine Musikvorstellung in Form von Notationsgrafiken. Umso schöner ist es dann, wenn sich ein Interpret wie Wolfgang findet – ein großartiger Organist –, der für die Sache brennt und dieses Archiv aus Zeichen zum Klingen bringt. Seine Begeisterung vermittelt sich auch durch die CD.
Die CD „A Rose is a Rose is …“ ist nach einer Komposition benannt, die du dem Organisten Wolfgang Kogert und seiner Frau zur Hochzeit geschrieben hast. Was verbindet die fünf Stücke auf der CD?
Christoph Herndler: Das Verbindende ist in erster Linie die kompositorische Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Veränderung. Das dreidimensionale Notationsobjekt „Übergang und Schnitt“, das auf dem Cover der CD abgebildet ist, ist ein Resultat meiner Überlegungen dazu. Es geht ums Diskrete: Einerseits im Sinne vom Unterscheidbarem, Getrenntem und andererseits im Sinne von Unauffälligem.
Wie zeigt sich das zum Beispiel bei der Komposition „A Rose is a Rose is“?
Christoph Herndler: Das grafische System, das hier als Ausgangspunkt dient, ist lediglich ein Quadrat – es ist der formale Ansporn. Ich beginne, es zu analysieren, zerlege es also in seine Teile: Eine Seite oben, eine links, eine unten, eine rechts – sehe, wie sich die Einzelteile auch unterschiedlich kombinieren lassen und ich dabei verschiedenteilige Fragmente erhalten. Wenn man also diese 16-teilige Notationsgrafik betrachtet, zeigt sich, dass neben dem vollständigen Quadrat und dem fehlenden Quadrat auch alle fragmentarischen Möglichkeiten der vier Seitenteile abgebildet sind. Ich erhalte also 16 diskrete (unterscheidbare) Zeichen.
Betrachtet man nun die Anordnung dieser 16 Zeichen, bemerkt man, wie sich die horizontalen Linien im Verlauf der Partitur allmählich aufrichten und in die Vertikale gehen. Hier wird mittels der Zeichenanordnung ein diskreter (also unauffälliger) Übergang inszeniert.
In „A Rose is a Rose is“ finden sich somit beide Thematiken verwirklicht: Einerseits die Thematik des Übergangs und andererseits das Verhältnis des Fragments zum Ganzen. Und diese Formen werden nicht mittels Noten oder musikalischen Zeichen ausgeführt, sondern die Formen selbst werden grafisch sichtbar gemacht. Ich benutze also nicht den Klang, um Formen zu bauen, sondern Formen, um Klang freizusetzen.
Es sind also keine Klangvorstellungen, die du fixieren willst, sondern das Potenzial von Klängen?
Christoph Herndler: Ja, denn ich will das Flüchtige des Klangs seinem Wesen nach bewahren. Deswegen fühle ich mich von dieser Variabilität, dass man die Dinge verschieden betrachten kann, so angezogen. Wie fixiere ich das, was sich nicht fixieren lässt?
Erzähl doch bitte noch etwas über dein Orgelstück „ASCHE“ aus dem Jahr 2019, das später Teil eines Hörspiels des Hessischen Rundfunks geworden ist.
Christoph Herndler: Auf der CD kommt die Komposition „ASCHE“ in vier verschiedenen Versionen vor. Auch „ASCHE“ spielt mit der Diskrepanz zwischen unmerklicher Veränderung und augenfälligem Schnitt. In der ihr zugrundeliegenden Struktur von „Übergang und Schnitt“ spiele ich mit einem Klang, der aus vier Teilen besteht. Dieser vierteilige Klang steht eine Weile im Raum, aber dann ändert sich ein Teil davon ganz abrupt, während die drei anderen Klanganteile gleichbleiben. Im Verlauf der Musik erfährt man diese Veränderung als Kontinuität, auch wenn diese Veränderung durch diskrete Sprünge entstanden ist. Das ist für mich insofern ein spannendes Thema, weil ich durch die Frage, wie wir Zeit oder Veränderung erleben, immer wieder auf diese Diskrepanz stoße.
Die Struktur der Notationsgrafik „Übergang und Schnitt“ lässt die Klangwahl für die Ausführenden ganz offen. In der Komposition „ASCHE“, die sich dieser Struktur bedient, habe ich allerdings die Klangwahl an Hand der gleichnamigen Tonhöhen – A, Es, C, H, E – vorentschieden. Diese Version entstand als Auftrag des Hessischen Rundfunks für das Hörspiel „ASCHE“ von Florian Neuner, der ja auch den wunderbaren Booklet-Text für die CD „A Rose is a Rose is …“ verfasst hat.
Du bist selbst Organist. Warum hast du die Musik für diese CD nicht selbst eingespielt?
Christoph Herndler: Wenn sich ein so herausragender Organist wie Wolfgang Kogert, der den Partituren wirklich auf den Grund geht, dieser Sache annimmt, ist das ein unschätzbarer Gewinn. Und außerdemfixiere ich meine Musikvorstellungen ja gerade deshalb in einer so abstrakten Form, damit sie von anderen Menschen aufgegriffen werden können und durch deren individuelle Sicht Facetten ins Spiel kommen, die etwas unerwartet Neues beleuchten. Notation dient mir ja nicht als Mittel zur Reproduktion des Klangs – das kann eine Aufnahme viel besser –, sie dient mir vielmehr als Werkzeug, um auch Dinge, die außerhalb meiner Vorstellung liegen, aufzuspüren.
Erst durch den Blick des Anderen beginnt Kunst zu leben.
Die Titel der Werke für Orgel solo auf der aktuellen CD „A Rose is a Rose is …“ tragen ganz besondere, wenn auch sehr unterschiedliche Titel: „Variations seriéuses variation after Mendelssohn“, „ASCHE“, „Rondo“ und „Taktzittern“. Wie gehst du vor, um deinen Kompositionen einen Namen zu geben?
Christoph Herndler: Bei der Titelfindung versuche ich, entweder auf den formalen oder auf einen inhaltlichen Aspekt der Komposition einzugehen. Aber immer so, dass er auch anders gelesen werden kann und poetisch offenbleibt.
Christoph Herndlers Notationsgrafiken wurden mehrfach ausgestellt. Sie wirken auf mehreren Ebenen: als Spielanleitung, als Inspirationsquelle und als bildnerisches Kunstwerk. Eine gewisse Mehrdeutigkeit und verschiedene Blickwinkel zu ermöglichen, ist ein wiederkehrendes Prinzip in Herndlers künstlerischer Arbeit. Dieser Zugang entspricht auch seiner Lebenseinstellung, dem Individuum und seiner Entfaltung großen Freiraum zuzugestehen. Christoph Herndlers Grafiken eignen sich nicht nur für eine musikalische Interpretation, sondern auch für Tanz oder Performances. Von Zeit zu Zeit bindet Herndler Texte anderer Autoren und Autorinnen in seine Werke ein.
Hast du schon einmal daran gedacht, eigene Texte für deine Musik zu schreiben?
Christoph Herndler: Ich bin kein Mensch, aus dem die Worte nur so heraussprudeln, dem es leichtfällt, Dinge zu formulieren. Das merke ich schon allein daran, wie lange ich für eine E-Mail brauche – auch wenn es nur eine kurze ist [lacht]. Aber wenn ich mich hinsetze und meine Legenden zu den Notationsgrafiken schreibe, dann spüre ich doch auch eine gewisse Lust am präzisen Formulieren, auch wenn es langsam geht. Das sind so gesehen die Texte für meine Musik. Aber wenn es um sogenannte Vertonungen geht oder um literarisches Ausgangsmaterial, suche ich die Zusammenarbeit mit Schriftsteller:innen.
Du komponierst nun schon einige Jahrzehnte lang. Wie nimmst du deine eigene Entwicklung wahr?
Christoph Herndler: Es ist ganz eigenartig: Nach 20, 30 Jahren kontinuierlichen Komponierens wird es gleichzeitig leichter und schwerer. Es fällt mir schwerer, überhaupt etwas niederzuschreiben. Und es fällt mir leichter, unter Druck etwas hinzuschreiben, da geht es schneller.
Heute weiß ich viel eher, was ich will – und vor allem, was ich nicht will. Aber dieser Drang, den ich als Jugendlicher hatte, eine fantastische Komposition oder die beste Komposition zu Papier zu bringen, also dieses Getrieben-Sein von einer Illusion, das fällt mehr und mehr weg. Ich besinne mich nun mehr darauf, zu erkennen, was sich wirklich lohnt, hinzuschreiben. Um keinen Preis will ich einen Betrieb um des Klanges wegen füttern.
Was sind deine Pläne? Woran arbeitest du gerade? Was willst du in nächster Zeit realisieren?
Christoph Herndler: Das Leben hat sich als ein facettenreiches Mosaik aus vielen Teilen erwiesen – all diese Teile in ein Gleichgewicht zu bringen, ist eine meiner großen Herausforderungen, daran arbeite ich.
Auch will ich die Begeisterung, die mich als Kind und als Jugendlicher angetrieben hat, und mich den Weg als freischaffender Komponist einschlagen hat lassen, weiterhin aufspüren – trotz des Wissens und trotz des größeren Weltblicks, den ich im Laufe der 60 Jahre gewonnen habe.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Marie-Therese Rudolph
++++
„A Rose is a Rose is …“
Werke von Christoph Herndler
Wolfgang Kogert, Orgel
Da Vinci Classics, 2023
Links:
Christoph Herndler
„ALLE STÜCKE SIND MIR GLEICH NAH.“ – WOLFGANG KOGERT IM MICA-INTERVIEW