Musik mit allen für alle – Community Music in Wien

In den vergangenen Jahren hat sich der Bereich der „Community Music“ in zahlreichen europäischen Staaten geradezu rasant entwickelt. Nur Österreich scheint, betrachtet man das ansonsten reichhaltige kulturelle Angebot des Landes, in der Entwicklung dieser Sparte der Musikvermittlung etwas hinterherzuhinken – bis jetzt. Malina Meier hat sich für MICA – MUSIC AUSTRIA auf die Suche nach alten und neuen Initiativen im Bereich der „Community Music“ mit Fokus auf Projekte für Menschen mit Behinderung in Wien gemacht.

„Der Begriff ‚Community Music‘ steht für ein aktives Musizieren in Gruppen, wobei die Musik als Ausdruck dieser Gemeinschaft erarbeitet wird und ihren sozialen Kontext spiegelt“, schreiben Alicia de Banffy-Hall und Burkhard Hill in „Community Music“. Beiträge zur Theorie und Praxis aus internationaler und deutscher Perspektive (Münster: Waxmann 2017). „Community Music“ kann sich dabei mit vielfältigen Projekten an Menschen unterschiedlicher Herkunft, Religion und Bildung sowie unterschiedlichen Geschlechts und Alters richten. Ein musikalisches Vorwissen ist – ganz im Sinne des integrativen Gedankens, dass Musik Menschen miteinander verbindet – meist nicht vonnöten. Einen großen Bereich der „Community Music“ bilden Projekte für Menschen mit und ohne Behinderung, die vom kulturellen Geschehen ausgeschlossen werden. So schreibt Lee Higgins in seinem Artikel „Community Music“ verstehen – Theorie und Praxis (ebenfalls erschienen in „Community Music“ [2017]), dass „alle Menschen das Recht haben, ihre eigene Musik zu machen beziehungsweise aktiv an Musik teilzuhaben und sich an ihr zu erfreuen“.

Ich bin O.K.

Diese Freude ist auch im bereits seit vierzig Jahren existierenden Verein Ich bin O.K. zu spüren, der Menschen mit und ohne Behinderung Zugang zu Tanz ermöglicht. Was zunächst als einfache Tanzgruppe begann, hat sich zu einer vielseitigen Institution entwickelt: 2010 wurde die Ich bin O.K. Dance Company gegründet, um Tänzerinnen und Tänzer mit fortgeschrittenem Können zu fördern und ihnen regelmäßige Aufführungen in Zusammenarbeit mit professionellen Tänzerinnen und Tänzern im In- und Ausland zu ermöglichen. Die Ich bin O.K. Dance Assists haben eine einjährige Ausbildung absolviert, die sie befähigt, gemeinsam mit einer Workshopleiterin oder einem Workshopleiter Tanz (Hip-Hop und zeitgenössisch) zu unterrichten. Grundlegend helfe der Tanz – und dabei natürlich auch die Musik – den Teilnehmenden, sowohl physische als auch psychische Fertigkeiten zu erlernen und weiterzuentwickeln, so die Vereinsobfrau und künstlerische Leiterin Hana Zanin Paukerová: „Fertigkeiten, die durch den Tanz geschult werden, sind Ausdauer, Konzentration, Gedächtnis, Fitness, Koordination, Gleichgewicht und überhaupt das allgemeine körperliche Wohlbefinden sowie Kommunikation, Offenheit und Resilienz. Deshalb wird Tanz als Medium auch in vielen anderen Feldern benutzt, weil die Tänzerinnen und Tänzer im Praktischen so viel für sich gewinnen können.“ All dies helfe den Teilnehmenden auch in ihrem Alltag, so Helga Neira Zugasty, die für die pädagogische Begleitung bei Ich bin O.K. verantwortlich ist: „Im Wesentlichen herrscht hier ein Kommunikationsstil, der einfach Respekt und Freundlichkeit transportiert, und den nehmen unsere Tänzerinnen und Tänzer auf, was sich auch auf ihr Berufsfeld auswirkt.“

Ich bin O.K. (c) Martin Zigler

Insbesondere die neue Ausbildung zum „Dance Assist“ zielt darauf ab, Menschen mit Behinderung die Möglichkeit zu geben, ihre Fähigkeiten im Tanz und ihr Talent auf beruflicher Ebene ausleben zu können. Neben der Praxis des Tanzens steht bei der Ausbildung auch die Theorie im Vordergrund. Das umfangreiche Wissen, das sich die Teilnehmenden durch diese Ausbildung aneignen, können sie anschließend weitergeben. So leiten heute beispielsweise zwei Absolventen Workshops an einer kooperierenden Schule; eine Festanstellung im Schulbetrieb ist dabei der langfristige Wunsch der Absolvierenden. Helga Neira Zugasty sieht hier aber noch enorme gesellschaftspolitische Barrieren: „Die österreichische Gesellschaft lebt noch immer, besonders was die kirchlichen Träger betrifft, auf der Sozialschiene. Behinderung wird noch immer konnotiert mit Leid, Mehrkosten, Mitleid, Armut. Dieser ‚Befürsorgungs-Touch‘ behindert die Durchlässigkeit auf einem ebenbürtigen Niveau, auf einer ‚Teilhabegerechtigkeit‘, wie es in den UN-Behindertenrechtskonventionen heißt. Diese Teilhabegerechtigkeit, also dass unterschiedliche Möglichkeiten gleichwertig gesehen werden, gibt es in unserer Gesellschaft noch nicht, wir sind noch immer in diesem Schachtel-Denken gefangen. Und wenn jemand aus dieser Schachtel herauskommt, dann ist das ein großes Aha-Erlebnis, aber die Energie, die man dafür braucht, um das zu erreichen, erfordert wirklich Durchhaltevermögen, Mut und Substanz. Das gesellschaftliche Bewusstsein, dass Menschen mit Behinderung gleichwertige Rechte haben, und die Akzeptanz, diese im Alltag auch wirklich zu leben, haben wir in Österreich nicht!“

All Stars Inclusive Band

Eine weitere Initiative, die bereits seit 2010 existiert und von Helga Neira Zugasty initiiert wurde, ist die All Stars Inclusive Band, die im deutschsprachigen Raum die erste inklusiv arbeitende Band an einer Kunstuniversität war. Jeden Montag versammeln sich an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien Menschen mit und ohne Behinderung, um gemeinsam mit Bernhard Lengauer (Leitung) und Marlene Ecker (Assistenz) zu musizieren. Beate Hennenberg ist seit Geburtsstunde der Band dabei und betreut diese wissenschaftlich: „Das Projekt ist sehr offen, barrierefrei, es kann jede und jeder kommen – inzwischen ist auch der Proberaum an der Musikuniversität barrierefrei zugänglich und zentral am Campus gelegen. Instrumentale Fähigkeiten werden bei den Bandmusikerinnen und Bandmusikern mit Lernschwierigkeiten nicht vorausgesetzt, jede und jeder hat eine Stimme, diese zu fördern macht Spaß. Darüber hinaus gelingt es unserem künstlerischen Leiter wunderbar, alle zu inkludieren. Und viele der Bandteilnehmerinnen und Bandteilnehmer spielen Instrumente auf wunderbare Art. ‚Community Music‘ bedeutet Musizieren auf Augenhöhe, die Wertschätzung aller Potenziale und das Miteinbeziehen aller Talente gehören dazu. Daraus entwickelt sich exzellente Musik.“

All Stars Inclusive Band (c) Beate Hennenberg

Zu Beginn hatte die Band etwa zehn bis zwölf Mitglieder, nun sind es durchschnittlich 25, bei manchen Auftritten sogar 35. Da die Gruppe ebenso als Band wie auch als Lehrveranstaltung und Forschungsfeld fungiert, hat sie im Jahr 2016 den Diversitätsmanagementpreis Diversitas mit einem Preisgeld in Höhe von 25.000 Euro erhalten. Dieses Geld wird dazu genutzt, weiter in inklusive Maßnahmen zu investieren. „Durch den Diversitas-Preis bekamen wir die Möglichkeit, Instrumentalunterricht für die Bandmitglieder, die mit einer Behinderung leben, in Kleingruppen anzubieten. Das hat einen enormen Run: Markus, unser Pianist, der mit Autismus lebt, bekommt Stimmbildung und ist in seinem Spiel dadurch rhythmischer und in der Persönlichkeit selbstbewusster geworden. Unser Gitarrist lernte ein paar Griffe mehr und konnte somit das Damenensemble seiner Pflegeeinrichtung begleiten. Michaela, die Trompeterin, bekommt nun auch Gesangsunterricht und entwickelte eine klingende Sprechstimme. Die ‚All Stars Band‘ ist wie eine kleine Musikschule“, so Beate Hennenberg

„Community Music“ am Wiener Konzerthaus

Eine Art kleines Mitmach-Festival startete das Wiener Konzerthaus in diesem Sommer. Die Inklusive SommerMusikWoche, die von 2. bis 5. Juli 2019 stattfand, richtete sich an Musikbegeisterte ab zehn Jahren, die gerne mit anderen in den Sälen des Wiener Konzerthauses musizieren wollten. In Workshops mit professionellen Musikerinnen und Musikern aus dem In- und Ausland, unter anderem vom Ensemble Federspiel, Alma und Quetsch ‘n’ Vibes, musizierten die Teilnehmenden gemeinsam vier Tage lang. Am letzten Tag gab es dann ein Workshop-Finale für Angehörige, Freundinnen und Freunde. Dieses habe bewusst in diesem geschützten Rahmen stattgefunden, wie Katja Frei, Musikvermittlerin am Wiener Konzerthaus, vor Projektbeginn äußerte: „Ich glaube, so ein Projekt braucht einen kreativen Raum, der den neu aufgebauten kleinen und großen Ensembles genügend Platz für Experimente und überraschende Erfahrungen lässt. Die Mitwirkenden sind Laien mit und ohne Behinderung, die vor dieser Woche teilweise weder das Haus noch einander kannten. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass wir eine tolle Abschlussaktion auf die Bühne bringen, dass wir Ergebnisse präsentieren können, mit denen vielleicht niemand rechnet. Für unsere Abschlussaktion braucht es aber trotzdem keine große Öffentlichkeit, um das Erlebnis oder den Mehrwert für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu steigern. Die Proben in verschiedenen Sälen und ein Auftritt auf der Großen Bühne im Wiener Konzerthaus sind für alle Aufregung genug.“ Eine ausführliche Dokumentation des gesamten Projekts wird es in Form von Fotos und Videos online zu sehen geben.

klangberührt

Ein weiteres Projekt ist das neue Konzertformat klangberührt, das in der Saison 2019/2020 als Abonnement fest in die Saisonbroschüre aufgenommen wurde. „Wichtig bei diesem Format ist“, so Katja Frei, „dass ein Gesamterlebnis geschaffen wird, das verschiedene Sinne berührt und in dem wir viele der Rituale und Regeln, die sich im klassischen Konzertbetrieb die letzten hundert Jahre verstetigt und institutionalisiert haben, noch einmal überdenken und die Leute einladen, diese Rituale infrage zu stellen und zu sagen: ‚Vielleicht kann es auch einmal sein, dass man mitten im Stück anfängt zu klatschen, weil es einen so mitreißt, oder anfängt, auf den Hockern mitzuklopfen oder aufzustehen und zu tanzen.‘ Für solch einen emotionalen Ausdruck ist es schön, wenn wir einen neuen Rahmen im klassischen Konzertbetrieb schaffen.“ Das Abonnement wird bislang insbesondere vom Stammpublikum des Wiener Konzerthauses sehr gut angenommen, als hätte es auf so ein etwas aufgelockertes Format schon lange gewartet. Zahlreiche Behördengänge haben es nun auch ermöglicht, dass bei klangberührt bis zu 26 Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer im Saal sein dürfen – denn auch solche organisatorischen Aspekte musste das Wiener Konzerthaus zuerst regeln. Dank der Spendeneinnahmen von über 141.000 Euro können diesen Sommer bauliche Veränderungen für mehr Barrierefreiheit im Wiener Konzerthaus durchgeführt werden, wie beispielweise automatisch öffnende Eingangstüren beim Ticket- und Service-Center. Vordergründig kleine Bausteine, die aber einen erheblichen Wert für die Inklusion bilden.

klangberührt (c) Wiener Konzerthaus, Foto: Julia Wesely

Die freischaffende Musikvermittlerin Lilian Genn konzipiert und inszeniert das neue Konzertformat klangberührt – ein besonderes Bedürfnis nach Musik. Die Konzerte dauern in etwa 75 Minuten und beginnen bereits um 18:30 Uhr. Der Schubertsaal wird hierfür umgebaut, die Bühne wird in den Saal hineinverlegt, um ein unmittelbares Musikerleben zu gewähren. Im Anschluss an das Konzert gibt es einen gemütlichen Ausklang mit der Möglichkeit, die Künstlerinnen und Künstler persönlich kennenzulernen. „Die Grundidee ist, ein Konzertsetting zu gestalten, das offen und zugänglich ist für alle Menschen. ‚Alle Menschen‘ klingt schnell banal, aber ‚klangberührt‘ ist dezidiert kein Projekt nur für Menschen mit Behinderung. Wir wünschen uns ein durchmischtes Publikum, das gemeinsam ein musikvermittlerisch gestaltetes Konzert erlebt und gleichzeitig alles hält, was auch immer an spontanen Reaktionen oder unerwarteten Situationen passieren mag“, so Lilian Genn. Insgesamt reihe sich klangberührt gut in die Zielsetzung des Wiener Konzerthauses ein: „Wir schätzen in unseren vielfältigen Konzert- und Vermittlungsangeboten eine große soziale Durchlässigkeit. Die Diversität, die sich in der Stadt widerspiegelt, soll sich auch in den Veranstaltungen im Haus abbilden. Das ist natürlich eine große Vision und das wird nicht en détail in jedem Soloabend oder in jedem Abonnement-Konzert umsetzbar sein. Aber Angebote zu schaffen, die immer wieder versuchen, eine Brücke zum Beispiel in die Außenbezirke zu schlagen und dann durch einen Aufbau von Vertrauen in unsere Institution diese Brücke stabil in umgekehrter Richtung auszubauen, das ist unser Wunsch“, so Katja Frei.

Visionen für Wien

Was diese drei Institutionen eint, ist, dass sie durch ihre ambitionierten Projekte für mehr Inklusion in der Gesellschaft einstehen. Beate Hennenberg von der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien sieht durch die All Stars Inclusive Band, dass es möglich ist, dass Studierende gemeinsam mit den Musikerinnen und Musikern mit Behinderung die Universität und somit letztlich auch die Gesellschaft zu ändern vermögen. Katja Frei vom Wiener Konzerthaus hofft, dass sich diese Initiativen nun in Wien verwurzeln und gesehen wird, „dass eine große Kulturinstitution wie das Wiener Konzerthaus offen ist für den Kontakt mit dem Publikum, für inklusive Ideen und für einen Dialog darüber auf Augenhöhe“. Und auch Helga Neira Zugasty von Ich bin O.K. sieht in „Community Music“ und „Community Dance“ ein großes Potenzial für das gesellschaftliche Miteinander: „‚Community Music‘ und ‚Community Dance‘ bedeuten eine Öffnung für alle, offene Räume, die für alle Menschen zugänglich und für alle Menschen machbar sind, wo möglichst niemand ausgeschlossen ist. ‚Community Music‘ ist ein vollkommen flexibles Konstrukt, wenn es das sein darf. Es ist für mich ein entscheidender Punkt, dass von den Kulturschaffenden oder Kulturbeauftragten die Bereitschaft, das Wissen und die Kompetenz da sein müssen, um ‚Community Music‘ und ‚Community Dance‘ als freie, gesellschaftsbildende Prozesse zu erachten, für die man Ressourcen zur Verfügung stellt!“

Malina Meier

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