Vermittlung ist ein zwangloses Vergnügen – CONSTANZE WIMMER im mica-Interview

CONSTANZE WIMMER, Musikvermittlungsexpertin, Mitherausgeberin einer preisgekrönten Publikationsreihe und Dozentin an der ANTON BRUCKNER PRIVATUNIVERSITÄT ist seit kurzem Kuratoriumsmitglied im MICA. CONSTANZE WIMMER im Gespräch mit Curt Cuisine über die zunehmende Bedeutung von Musikvermittlung und warum es nicht unbedingt wichtig ist, was sich ein Komponist gedacht hat.

Wie kam es zu Ihrer Kuratoriumsmitgliedschaft beim mica?

Constanze Wimmer: Das mica ist eigentlich seit seiner Gründung ein wichtiger Netzwerk-Knoten für mich und vor allem für junge Musiker, die wir an der Bruckneruni ausbilden. Sabine Reiter und ich arbeiten mittlerweile seit 3 Jahren rund um die Plattform Musikvermittlung sehr eng zusammen – aber schon davor waren vor allem die praktischen Ratschläge und Workshops zum Musikbetrieb in meinem Unterricht Thema. Über die Plattform Musikvermittlung gibt es jetzt die Möglichkeit, Interessierte in diesem Berufsfeld österreichweit zu vernetzen.

Sprechen wir von einer neu geschaffenen Berufsgruppe?

Constanze Wimmer: Eine Berufsgruppe, die gerade entsteht. Wir haben uns zwar zuvor schon teilweise gekannt über bestehende Projekte, die „Klangnetze“ sind z.B. über das mica gelaufen. Da wurde uns übrigens auch klar, dass das mica ein guter Ort für Musikvermittlungsthemen.
Das Feld ist sehr divers und wird erst seit den 1990ern als Musikvermittlung bezeichnet. Davor gab es – und zwar schon lange – Personen, die zwischen Künsten aller Art und Publikum vermittelt haben, seien es Künstler, Dramaturgen, Kulturjournalisten oder Konzertveranstalter mit der Begabung, bestimmte Personenkreise zusammenzuführen, die sonst nicht zusammen gekommen wären.

Das klingt noch etwas weit gefasst.

Constanze Wimmer: Kommt ein Musikvermittler aus der Pädagogik, dann sind ihm vermutlich vor allem Kinder ein Anliegen. Dann geht es darum, sich spezielle Konzertformen auszudenken, damit sich die Kinder für Musik öffnen, sei es Jazz, Klassik oder Weltmusik. Das kann eine Geschichte zu einem Stück sein, eine Zusammenarbeit mit anderen Künsten, oder man geht direkt in die Schulen, macht Workshops, musiziert mit Kindern und Jugendlichen, damit sie besser verstehen, warum eine Musik gemacht ist, wie sie eben gemacht ist. Man eröffnet also Zugänge.

Eignen sich auch andere Berufsfelder dafür?

Constanze Wimmer: Ja, zum Beispiel Musiker ohne pädagogische Ausbildung, die neue Zugänge finden wollen, etwa um ihre Stücke im Konzert ausführlicher zu erklären. Ein schönes Beispiel ist das Vorarlberger Festival „Montforter Zwischentöne“, das sich stets ein Thema setzt, heuer z.B. „Sterben – Über das Loslassen“. Dort wird nicht einfach ein Requiem aufgeführt, sondern ein Sterbebegleiter, ein Arzt oder ein Priester treffen auf der Bühne auf einen Cellisten. Die einen erzählen, der Cellist antwortet musikalisch darauf. Wer sich so ein Format ausdenkt, wer sich die passenden Fragen und das passende Setting dazu überlegt, wer auch ein Gespür dafür hat, welcher Musiker hier dazu passt, der ist ein Musikvermittler.

Es gibt aus meiner Sicht zwei große Anlassfälle für Musikvermittlung. Einerseits, wenn Musik als mühsam empfunden wird, andererseits wenn man keine Zeit für Musik hat, weil man ohnehin von Musikangeboten überflutet wird. Wo sehen Sie das größere Problem?

Bild (c) Reinhard Winkler
Bild (c) Reinhard Winkler

Constanze Wimmer: Die Angebote für einen urbanen offenen Kulturinteressierten sind vermutlich noch nie so vielfältig gewesen wie heute. Hier Entscheidungen zu treffen, ist sicherlich schwierig. Die speziellere Gruppe der klassischen Konzertbesucher bleibt nach wie vor gerne unter sich: gerade ist eine Studie veröffentlicht worden, aus der hervorgeht, dass das Publikum zu zwei Drittel aus Personen besteht, die selbst ein Instrument spielen, über ein mittleres Monatseinkommen von 3.000 Euro verfügen und einen bedeutend höheren Anteil an Akademikern aufweist, als der Durchschnitt der Bevölkerung. Hier setzt Musikvermittlung an und versucht, auch andere Publikumsgruppen zu interessieren und in Kontakt mit Musik zu bringen.
Besonders im Zentrum steht die Vermittlung von neuer Musik. Dafür emotionalere Zugänge zu öffnen, das können wir ganz gut. Es gibt eigentlich mittlerweile kaum einen Konzertveranstalter oder ein Ensemble, das nicht eine Person hat, die sich um diesen Bereich kümmert. Musikvermittlung gibt’s also schon fast überall, nur läuft es manchmal unter dem Begriff „Education“, was ich blöd finde.

Weil?

Constanze Wimmer: Education heißt übersetzt Erziehung und ist im Zusammenhang mit Kunst ein Anti-Wort für mich. Kulturelle oder ästhetische Bildung betont den Eigenanteil desjenigen, der sich ein Kunstwerk erschließt, der sich bildet. Er oder sie bleibt autonom und auf gleicher Augenhöhe, bei der Erziehung hingegen wird jemand irgendwo hingezogen. Die Übersetzung ins Englische macht das nicht wett, sondern lässt nur den Begriff hohl werden. Musikvermittlung betont meiner Meinung nach das Offene im Prozess zwischen der Musik und dem Hörer und das, was im Prozess der Vermittlung alles möglich ist, mal künstlerisch, mal informativ, mal irritierend.

Aber neue Musik ist für ungeübte HörerInnen oft mühsam, ohne eine gewisse Anstrengung, ohne ein gewisses Hinziehen geht das nicht immer. Ein Stockhausen, ein Schnittke, auch ein Bartok, die sind mitunter mühsam zu hören.

Constanze Wimmer: Ja, aber geht nicht um einen Zwang zum Hinhören, sondern um die Eröffnung von Zugängen, damit sich eine Musik erschließen kann. Das kann ein bestimmtes Ambiente oder ein Anlass – eben z.B. ein Workshop – sein, aber erschließen muss man sich die Musik selbst. So kann ein Weg beginnen, zu dem der Musikvermittler nur die erste Türe aufmacht.
Es sagt ja niemand, dass man auf Anhieb alles entschlüsseln muss. Man hat ein ganzes Leben lang Zeit. Man muss auch eine Mahler-Symphonie nicht auf Anhieb verstehen, es reicht, Ankerpunkte zu setzen. Das ist die Aufgabe des Musikvermittlers.

Das führt uns jetzt zu der von Ihnen mitherausgegebenen Publikationsreihe „Listening Lab“. Zu diesen preisgekrönten „Materialien zur Musikvermittlung“ ist mittlerweile der fünfte Band erschienen, wo es um die Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug & Celesta von Béla Bartók geht. Diese Materialien sind zwar zweisprachig, umfassen aber doch 64 Seiten im Format A4. Da stelle sich die Frage: Wie lange braucht man, um ein Stück von Bartók zu verstehen?

Constanze Wimmer: Gemacht sind die Listening Labs sowohl für Musiklehrer wie auch Musikvermittler. Sie bieten im Prinzip ein Sammelsurium von Möglichkeiten, um Zugänge zu dieser Musik zu finden, um Hintergründe, Gehalt oder Strukturen besser zu verstehen, um Übungen zu machen, um verwandte Musik zu hören, um ein Drehbuch zu schreiben oder gar einen Film zu drehen. Ein Musiklehrer kann in einer Schulstunde natürlich maximal eine oder zwei Anregungen aufnehmen, aber es bringt ihn vielleicht auf Ideen, er kann auch variieren, wenn er mehrere Klassen unterrichtet, oder er macht vielleicht etwas gemeinsam mit dem Zeichen- oder dem Deutschlehrer. Das einzige, was darin nicht vorkommt ist der Satz: „Der Komponist hat sich dabei vermutlich folgendes gedacht.“ So ein erklärender Zugang ist überholt.

Es gibt ja ohnehin einige Komponisten, die sich nicht erklären wollen.

Constanze Wimmer: Das verstehe ich auch, die Musik steht für sich. Und es gibt ein Publikum, das einfach nur in Ruhe gelassen werden will, das die Musik für sich entdecken will und in der Musiksprache grundsätzlich zuhause ist. Das soll bitte so bleiben wie es ist. Es gibt aber ebenso ein Publikum, das einen kleinen Anstoß braucht, nur einen Satz oder eine Metapher, z.B. „Habe an Rothko gedacht“, und schon können sie sich an etwas festhalten.

Was macht man bei einer Musik, die das Publikum absichtlich vor den Kopf stoßen will, die provozieren will, da erübrigt sich ja der Musikvermittler von vornherein?

Constanze Wimmer: Wir haben uns an der Bruckneruni gerade mit Formaten beschäftigt, die vor den Kopf stoßen wollen und uns gefragt, was dem Publikum eigentlich zumutbar ist. Wir sind dabei auf die furchtbarsten Konzertsituationen gekommen, gefesselt, eingesperrt, im Lift zum Beispiel, ohne Ton und mit dem eigenen Spiegelbild konfrontiert, dem man nicht ausweichen kann. Es hat uns gut getan, zumindest theoretisch die Rolle des Dienstleisters an der Musik zu verlassen – grundsätzlich hat es aber zur Erkenntnis geführt, dass Musikvermittler in ihrer Tätigkeit keinen Zwang ausüben wollen.

Derartige Schockeffekte passieren heute ohnehin nur noch selten.

Constanze Wimmer: Kommt aber noch vor. Vor gar nicht so langer Zeit hat ein Violinist der Kölner Philharmonie ein Stück von Steve Reich zwischen klassischen Stücken gespielt – und das Publikum ist ausgezuckt. Aber da ging’s natürlich auch um ein Problem der Erwartungshaltung.

Gibt es auch Musikvermittlungsangebote für Heimhörer, also für Leute, die Musik nur via Radio oder CD konsumieren, damit die Lust auf Neues kriegen und vielleicht auch ins Konzert gehen.

Constanze Wimmer: Da setzen gerade die vielen audiovisuellen Streaming-Plattformen an, z.B. das gerade gestartete Klassikportal „Fidelio“ von ORF und Unitel, wo man sich eben nicht nur die Musik, sondern auch Erläuterungen, allerlei Wissenswertes, Videos, Ur-Aufführungen und vieles mehr abholen kann. Das ist ein Gesamtpaket so wie die „Digital Concert Hall“ der Berliner Philharmoniker, nur umgelegt auf mehrere Institutionen. Eine andere Möglichkeit ist es, verführerische Formate zu finden, um die Leute zum Ausgehen in Konzerte zu bewegen, was beispielsweise die Wiener Symphoniker mit dem Format „Fridays @ 7“ gerade machen. Das Konzert beginnt um 19.00 Uhr und gegen 20.00 Uhr ist es schon wieder vorbei bzw. öffnet sich ins Foyer und es gibt Essen und Trinken, eine Clubbing-Atmosphäre entsteht, vielleicht spielt ein Ensemblemitglied noch am Klavier.

Aber dann wird ja wieder geschummelt. Es wird ein Spektakel rundherum inszeniert, die Musik als Event, wo man sich sehen lässt und den Magen füllt.

Constanze Wimmer: Ist das schlecht? Wer hat die Deutungshoheit, wie Musik gehört werden darf und wie nicht? Natürlich sind solche Projekte quasi ein „Einsteigerformat“, aber ich finde nicht, dass die Musik dadurch beschädigt wird.

Vielen Dank für das Gespräch.

Curt Cuisine

Constanze Wimmer war Musikreferentin beim Österreichischen Kultur-Service (1993–95) und Leiterin des Bereichs „Kinder- und Jugendprojekte“ der Jeunesse (1999–2002). An der Anton Bruckner Privatuniversität in Linz leitet Constanze Wimmer den postgradualen Masterstudiengang „Musikvermittlung – Musik im Kontext“, als Forscherin und Projektentwicklerin in der Musikvermittlung aktiv.

Links:
Montforter Zwischentöne
concerti.de/Klassikstudie
my fidelio