„Wertschätzung gegenüber dem Lebensalter ist enorm wichtig.“ – Monika Mayr im Mica-Interview

MONIKA MAYR ist Lehrende an der UNIVERSITÄT FÜR MUSIK UND DARSTELLENDE KUNST WIEN und forscht, lehrt und arbeitet in den Fachgebieten Rhythmik, Musik- und Bewegungspädagogik sowie Rhythmik- und Musikgeragogik. Als ausgebildete Musikgeragogin setzt sie ihren Schwerpunkt in der intergenerativen Arbeit mit Kindern und Senior*innen in Altersheimen. Mit Esther Planton sprach MONIKA MAYR über das noch unbekannte Arbeitsfeld in Österreich, die Ausbildungsmöglichkeiten und gibt dabei berührende Einblicke in ihre Arbeit mit Menschen in der vierten Lebensphase.

Es ist ein Donnerstag im September 2020 um 19:00 Uhr. Der Laptop ist aufgeklappt, das Internet scheint stabil, der nun vertraute Klingelton des blau-weißen Internettelefons klingelt.

Guten Abend Frau Mayr, können Sie mich hören? Noch vor einer Stunde habe ich im Stau gestanden und hatte Sorge es nicht pünktlich zu unserem Online-Termin zu schaffen. Es hat doch geklappt.

Monika Mayr: Ja, wunderbar Frau Planton. Dann würde ich vorschlagen, wir legen nochmals auf, nehmen uns kurz einen Moment und atmen aus. Dann kann es losgehen.

Auflegen, ausatmen, innehalten. Dann erklingt wieder der vertraute Klingelton.

Das war ein ganz besonderer Einstieg in das Interview. Das Ausatmen hat mich sehr entspannt, jetzt bin ich wirklich in Wien angekommen. Wie oft haben Sie heute schon bewusst ein- und ausgeatmet und sind Sie auch schon angekommen?

Monika Mayr: Ich freue mich sehr über den Termin und ja, ich bin heute schon sehr gut angekommen. Ich sitze momentan an meinem zweiten Wohnort in Münster.

Als Lehrende an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien pendeln Sie zwischen Deutschland und Österreich. Seit der Covid-19-Pandemie ist das nicht mehr so einfach möglich. Wie haben Sie die letzten Monate erlebt?

Monika Mayr: In den letzten Monaten habe ich wirklich durchgeatmet. Im Lockdown habe ich vor allem darüber nachgedacht, was mir am nächsten ist und wie ich wieder ins Lot kommen kann, um für andere da zu sein. Da musste ich auch nochmal in mich gehen. Kultur ist schon lebensnotwendig, aber sie muss jetzt auch ein wenig warten und die Gesundheit steht einfach im Vordergrund.

Ihre Fachgebiete sind sehr vielseitig und umfangreich, dazu könnten wir mehrere Interviews füllen. Heute möchten wir uns näher mit der Musikgeragogik befassen. Was kann man sich darunter vorstellen?

Monika Mayr: In der Wissenschaft kann das Leben eines Menschen folgenden drei Bildungsbereichen zugeordnet werden: Pädagogik, Antragogik und Geragogik. Die Musikpädagogik haben viele von uns als Kind selbst erlebt, zum Beispiel in der Musikschule. Die Andragogik ist in Österreich ein eher selten verwendeter Begriff, in Deutschland und in der Schweiz schon eher, und beschreibt die Erwachsenenbildung. Die Geragogik bezieht sich auf Menschen in der dritten und vierten Lebensphase und bezeichnet die Wissenschaft von der Bildung im Alter sowie die Weiterbildung älterer Menschen. In der Rhythmik ist das Berufsfeld der Geragogik immer noch sehr neu. Wir lernen zwar in der Geragogik von der Pädagogik und von der Andragogik, aber trotzdem hat die Geragogik eine eigene Fachdidaktik. Darin sehe ich meine Aufgabe, dies an der Universität und im Weiterbildungsbereich aufzubauen.

Noch gibt es kein eigenes Studium für Musikgeragogik in Österreich. Wer kann sich für die Musikgeragogik qualifizieren und wo kann man sich weiterbilden?

Monika Mayr: Theo Hartogh und Hans-Hermann Wickel haben diese Ausbildung an der FH Münster ins Leben gerufen. In Deutschland ist die Weiterbildung mittlerweile auch an vielen Landesmusikakademien angeschlossen. An der LMA Nienborg/Heek leite ich eine Weiterbildung im Fachbereich Musik und Bewegung im Alter: Rhythmikgeragogik. Menschen mit unterschiedlichsten Hintergründen interessieren sich dafür: Musikerinnen und Musiekr, Menschen, die in der Inklusion arbeiten, Pensionistinnen und Pensionisten, die etwas tun wollen, wie auch Musikpädagoginnen und -pädagogen, die nach jahrelangem Unterricht mit Kindern nicht mehr „auf demBoden sitzen“ möchten. Denn im Altersheim sitzen wir bequem in einem Sesselkreis auf Stühlen. Ich versuche hier in Wien den Fachbereich der Musikgeragogik über die Rhythmik zu etablieren. Das Fach Rhythmik ist sehr künstlerisch und praxisorientiert angelegt. Die Studierenden musizieren, komponieren und choreografieren und arbeiten von Beginn an mit Kinder- und Erwachsenengruppen sowie auch in den Seniorenheimen.

„Diese Arbeit hat meinen Horizont so erweitert.“

Was muss in der Arbeit mit Menschen in der vierten Lebensphase beachtet werden? 

Monika Mayr: Wertschätzung in Bezug auf das Lebensalter ist enorm wichtig. Wir dürfen nicht kindlich und unqualifiziert an diese Generation herantreten. In diesem Bereich arbeiten noch sehr viele Menschen ehrenamtlich, das ist sehr löblich, aber mir wäre wichtig, dass die Musik- und Rhythmikgeragogik in der Ausbildung einen fundierten Stellenwert bekommt. Besonders die generationsübergreifende Arbeit, mit Kindern und Seniorinnen und Senioren, ist mir persönlich wichtig. Dadurch stärken wir das Gemeinschaftsgefühl zwischen Jung und Alt. Grundsätzlich haben Menschen in allen Lebensphasen das Recht auf kulturelle Teilhabe.

In Altersheimen findet doch Musik statt. Ist das also zu wenig?

Monika Mayr: Ja, das stimmt, aber immer noch passiert hier vieles ehrenamtlich. Das ist wunderbar, es braucht aber auch geschultes und qualifiziertes Personal im musikgeragogischen Bereich. Wir wissen, dass sich die Altersheime an unser Musikangebot gewöhnt haben. Die Menschen erfreuen sich des Angebots der Musik und Bewegung mit den Kindern so sehr und können sich das Leben ohne dieses nicht mehr vorstellen und sagen: „Sie gehen hier nicht mehr weg, bevor ich hier sterbe, und ich werde 100, das kann ich Ihnen jetzt schon sagen!“

Worin besteht der Unterschied zwischen Musikpädagogik und Musikgeragogik?

Monika Mayr: Die Musikgeragogik ist ein Berufsfeld, das eine andere Haltung verlangt, ein Berufsfeld, in dem man nicht, wie in der Musikschule, aufbauend arbeitet. Viele Menschen erlebe ich in sehr beeinträchtigten Momenten und all das, was ich ihnen in der letzten Stunde gelernt habe, haben sie mit Sicherheit wieder vergessen. Aber darum geht es ja in diesem Setting nicht. Es ist wirklich eine gemeinsame Entdeckungsreise und ein wunderbarer musisch-kreativer Ermöglichungsraum im Hier und Jetzt.

„Kinder sind einfach der Türöffner.“

Wie läuft eine Musikstunde in einem Altersheim genau ab?

Monika Mayr: Man glaubt zuerst, alle erzählen dort von ihren Krankheiten. Aber nein, die Menschen sind froh, wenn sie ihre Schmerzen eine Stunde lang vergessen können und nicht spüren. Sie dürfen alles über Bord werfen. Und es ist kein Unterricht, sondern eine gemeinsame Zeit, die enorm beflügelt. Diese Zeit im Altersheim ist für mich besonders sinnstiftend, und wenn wir die Musik und Bewegung nicht hätten, ich wüsste nicht, wie wir eine so lebendige Gruppensituation schaffen würden. Ich frage die Menschen direkt, wie wir ein Musikstück mit unserem Körper begleiten können. Da kommen den Menschen, egal ob jung oder alt, viele Ideen, zum Beispiel sagte eine alte Frau: „Am Ohr zupfen, das habe ich zwar noch nie gemacht, aber bei Ihnen mache ich das jetzt.“ Rhythmik beflügelt und fördert die Kreativität, etwas, das nicht selbstverständlich ist. Viele Menschen leiden zum Beispiel an Demenz und können sich gar nicht äußern. Durch die Bewegung und das Spielen auf Instrumenten können sich diese Menschen trotz alledem ausdrücken. Mein Schwerpunkt liegt in der intergenerativen Arbeit, wo Kinder in den Altersheimen auf alte Menschen mit Demenzerkrankungen treffen. Durch die junge Generation gestaltet sich die musisch bewegte Zeit noch viel einfacher. Die Kinder stehen auf der Höhe der sitzenden Seniorinnen und Senioren und können sich auf Augenhöhe begegnen, und ich sage es Ihnen: Lächeln ist einfach ansteckend. Wenn die Kinder da sind, sind immer alle aktiv. Ich habe in meinem Forschungsprojekt die Seniorinnen und Senioren dazu auch interviewt. Menschen in der vierten Lebensphase haben ein ganz negatives Selbstbild. Diese Erkenntnis hat mich emotional sehr getroffen. Da kamen Aussagen wie: „Kommen die Kinder wirklich gerne zu uns?“ oder: „Mit uns ist doch nichts anzufangen.“ Die Menschen kommen aber gerne in diese Musikstunden, weil es den Alltag strukturiert, lustig ist und die Kinder einfach der Türöffner sind.

Sind Sie dem Tod in Altersheimen schon begegnet?

Monika Mayr: Ich werde informiert, wenn ein Mensch aus der Gruppe von uns gegangen ist. Durch die Interviews mit einzelnen Menschen in dem Altersheim erkannte ich, dass sich manche Menschen darauf freuen, sie haben mit dem Leben und dem Tod Frieden geschlossen. Diese Menschen sind alt und möchten einfach ausatmen. Wenn ich mich nach den Musikstunden verabschiede mit: „… und wir sehen uns nächste Woche wieder“, antworten mir die alten Menschen: „… und Sie wissen, das kann man nie wissen!“ Dann halten sie meine Hand und lassen sie lange nicht mehr los.

„Berührung ist lebensnotwendig. In Zeiten der Pandemie müssen wir Geduld und Zuversicht haben.“

Das sind sehr berührende Momente. Welche Herausforderungen ergeben sich durch die Covid-19-Pandemie in der Arbeit mit Kindern und der Risikogruppe der Menschen im Altersheim?

Monika Mayr: Die intergenerative Arbeit in den Altersheimen kann derzeit nicht stattfinden. Wir wissen, dass der Mensch Berührung braucht, ganz besonders am Ende des Lebens. Wir wissen also, dass jetzt mehr Menschen früher sterben werden. Kinder und Erwachsene schaffen es, das zu kompensieren, Menschen in den Altersheimen haben oft wenig Kompensationsmöglichkeiten. Anfangs war es ein Schock, dass wir nicht wie gewohnt in die Altersheime durften, aber es ist eben eine Tatsache. Wir können nur herausfinden, was nun möglich ist. So haben Kinder Zeichnungen gemalt und diese per Post in das Seniorenheim geschickt und Seniorinnen und Senioren haben ein Gedicht verziert und dieses in den Kindergarten geschickt. Vorerst arbeite ich mit beiden Gruppen getrennt, durch die Maske verstehen sie mich schlechter, daher arbeite ich noch stärker über die Musik. Ich nutze Rhythmus-Instrumente, Tücher, Seile und statt zu singen sprechen wir eben die Liedtexte. Das lernt man nur durch das Tun. Die Bälle oder Würfel bewegen wir ab jetzt mit unseren Füßen. Vermutlich sieht es etwas komisch aus, aber es ist lustig. Wir versuchen, trotz der Pandemie, weiterhin Materialen zu verwenden, denn das brauchen sowohl die Seniorinnen und Senioren als auch die Kinder. Es gibt Möglichkeiten und an denen halten wir fest, solange, bis wieder mehr möglich ist. Da müssen wir die Geduld und Zuversicht haben.

Beeindruckend, trotz dieser vielen Einschränkungen sprühen Sie vor Kreativität, Energie und Leichtigkeit. Was raten Sie den Kunst- und Kulturschaffenden oder Pädagoginnen und Pädagogen in der Zeit der Pandemie?

Monika Mayr: Wesentlich ist der Austausch untereinander. Vielleicht hilft es ja, sich gerade im Bereich der Musikgeragogik weiterzubilden. Für den Moment, wenn die Türen wieder aufgemacht werden, bin ich mir sicher, dass wir genau den Bereich der Rhythmik, in dem es um Begegnung und Beziehung durch Musik und Bewegung geht, mehr denn je nutzen sollten. Man soll nicht auf die berufliche Situation von vor der Pandemie warten, denn das kann noch länger dauern. Wir schauen, was jetzt möglich ist, und vielleicht ergibt sich auch etwas Neues, das man später teilweise integrieren kann. Nach dem Sprichwort: „Wer heute den Kopf in den Sand steckt, wird morgen mit den Zähnen knirschen.“ Und wer möchte dies schon?

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Esther Planton

Links:
Monika Mayr
Musikgeragogik
mdw: Musik- und Bewegungspädagogik / Rhythmik
Verein Erwachsenen- und Seniorenrhythmik nach Dalcroze