Milieu und Vielfalt – HERMANN PESECKAS und STEPHAN MARIA KARL im mica-Interview

Wolfgang Seierl sprach mit dem Filmemacher und Musiker HERMANN PESECKAS und dem Komponisten STEPHAN MARIA KARL über die Festspielstadt und Mozartstadt Salzburg, die Situation der Studierenden und die Kommunikation der Künstlerinnen und Künstler untereinander.

Festspielstadt und Mozartstadt Salzburg. Beflügeln oder behindern diese Prädikate das aktuelle Musikschaffen in dieser Stadt?

Hermann Peseckas: Ich kann dazu relativ schwer etwas sagen. Meine Wahrnehmung ist, dass Salzburg ein Selbstläufer ist. Man hat es als Salzburgerin beziehungsweise Salzburger neben den zahlreichen Festivals schwerer als in anderen Städten, die diese „Bürde“ von Festspielen, Mozart usw. nicht haben. Es ist eigentlich extrem schwierig, da durchzukommen. Auch in der öffentlichen Wahrnehmung geht es immer darum, dass die Stars präsentiert werden, das ist das Kapital der Stadt. Warum sollte das auch nicht so sein, das ist nun einmal die Situation. Vielleicht hat man anderswo bessere Startchancen und wird eher wahrgenommen. In Linz gibt es Anton Bruckner, aber der ist nicht so dick aufgetragen wie in Salzburg Mozart, in einer Stadt, die wie eine Kulisse funktioniert. Ich sehe das nicht negativ, ich lebe selbst ja auch in dieser Kulisse und fühle mich auch ganz wohl dabei. Es ist aber relativ schwierig, wenn der gesamte Fokus immer auf die Stars gerichtet ist, wenn die Medien in erster Linie diese bedienen, weil sich dadurch ihr Erfolg steigert. Insofern ist es ein gewisses Handicap als Künstlerin beziehungsweise Künstler, in der Öffentlichkeit entsprechend wahrgenommen zu werden. Man muss 50 Prozent mehr bringen als die Arrivierten, die sozusagen einfach so genommen werden.

Stephan Maria Karl: Diese Prädikate bieten einer Stadt wie Salzburg Chancen, von denen die meisten Millionenstädte nur träumen können. Die Frage, ob die Salzburgerinnen und Salzburger jener mit der Musikmarke „Salzburg“ verbundenen Verantwortung auch im Bereich des aktuellen Musikschaffens gerecht werden, würde ich mit Ja und Nein beantworten.
Auf der einen Seite ist Salzburg proportional zu seiner Einwohnerzahl weltweit vielleicht jene Stadt mit der höchsten Dichte an aktiven zeitgenössischen Komponistinnen und Komponisten sowie Konzerten. Doch naturgemäß könnten die Salzburgerinnen und Salzburger auch vieles besser gestalten, weil sie sich als Festspiel- und Mozartstadt von Weltrang darbieten.
Gemessen an der ästhetischen Vielfältigkeit des heutigen Komponierens bedürfen meiner Ansicht nach zu viele Konzertprogramme der wichtigsten zeitgenössischen Instanzen der Stadt einer Auffrischung. Wenn in einem zeitgenössischen Programm etwa Musik dominiert, die 30 bis 100 Jahre alt ist (und das geschieht häufig), dann würde ich den Veranstalterinnen und Veranstaltern eine dringliche und vor allem objektive Recherche zum Musikschaffen der letzten zwei Jahrzehnte empfehlen, das schier unbegrenzte ästhetische Vielfalt anbietet.
Um ein Beispiel zu nennen: Das diesjährige zeitgenössische Programm der Salzburger Festspiele wird den Komponisten Boulez, Rihm, Berg, Webern und anderen gewidmet. „Altväterlich“ würde dieses Programm jemand bezeichnen, der sich von einem Festival dieser Größenordnung ästhetische Vielfalt und Neues erwartet. Nicht minder vorgestrig zeigen sich die Programmschwerpunkte vergangener Jahre. Um mich nicht falsch zu verstehen: Die genannten Komponisten verdienen zweifelsohne einen Platz in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts. Aber „zeitgenössisch“ bedeutet „gegenwärtig, heutig“, nicht wahr? Scelsi oder Boulez – der seit den 1980ern kaum noch komponiert – würde ich seit zwei Komponistengenerationen und den – völlig überschätzten!? – Rihm seit einer Generation nicht mehr als zeitgenössisch bezeichnen, sofern er sich nicht neu erfunden hat. Ich meine damit nicht, dass diese Komponisten in zeitgenössische Programme nicht integriert werden sollten. Nein, es heißt, dass ein von diesen Namen geprägtes zeitgenössisches Konzert nicht mehr als „zeitgemäß“ bezeichnet werden kann. Als ob man in den 1820ern ein zeitgenössisches Programm ganz der Musik von Mozart und Bach gewidmet hätte.
Aus Wertschätzung den vielen unterschätzten Komponistinnen und Komponisten der Vergangenheit und Gegenwart gegenüber ist auch die Frage nach den Gründen der Erfolge so mancher von Festival zu Festival getragen Komponistinnen und Komponisten berechtigt. Die möglichen Antworten mögen naturgemäß kontrovers ausfallen. Der Erfolg von Boulez und Rihm ist wohl aber auch deren ausgeklügeltem Vetternnetzwerk zu verdanken.

Was meinen Sie mit Vielfalt?

Stephan Maria Karl: Um die Vielfalt, von der ich spreche, mit bekannten Komponistennamen des vergangenen Jahrhunderts zu veranschaulichen: Ein Programm mit Webern, Boulez, Stockhausen und Nono ist ästhetisch wohl weniger mannigfaltig als eines mit Boulez, Maxwell-Davies, Reich, Pärt und Gubaidulina. Mit der letztgenannten Programmgestaltung würde eine Veranstalterin beziehungsweise ein Veranstalter nicht nur die künstlerische Qualität wahren und die tatsächliche Vielfalt der klassischen Musik des 20. Jahrhunderts repräsentieren, sie beziehungsweise er würde aufgrund der gebotenen Vielfalt auch einen größeren Publikumskreis ansprechen. Tatsächlich aber gibt es noch immer Protagonistinnen und Protagonisten der Szene, die Komponisten wie Pärt, Reich, John Luther Adams und anderen künstlerische Qualität absprechen, nur weil deren Musik scheinbar „einfach“, „tonal“ und „populärer“ ist. Dabei ist es oft die Einfachheit, in der größte Kraft liegen kann. Eine Einfachheit, die die Neue-Musik-Szene bitter nötig hat, denn absurderweise gilt noch immer die unausgesprochene Regel, dass ein Werk komplex sein muss, um als gelungen eingestuft werden zu können.
Neue Namen und mutige Programme findet man in Salzburg eher bei der Salzburg Biennale oder den Aspekten. Ob diese Namen die tatsächliche Vielfältigkeit des heutigen Komponierens repräsentieren, ist abzuwarten. Ästhetische Vielfalt mit Musik aus dem 20. und 21. Jahrhundert erwartet die Hörerinnen und den Hörer garantiert in der Salzburger Nacht der Komponisten. Wie die meisten künstlerischen Instanzen benötigt aber auch dieser Konzertmarathon eine Budgeterhöhung, um die künstlerische Qualität steigern zu können – Geld, das beispielsweise den Festspielen für ein zeitgenössisches Programm zuerkannt wird, das nicht einmal zeitgenössisch ist.

Wie sieht es Ihrer Meinung nach in anderen Kunstsparten aus, etwa in der darstellenden Kunst?

Stephan Maria Karl: Sie kennen bestimmt das Märchen „Des Kaisers neue Kleider“, in dem zwei Betrüger dem Kaiser für viel Geld unsichtbare Kleider andrehen, die angeblich nur von Personen gesehen werden, die ihres Amtes würdig und nicht dumm seien. Aus innerer Unsicherheit erwähnt der Kaiser nicht, dass er die Kleider selbst auch nicht sehen kann. Die Menschen, denen er seine Gewänder präsentiert, täuschen Begeisterung über die scheinbar schönen Stoffe vor, weil sie um ihre gesellschaftliche Stellung fürchten. Schließlich wird der Schwindel von einem Kind entlarvt, dem die Falschheit der Erwachsenen fremd ist.
Ich sehe deutliche Parallelen zwischen diesem Märchen und der Situation der zeitgenössischen Kunstszene: An der Art Basel Miami wird ein in jeglicher Hinsicht einfallsloses Plastikgebilde zu einem Verkaufspreis von mehreren Hunderttausend Dollar angeboten. Mit oberflächlichem Aktionismus, handwerklicher Armseligkeit und Kunst, die Krankheit, Angst, Defätismus und Gewalt ausstrahlt und das Leben entwürdigt, anstatt es zu lieben, kann man Millionärin beziehungsweise Millionär werden. „Kunsthistorische Zitate verwandeln sich in Trödel und Genieposen der Künstler in Faschingskostüme“, schrieb Julia Voss von der FAZ anlässlich einer Lüpertz-Ausstellung. Substanzlosen Nacktbildern – als ob es in den letzten Jahrzehnten nicht schon genug gegeben hätte – werden heiß begehrte Ausstellungsräume in der Albertina geschenkt, siehe Erwin Wurm. Kunstwerke, die nicht aus sich selbst heraus sprechen, sondern eine aufgeblasene Werksbegründung oder den Bekanntheitsgrad der Künstlerin beziehungsweise des Künstlers bedürfen, um überhaupt eine Wirkung bei den Rezipientinnen und Rezipienten zu hinterlassen, sind hoch im Kurs. Wo Kunst beginnt und wo sie aufhört, können wir hier nicht beantworten, das hängt auch vom Auge der Betrachterin beziehungsweise des Betrachters ab. Was mich aber langweilt, ist diese unübersehbare Dominanz des Obengenannten in der Kunstszene. Dies liegt weniger an den Künstlerinnen und Künstlern selbst als an den Verantwortlichen, die nach subjektiven Kriterien Künstlerinnen und Künstler auswählen, fördern und deren Aktienwert künstlich nach oben treiben. Vielleicht offenbart sich gerade hier die Aktualität von Hans Christian Andersens Märchen.
Was ich mir nun persönlich erbitte? Ein Kindermund tut Wahrheit kund. In diesem Sinne wünsche ich mir mehr Künstlerinnen und Künstler sowie Kunstinteressierte, die sich unverblümt gegen das fragwürdige Treiben in der zeitgenössischen Kunstszene aufbäumen. Ich wünsche mir, dass der überhandnehmende Schwindel auffliegt und es uns Künstlerinnen und Künstlern, Ausstellerinnen und Austellern sowie Kunstmaklerinnen und Kunstmaklern somit erschwert wird, hohle künstlerische Statements als Geniestreiche vorzuführen. Ich wünsche mir, dass der Sehnsucht vieler Kunstinteressierter nach mehr spiritueller Tiefe, nach mehr Strahl-, Heil- und Visionskraft in der zeitgenössischen Kunst Genüge geleistet wird. Talente gäbe es genug.

Wie viele hören nach dem Studium auf zu komponieren?

In Salzburg gibt es Ausbildungsstätten wie das Mozarteum, das Musikum und eine Fachhochschule, es gibt also verschiedene Institutionen, die sich für das Junge und Neue einsetzen. Was leisten diese und wie profitiert die aktuelle zeitgenössische Szene davon?

Stephan Maria Karl: Für die lehrreiche Lebensphase am Mozarteum empfinde ich große Dankbarkeit! Auch waren die Rahmenbedingungen für uns Kompositionsstudierende im Vergleich zu anderen Universitäten zufriedenstellend. Dennoch lässt bei der Mehrheit der Absolventinnen und Absolventen das kompositorische Schaffen nach dem Studium deutlich nach. Es gibt hierfür vielerlei Gründe, etwa der Verlust der schützenden Rahmenbedingungen der Universität und das Ausbleiben nennenswerter künstlerischer Erfolge. Der Hauptgrund dürfte allerdings wenig überraschend die entmutigende Konfrontation mit der Tatsache sein, dass Kompositionsabsolventinnen und -absolventen trotz ihrer außergewöhnlichen Begabung weder gesellschaftlich noch finanziell Anerkennung ernten. Vorsorglich müsste meiner Ansicht nach etwa die Universität ihre Kompositionsstudentinnen und -studenten dazu verpflichten, ein Zweitstudium anzupeilen. „Musiktheorie“ wird am Mozarteum als ein Zweitstudium empfohlen, doch die Jobmöglichkeiten sind kläglich. In Salzburg wäre etwa das Musikum ein potenzieller Arbeitgeber, wo Musiktheorie aber tendenziell „intern“, also unter den bereits angestellten Instrumentallehrerinnen und -lehrern ausgeschrieben wird. Die Jobaussichten am Mozarteum sind ebenso gering wie in der Privatwirtschaft, in der zwar Instrumentallehrerinnen und -lehrer, aber keine Musiktheoretikerinnen und -theoretiker gefragt sind. Mit der Einführung von frei wählbaren Schwerpunkten im Masterstudium wurde vor Jahren allerdings ein Schritt in die richtige Richtung gesetzt. Weitere Schritte sollten folgen, um die Kompositionsabsolventinnen und -absolventen noch besser auf die berufliche Realität nach dem Studium vorzubereiten.

Hermann Peseckas: Ich habe keine musikalische Ausbildung und muss als Musiker nicht von der Musik leben. Ich muss mir nicht überlegen, ob das, was ich mache, jemandem gefällt oder nicht, und deswegen mache ich auch das, was ich will. Ich habe einen anderen Beruf [Hermann Peseckas ist Filmemacher, Anm. des Autors], in dem sich auch Problemfelder ergeben, wo sich mit neuen Umsetzungen, neuen Herangehensweisen Neues erschließt und man traditionelle Muster verlassen muss. Wie ein Film vor 100 Jahren, vor 50, 30 Jahren ausgeschaut hat, das interessiert mich nur peripher, außer der Tatsache, dass man diese Kulturtechnik und die Arbeitsmittel irgendwie übernimmt, aber das Einzige, was ich überhaupt noch irgendwie neu erfinden kann, sind die eigenen Geschichten und Herangehensweisen und die Art, wie man einen Film schneidet und mit dem Material ästhetisch umgeht. Salzburg hat vielleicht in den letzten Jahren wieder so einen Rückschritt gemacht. Ich bin von der Rock- und Popmusik der 60er-Jahre geprägt, bin aber dann zu anderen, experimentelleren Musikformen gekommen, weil mir die Popsongs auch schon zu berechenbar und langweilig waren. Zu der Zeit hat es in Salzburg eine interessante Szene mit relativ viel Publikum gegeben. Irgendwann einmal ist dann aber nichts mehr weitergegangen. In der Reihe Jazz im Theater gab es eine Mischung aus Free-Jazz, improvisierter Musik, Neuer Musik, die Grenzen sind durcheinander geflossen, und dann ist das irgendwann einmal stehen geblieben, es hat die Festivals nicht mehr gegeben und das Publikum auch nicht mehr. Wahrscheinlich sind immer ganz bestimmte Akteurinnen und Akteure notwendig, die sozusagen ihr Herzblut einsetzen, damit irgendetwas funktioniert oder läuft, und dann kommt das Publikum. Jetzt aber ist das Publikum für Experimente und neue Geschichten weitgehend verloren. Irgendwie produziert jede Kunstform gewisse Dogmen. Ich denke, man sollte sich nicht zu viel an diesen Dogmen orientieren. Für Musikerinnen und Musiker, die davon leben wollen, kann es schon eine ziemliche Bürde werden, wenn sie praktisch vieles vorgeschrieben bekommen, zum Beispiel nur zu komponieren und zu spielen, was in Salzburg geht, was passt. Ich bin dann immer froh, wenn es trotzdem etwas Neues gibt, aber das gibt es immer seltener, denn die spannendsten Musikerinnen und Musiker machen inzwischen einen Bogen um Salzburg. Dann fahre ich irgendwo anders hin, zum Beispiel nach Nickelsdorf zum Festival Konfrontationen, weil dort experimenteller gearbeitet wird. Ursprünglich ein Free-Jazz-Festival, gibt es dort neue, experimentelle und elektronische Musik. Dort finde ich die Möglichkeit, zwischen den Genres zu switchen, ohne darüber nachdenken zu müssen, ob das jetzt E-, U-, A- oder I-Musik ist. Das ist ja an und für sich egal, Hauptsache, es ist spannend.

Hierarchie und Einförmigkeit

Was fehlt in dieser Stadt, in diesem Land?

Stephan Maria Karl: Ästhetische Vielfalt und Offenheit, Stipendien für die eigenen Künstlerinnen und Künstler sowie Unterstützung für die gesellschaftlich so wichtige Musikausbildung unserer Kinder.

Und die Kommunikation der Künstlerinnen und Künstler untereinander? Gibt es hier in Salzburg Austausch, Diskussion und Zusammenarbeit?

Stephan Maria Karl: Schaffende Künstlerinnen und Künstler sind Einzelkämpferinnen und Einzelkämpfer. Dementsprechend ist es schwierig, gemeinsam an einem Strang zu ziehen. Künstlerinnen und Künstler haben tendenziell ein großes Ego, das heißt, sie nehmen ihr eigenes Schaffen und ihre ästhetische Position für wichtiger als jene der anderen, was natürlich auch maßgeblich zur Entwicklung ihrer Individualität beiträgt.
Dennoch gibt es Zusammenarbeit, zum Teil auch zwischen Protagonistinnen und Protagonisten, die in ihrer künstlerisch-ästhetischen Ausrichtung nicht unterschiedlicher sein könnten. Das macht Hoffnung, denn letztlich kann Vielfalt nachkommende Künstlergenerationen nur befruchten. Dass diese Zusammenarbeit und die damit verbundene Förderung der eigenen Kolleginnen und Kollegen oft nur als ein Mittel zum Zweck dient, ist wahrscheinlich. So ist Vetternwirtschaft auch ein Problem in der Kunstszene, in der Aufführungen, Ausstellungen und Aufträge häufig quid pro quo zugeschanzt werden. Natürlich leidet darunter die Offenheit und Fortentwicklung der Kunst, die von jenen, die wichtige Positionen innehaben, ganz unscheinbar in eine ihnen genehme Richtung gelenkt werden kann. Erfreulicherweise gibt es in der Szene auch viele Teamworker, die ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter als mindestens genauso wichtig betrachten wie sich selbst.

Hermann Peseckas: Also ich stimme dir da total zu, Stephan. In meinem Bereich ist es ganz ähnlich, ich sehe das genauso. Es gibt den einen Teil, die künstlerische Produktion, das, was man selbst macht, und dann gibt es darüber hinaus einen Bereich, wo man sich organisieren muss. Ich habe das vorhin schon einmal gesagt, da wird der Individualismus so hoch positioniert, dass man mit den anderen irgendwie nicht mehr kann beziehungsweise dass man sich einfach nicht organisieren will. Zu bestimmten Fragen wie Einkommen und soziale Absicherung etc. Forderungen gegenüber der Politik zu formulieren ist für viele kein Thema. Viele gehen mit der Vorstellung, dass sie es schon schaffen werden, ausschließlich ihren individuellen Weg weiter, was ich als falsch empfinde. Studio West zum Beispiel ist ein Zusammenschluss von Filmemacherinnen und Filmemachern. Wir haben da unsere Räume, wo wir uns regelmäßig treffen, über Projekte unterhalten, diskutieren. Jede und jeder lebt sowieso auf ihrem beziehungsweise seinem eigenen Planeten, aber darüber hinaus wird auch geschaut, was man gemeinsam machen kann. Inhaltlich lässt man sich in die eigene Arbeit natürlich nicht dreinreden, das ist die Entscheidung jeder und jedes Einzelnen. Aber wir haben das Milieu, wir sind ungefähr 60 Personen, die mehr und weniger häufig kommunizieren, manche ganz regelmäßig, und etwa 20, die untereinander in ständigem Kontakt sind. Wir schauen auch immer, dass wir neue Leute dazubekommen, neuen Input bekommen. Wir sind altersmäßig zwischen 20 und 65, und das funktioniert, da gibt es keinen Generationenkonflikt, da gibt es bloß den gemeinsamen Nenner, dass wir gerne Filme machen, meist Dokumentarfilme, und ich glaube, dass es solche Strukturen braucht, selbst verwaltete, ohne große Hierarchien, wo man die wesentlichen Dinge gemeinsam entscheidet. Das Wichtigste ist, dass man Milieus schafft. Daraus entwickelt sich praktisch eine gewisse Kreativität.

Von Salzburg verabschieden

Ist das auch eine Grundlage für Erfolg? Ist es möglich, als Musikschaffende beziehungsweise Musikschaffender oder Kunstschaffende beziehungsweise Kunstschaffender in Salzburg erfolgreich zu sein? Was würde das bedeuten, in Salzburg Erfolg zu haben?

Stephan Maria Karl: Um diese Frage beantworten zu können, müsste man den Terminus „Erfolg“ noch konkreter definieren. Im künstlerischen Bereich bedeutet Erfolg etwas anderes als etwa in der Wirtschaft. Paganini war zu Lebzeiten erfolgreicher als Schubert. Doch Schubert ist heute zweifelsohne ein weit bedeutenderer Komponist als Paganini. Und so manche Komponistinnen und Komponisten, die heute von Festival zu Festival gereicht und somit vielleicht sogar völlig überschätzt werden, mögen in 50 Jahren nur noch Archivarinnen und Archivaren ein Begriff sein. Umgekehrt könnten Komponistinnen und Komponisten, die heute zu keinen nennenswerten Aufführungen gelangen, in einigen Jahrzehnten nachkommende Musiker- und Komponistengenerationen befruchten.
Um auf Salzburg sprechen zu kommen: Ich denke nicht, dass Salzburg eine Stadt ist, die ihre Künstlerinnen und Künstler namhaft macht. Geprägt auch von der kapitalistischen Ausrichtung der Festspiele – ich erinnere an die Ausladung des Globalisierungskritikers Jean Ziegler – ist Salzburg eine international orientierte Stadt, die Künstlerinnen und Künstlern dann den roten Teppich auslegt, wenn diese bereits große Erfolge gefeiert haben. Freilich gibt es für die jüngeren Salzburger Künstlerinnen und Künstler Stipendien und Preise, in deren Genuss auch ich mehrmals gekommen bin. Aber diese verlieren an Bedeutung, wenn man gleichzeitig beobachtet, wie viele Millionen den Festspielen zugesteckt werden, während die eigenen Künstlerinnen und Künstler am Hungertuch nagen, das Angebot an den Musikschulen hinter dem der anderen Bundesländer hinterherhinkt und das Musikum in finanziellen Nöten steckt.
Ich lege jeder Salzburger Künstlerin und jedem Salzburger Künstler nahe, eine bestimmte Lebensphase im Ausland zu verbringen, nicht nur aus künstlerischen Gründen, sondern auch der Lebenserfahrung wegen. Warum ich die Salzburger Neue-Musik-Szene trotz ihrer unverhältnismäßig hohen Möglichkeiten als engstirnig wahrnehme, liegt etwa auch an jenen Erfahrungen, die ich während meiner Studienzeit in London gesammelt habe. Die Londoner Szene weist annähernd jene ästhetische Vielfalt und Offenheit auf, die ich mir für Österreich wünschen würde.

Hermann Peseckas: Ich glaube, dass man sich im digitalen Zeitalter sehr gut überall in der Welt seinen Ort suchen, von dort aus seine Arbeiten machen und die Kommunikation aufrechterhalten kann, und es ist sicherlich nicht schlecht, sich einmal für eine gewisse Zeit von Salzburg zu verabschieden. Der Markt ist nicht groß genug und hinausgehen ist immer gut. Ich glaube, dass man nicht recht viel mehr Publikum anziehen kann, als das jetzt der Fall ist, aber was ich glaube, ist, dass es in dieser Stadt gute Leute gibt. Die hauen dann auch alle ab, weil sie hier nicht überleben können. Der Export aus Salzburg ist ja zum Beispiel im Filmbereich ein gewaltiger – ich brauche nur daran zu denken, wer aller aus Salzburg weggegangen ist und jetzt in Wien, in Deutschland oder sonst irgendwo ist, ebenso in der Kunst. Wenn man Biografien durchliest, zum Beispiel Geburtsort oder Zeit der Ausbildung oder Jugend und wo diese verbracht wurde, merkt man, wie extrem viele aus Salzburg kommen. Wir betreiben sozusagen Export.
Wenn jemand 20 Jahre in Berlin, New York, Paris oder Amsterdam gelebt hat, dann hat er hier natürlich einen ganz anderen Auftritt, das ist klar. Aber dieses „Kleider machen Leute“-Thema, dass sich jede und jeder irgendwie verkaufen und wichtig machen muss, das gehört auch dazu. Dieses Sich wichtigmachen, um wahrgenommen zu werden, das ist mir relativ unsympathisch. Es gehört aber anscheinend zum Business dazu, dass man sich auch irgendwie mit dieser Pfauenfeder durch die Welt bewegt, ob es passt oder nicht. Jede und jeder muss sich selbst vermarkten, zum Beispiel mit dem Ziel, einmal in den Salzburger Nachrichten aufzutauchen, und wird enttäuscht sein, wenn das nicht gelingt. Gott sei Dank gibt es da wieder das Internet, das macht diese Defizite vielleicht wieder wett.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

Wolfgang Seierl

http://www.stephanmariakarl.com
http://www.peseckas.at