Christian Denkmaier, Direktor der Musikschule der Stadt Linz, hat 2011 mit engagierten MusikschullehrerInnen die Initiative „Musikalischer Südwind“ ins Leben gerufen. Er erklärt die ungleiche Verteilung der musizierenden Kinder im Linzer Stadtgebiet und erläutert die Maßnahmen, die gesetzt wurden, um mehr Chancengerechtigkeit zu ermöglichen. Eine gelungene Kooperation zwischen Musikschule und Volksschulen.
Das Interview führte Marie-Therese Rudolph von KulturKontakt Austria.
Im Jahr 2011 wurde die Initiative „Musikalischer Südwind“ von der Musikschule der Stadt Linz gegründet. Dem voran ging die Sing- und Rhythmusschule, die bereits seit vielen Jahren an Linzer Volksschulen besteht. Wie stellt sich die Situation an den Linzer Schulen aus Ihrer Sicht dar?
Christian Denkmaier: Die Stadt Linz verfügt mit der Singschule über eine lange Tradition der dezentralen Musikvermittlung an Volksschulen. Sie war immer ein Herzstück der pädagogischen Ausrichtung der Musikschule Linz, hat auch ihre schwierigen Zeiten erlebt, in der die Einrichtung grundsätzlich in Frage gestellt war. Seit einigen Jahren aber – es war auch ein Schwerpunkt meines Leitungsverständnisses an der Schule – erlebt sie einen enormen Boom, sodass wir jetzt sagen können, dass wir in fast 90% aller Linzer Volksschulen mit der Sing- und Rhythmusschule präsent sind. Das heißt, wir haben 35 öffentliche Volksschulen in Linz und an 31 ist die Singschule vertreten. Sie gibt es nur dort nicht, wo eigene Schulchöre oder eigene Musikschwerpunkte existieren.
Wie funktioniert die Sing- und Rhythmusschule?
Christian Denkmaier: Das Ganze funktioniert so, dass die Singschul-Lehrkraft nach dem Regelunterricht Gesang, Rhythmik und Stimmbildung in Gruppen unterrichtet. Die Gruppengröße liegt bei 7 bis zu 20 Kindern. Die Zusammensetzung ist meistens altersbedingt, da werden dann 1. und 2. Klassen, 2. und 3. oder 3. und 4. Klassen zusammengefasst. Die Lehrkraft kommt also nach dem Unterricht zu Mittag an die Schule und unterrichtet zuerst die erste Gruppe und dann die zweite. Diese Kooperation funktioniert seit Jahrzehnten sehr gut und wird sehr gut angenommen.
Das ist eine freiwillige Aktion?
Christian Denkmaier: Ja, die Kinder melden sich an und zahlen eine sehr moderate Gebühr. Darüber hinaus erhalten Kinder aus einkommensschwachen Familien Ermäßigungen bis hin zu einem vollständigen Erlass der Kosten.
Wie positioniert sich die Musikschule der Stadt Linz im bundesweiten Vergleich?
Christian Denkmaier: Wir haben soeben in einem bundesweiten Ranking, in dem die Zweigstellen der Musikschulen abgefragt wurden, sehr gut abgeschnitten. Das ist in einer Grafik im Standard sehr anschaulich dargestellt. Da liegt die Musikschule der Stadt Linz weit vor den anderen Landeshauptstädten und sie schneidet auch bezirksmäßig am besten ab. Die Messeinheit waren Zweigstellen pro 10.000 EinwohnerInnen. Wir haben 16 oder 17 Zweigstellen, die teilweise auch direkt in den Gebäuden der Volksschulen untergebracht sind. Das ist ein zweiter Vernetzungsstrang, den wir verfolgen. Das wird mehr und mehr als Qualitätsmerkmal der Schulen betrachtet. Früher waren die Musikschulen in das sprichwörtlich letzte Kammerl einer Schule verbannt, diese Zeiten sind glücklicherweise vorbei.
Die Schulen haben jetzt auch erkannt, dass es ihnen zugutekommt, wenn sie eine Musikschule beherbergen. Durch die Aufhebung der Schulsprengel, also die freie Schulwahl für Kinder, ist ein Wettbewerb zwischen den einzelnen Standorten entstanden.
Der musikalische Südwind
Wie kam es zur Gründung des „Musikalischen Südwinds“?
Christian Denkmaier: Dieses wichtige Thema beschäftigt uns nun seit mehr als vier Jahren. Anfang 2010 machten wir eine Studie, um herauszufinden, woher unsere SchülerInnen kommen. Dabei haben wir festgestellt, dass der weitaus überwiegende Teil aus Linz-Urfahr und Linz-Zentrum, aus sogenannten bürgerlichen Stadtvierteln, kommen und die Zahl der Kinder aus dem Linzer Süden bzw. Linz Mitte, insbesondere aus dem migrationsstarken Stadtteil, unverhältnismäßig geringer ist. Ein Beispiel, das besonders markant ist: Am „Petrinum“, einer alteingesessenen Schule in Urfahr, sind von 300 Kindern zwischen 10 und 14 Jahren 111 MusikschülerInnen. In der „Rennerschule“ (NMS) mit derselben SchülerInnenzahl, gab es nur einen! Das haben wir zum Anlass genommen, um neue Wege zu beschreiten, um den Kindern aus Linz Süd im Sinne der Chancengleichheit Einstiegsmöglichkeiten zu geben.
Welche Maßnahmen haben Sie im Rahmen des Projekts gesetzt?
Christian Denkmaier: Wir haben ein Paket für den Süden von Linz geschnürt, und es damit geschafft, auch die dort lebenden Kinder in das Musikschulleben zu integrieren. Es besteht aus vier Säulen:
- Ein Musikschulpädagoge / eine Musikschulpädagogin besucht jährlich vier Mal alle Volksschulklassen von Linz Süd und Linz Mitte. Die Kinder werden in diesen Stunden, die im Regelunterricht stattfinden, mit der Welt der Musik und der Musikschule vertraut gemacht. Darüber hinaus werden auch die Angebote, die wir als Musikschule machen können, in die Elternhäuser getragen. Dafür haben wir spezielle Aufgaben entwickelt, wie etwa, dass die Kinder alle Familienmitglieder zeichnen, die ein Instrument spielen – natürlich mit ihrem Instrument. So können wir in die Familien hineinwirken.
- Alle Kinder bekommen am Ende dieser Besuchsserie eine Einladung, in der Sing- und Rhythmusschule mitzuwirken bzw. ein Instrument zu erlernen.
- Die Etablierung von einem Instrumentalunterrichtsangebot an den Volksschulen in Form von Kleingruppen von 4-5 Kindern, kein Klassenunterricht. In sechs bis sieben Jahren möchten wir an allen Volksschulen mindestens drei Instrumente mit jeweils drei Einheiten anbieten können. Es soll überall mindestens ein Akkordinstrument dabei sein, damit diese Konstellationen auch ensemblefähig sind, wie etwa Akkordeon, Querflöte und Geige. Derzeit haben wir zumindest ein Instrument in allen Südwind-Schulen anzubieten. An manchen Standorten beginnen wir bereits mit dem zweiten.
- Im Rahmen des jährlichen Austauschs der Südwindschulen, aber auch derer aus Urfahr, werden diese ins Brucknerhaus eingeladen, um die bekannten Gesichter aus der Musikschule zu treffen. Im vergangenen Jahr machten wir die „Bremer Stadtmusikanten“ mit Marko Simsa, wozu wir 2.000 Kinder eingeladen hatten. Das Programm wurde in den Volksschulen im Vorfeld vorbereitet.
Spannend zu beobachten war, dass nach anfänglicher Skepsis der LehrerInnen, und auch von Seiten der Schulleitungen, alle das Projekt mit großer Energie unterstützen. Der Großteil der VolksschullehrerInnen nimmt mittlerweile eine aktive Rolle bei den Besuchen ein.
Was trägt aus Ihrer Sicht maßgeblich zum Gelingen der Initiative bei?
Christian Denkmaier: Zwei, drei Dinge, die mir dabei sehr wichtig sind: Das alles funktioniert nur, wenn die PädagogInnen unseres Hauses, also der Musikschule Linz, voll dahinterstehen. Hier gilt das Prinzip der Freiwilligkeit. Es wurde niemand eingeteilt und gegen seinen Willen in die Volksschule delegiert. Diejenigen, die neu einsteigen, sind allerdings verpflichtet, als immanenter Teil ihres Arbeitsvertrages. Es ist jeder Lehrkraft, die hauptberuflich bei uns tätig ist, zumutbar, dass sie von ihren fünf Unterrichtstagen einen an einer Volksschule verbringt. Damit ist sichergestellt, dass damit die Kinder, die sonst keinen Zugang zur Musik hätten, einen erhalten.
Von unseren etwa 120 LehrerInnen sind etwa 40-45 aktiv in dieses Projekt eingebunden. Es wird auch deswegen mitgetragen, weil wir Qualitätskriterien definiert haben, wie etwa Gruppengrößen von max. vier Kindern im Instrumentalunterricht. Es wird sogar besonders mitgetragen von KollegInnen, die künstlerisch versiert sind. Wir haben also keine Zwei-Klassen-Gesellschaft an LehrerInnen. Wir haben das Ziel, dass alle alles machen. Das ist ein wichtiges Kriterium.
Kooperationen auch auf menschlicher Ebene leben
Wir werden von den Schulleitungen und der Politik unterstützt. In unserem Fall ist es gelungen, alle politischen RepräsentantInnen, die mit Musik und Bildung zu tun haben, an einen Tisch zusammenzuholen. Wichtig ist mir, dass diese Kooperationen auch auf menschlicher Ebene gelebt werden. Die LehrerInnen, die rausgehen, sollen sich nicht als Fremdkörper an den Volksschulen fühlen. Sie sind mittlerweile dort eingebunden, etwa bei Schulfesten, Weihnachtsfeiern bis hin zur Teilnahme an Konferenzen.
Welche Möglichkeiten zur Weiterentwicklung erscheinen Ihnen sinnvoll?
Christian Denkmaier: Unabhängig und losgelöst von den rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen und Strukturen ist unser Modell auf jeden Fall ein sinnvoller und gangbarer Weg, der verschiedene Möglichkeiten der Kooperation eröffnet. Etwa wie in Südtirol, wo man im Musikunterricht in Form von Teamteaching Volksschullehrkraft und Musikschullehrkraft zusammenspannt, was für beide Seiten enorme Vorteile bringt. Oder eine andere Variante, die wir diskutiert, aber nicht weiterverfolgt haben, wäre, unsere LehrerInnen bei der Ausbildung der Volksschullehrkräfte, insbesondere bei der Instrumentalausbildung ins Boot zu holen, was dann die Kooperation in den Volksschulen vereinfachen würde, weil man sich schon kennt, institutionell und persönlich. Jedenfalls ist es gesichert, dass dieser Zugang dahin führt, dass herkömmliche Barrieren wie Mobilität (oft haben die Eltern keine Möglichkeit, die Kinder in die Musikschule zu bringen) bis hin zu finanziellen Barrieren die Sache nicht scheitern lassen.
Hat sich in der Wahrnehmung der Musikschule der Stadt Linz trotz der Dezentralisierung und zunehmenden Mobilität als Institution mit einem „Haupthaus“ etwas geändert?
Christian Denkmaier: Dieses Modell läutet keine generelle Dezentralisierung des Musikschulwesens ein. Die Musikschule ist in der Form, wie sie jetzt existiert, also mit einer Zentrale, einem Haupthaus, aus vielerlei Gründen unabdingbar. Ziel ist es, später, wenn die Kinder selbstständig und mobil sind, sie selbstverständlich in den Musikschulalltag hier einzubinden.
Gibt es mit den Eltern der Kinder auch Kontakt?
Christian Denkmaier: Ganz ein wichtiger Punkt heißt, alle bisherigen Zugänge und Hypothesen, was Elternarbeit betrifft, in Frage zu stellen. D.h. dieses schöne Bild, dass die Musikschullehrerin in der Musikschule sitzt, die Eltern das Kind bringen, dann redet man schon vor der Stunde zwei Minuten und nach der Stunde noch einmal, hat vielleicht miteinander die Aufgaben der Woche besprochen … das funktioniert alles bei diesem Modell nicht. Das ist aber auch eine Barriere, die es vielen Kindern verunmöglicht, Musikschulunterricht zu bekommen.
Die Eltern ins Boot der Musikschule holen
Natürlich wollen wir die Eltern auch ins Boot holen, aber da gibt’s nur wenige Andock-Möglichkeiten. Eine wichtige, die immer bedeutender wird, ist die Mitwirkung der Musikschulkraft bei den Elternabenden zu Schulbeginn. D.h. im Normalfall hat jede Volksschule zu Schulbeginn einen sehr gut besuchten Elternabend, die von vielen Schulen durchaus gut und professionell gestaltet werden. Da spielt die Sprachvermittlung auch eine große Rolle, damit Eltern mit dürftigen Deutsch-Kenntnissen den Kerninformationen und –inhalte folgen können. Da bringt sich eben jetzt auch die Musikschule ein. Ein zweiter Zugang ist bei Festen und Feiern: dort sehen viele Eltern zum ersten Mal, dass ihr Kind in einer Gemeinschaft mitsingt und mitspielt, oder eben nur die anderen Kinder und das eigene nicht und sie bekommen Lust darauf. Das dritte ist, dass durch individuelle Kommunikationsinitiativen der Lehrkraft Elternkontakt entsteht.
Die Eltern werden natürlich weiterhin eine wichtige Rolle dabei spielen, ihre Kinder zu animieren, aktiv Musik zu betreiben, aber es hat sich eben bezüglich der Präsenz der Eltern vor und nach dem Unterricht etwas verändert.
Welche Kosten entstehen für die Eltern?
Christian Denkmaier: Kleingruppenunterricht in den Volksschulen hat einen besonderen Tarif, d.h. er ist leistbarer als der Einzel- oder Partnertarif in einer Musikschul-Zweigstelle.
Welche Daten und Statistiken sind für einen erfolgreichen Weiterbestand des „Musikalischen Südwinds“ notwendig?
Christian Denkmaier: Das Projekt hat 2011 begonnen, wir haben letztes Jahr eine große Erhebung durchgeführt, für die mehrere tausend Kinder aus allen Schultypen befragt wurden, welche Instrumente sie lernen, wo ihre musikalische Ausbildung begonnen hat etc. Die Ergebnisse sind für uns eine wichtige und hilfreiche Arbeitsunterlage.
Besteht an diesem Modell Interesse von anderen Städten?
Christian Denkmaier: Es gab immer wieder Anfragen von Städten, die sich informieren wollten. Wir haben da sehr geradlinig einen „Linzer“ Weg beschritten, der die Strukturen, die wir hier haben, bestmöglich nutzt. Wir haben natürlich auch andere Modelle studiert, wie etwas das JEKI in Deutschland („Jedem Kind ein Instrument“). Ich hab mir das vor Ort angesehen. Es verfolgt andere Zielsetzungen und wäre für Linz nicht der maßgeschneiderte Weg. Ich glaube auch, dass sich schlussendlich jede Stadt und jede Region ihren eigenen Weg suchen muss. In unserer Größenordnung funktioniert dieses Modell sehr gut. Eine größere oder eine kleinere Stadt braucht wieder etwas anderes. Da gibt es ganz andere Möglichkeiten der Vernetzung.
Ganztags-Volksschulen und die Musikschule
Welchen Einfluss hat der Ausbau der Ganztags-Volksschulen auf die Umsetzung?
Christian Denkmaier: Diese Schulen sind derzeit in Linz noch in der Minderzahl, aber das Hortwesen ist in der Nachmittagsbetreuung stark ausgeprägt. Schritt für Schritt wird der Besuch der Singschule bzw. des Instrumentalunterrichts in diesen Nachmittagsbetreuungsphasen wie selbstverständlich. Viele Dinge passieren dann umso besser, wenn man sich – vereinfacht gesagt – um ganz viele Details kümmert. Mir und dem Leitungsteam hat es in den letzten drei Jahren viel Zeit gekostet, die ich als sehr gut investiert erachte, sich tatsächlich jedes Detail von Grund auf anzuschauen, da es keine Spielregeln und schon gar keine jahrzehntelange Tradition gibt. Wo wird das Instrument gelagert? Wer hilft den Kindern beim Stimmen des Instruments? Wann und wo können sie üben? etc.
Einige Mitglieder des Kollegiums absolvieren den Lehrgang für Musikvermittlung an der Anton Bruckner Privatuniversität Linz. Fließt das zum Beispiel in die Art der Präsentation bei den Klassenabenden ein?
Christian Denkmaier: Das ist hier ein riesiges Thema und wir haben eine sehr interessante Variante gewählt. Jeder möchte seine Klasse und seine SchülerInnen möglichst im Alleingang präsentieren. Das verstehe ich zum Teil, da passieren auch sehr schöne Dinge. Z.B. unsere Klavierfeste, bei denen kulinarische Köstlichkeiten serviert werden usw. Nichtsdestotrotz gibt es immer noch die Vorspielstunden, Vortragsabende, SchülerInnenkonzerte, die gestrickt sind wie vor 10-15 Jahren: ein Stück nach dem anderen im Drei- Minuten-Abstand, oft nicht einmal moderiert. Daher haben wir alle „guten“ Termine für klassenübergreifende Abende reserviert. D.h. wir wissen ja, welche Termine besonders begehrt sind.
Woran liegt es, dass sich an Ihrer Schule so viel verändert hat?
Christian Denkmaier: Wir sind eine besonders reformfreudige Musikschule, das hat sich in den letzten 10-12 Jahren herausgestellt. Bei uns ist daher kein Stein auf dem anderen geblieben!
Das Gespräch führte Marie-Therese Rudolph / KulturKontakt Austria.
Link: www.linz.at/musikschule