Michel’s Sound of Music 2022 – Die zehn spannendsten Newcomer*innen aus Österreich

Michel Attia gilt als »einer /der/ Kenner des Musik- und Szenegeschehens« (Rainer Krispel in The Gap 057). Er ist Head of Booking & Events bei Radio FM4 und zählte zu den ersten The-Gap-Redakteur*innen überhaupt. Für die letzte Print-Ausgabe in diesem Jahr hat er für uns die seiner Meinung nach erfolgversprechendsten österreichischen Acts 2022 zusammengestellt.

Was ist bei den letztjährigen Top 3 passiert?

Florence Arman (Platz 1), Oska (Platz 2) und Sharktank (Platz 3) sind beim Reeperbahn Festival aufgetreten, Florence Arman und Oska wurden sogar beide für den Anchor – Reeperbahn Festival International Music Award nominiert. Damit waren zwei von sechs nominierten internationalen Acts aus Österreich. Wer hätte das noch vor wenigen Jahren für möglich gehalten?

Zudem waren alle drei Acts bei den Amadeus Austrian Music Awards in den Kategorien Alternative (Oska, Sharktank), FM4 (Florence Arman, Oska) bzw. Songwriter*in (Florence Arman) nominiert; Oska und Sharktank hatten auch einen Auftritt in der – was die Zuseher*innenzahlen betrifft – leider ziemlich gefloppten Award-Show.

Weitere Highlights waren der Einstieg des Debütalbums »Get It Done« von Sharktank auf Platz 10 der Austria Top 40, Oskas starke Streaming-Zuwächse in Holland, Deutschland und im UK sowie Florence Arman mit »Out of the Blue« erstmalig auf Platz 1 der FM4-Charts – und der Gewinn des XA – Export Awards beim Waves Festival, quasi im Vorbeigehen.


#1 Bibiza

#2 Esther Graf

#3 Eli Preiss

#4 Ness

#5 Oskar Haag

#6 Verifiziert

#7 Sophia Blenda

#8 Nenda

#9 Apollo Sissi

#10 Doppelfinger

Die zehn Acts in dieser Liste zählen meiner unbescheidenen Meinung nach aktuell zu den aufregendsten Must-Watch-Talenten aus Österreich. Im Wesentlichen gab es nur ein einziges Kriterium, um als Newcomer*in zu gelten: Es darf noch kein Album erschienen sein. Alles andere ist Gefühlssache.

Aber worum genau geht es bei Michel’s Sound of Music 2022? Angelehnt an die legendäre Shortlist der BBC (»Sound of …«) geht es in erster Linie darum, Potenziale aufzuzeigen – kreative und künstlerische, professionelle und exporttaugliche. Ich wage mich an ein Best-of aus zwei Welten: Musik und Business, die sich seit geraumer Zeit mehr und mehr verschränken. Es geht natürlich um die Musik an sich, aber auch um deren kommerzielle Verwertbarkeit.

Es fällt auch dieses Jahr auf, wie jung die meisten Musiker*innen in dieser Liste sind (alle deutlich unter 30, zwei sogar deutlich unter 20). Wie hoch der Anteil an Musikerinnen mittlerweile ist (sechs von zehn). Wie wichtig die deutsche Sprache im Pop geworden ist (sieben von zehn). Wie der österreichische mit dem deutschen Rap-Underground immer mehr verschmilzt (u. a. Bibiza, Eli Preiss, Boloboys aus Berlin – deren zweiter Hauptwohnsitz gefühlt mittlerweile Wien ist). Und wie selbstverständlich und mühelos die diversen Hip-Hop-Genres gemixt werden – diese New Wave bestimmt auch die diesjährige Bestenliste. Es ist schön zu beobachten, dass neue Musik aus Österreich und das Set-up drumherum international geworden sind.

Diese Top-Ten-Liste soll dazu beitragen und Lust machen reinzuhören – egal ob als Music-Lover oder Professional …


#1 Bibiza

(c) Maromoves

Franz Bibiza alias Bibiza hat es letztes Jahr knapp nicht in die Top Ten geschafft, wurde aber namentlich schon als heißer Kandidat für die Zukunft erwähnt. Mittlerweile bin ich mir sicher: Es wird 2022 keine*n heißere*n Newcomer*in aus Österreich geben. Nach 16 Singles – darunter »Quarantäne Song« und »So bei mir« an der Spitze der FM4-Charts – und drei Mixtapes wird im Dezember ein Indie-Album (»Lebe wie ein Hippie«) erscheinen und schon wenige Monate später soll das erste reguläre Album folgen. Das sagt viel über die schnelle, flexible Arbeitsweise und musikalische Bandbreite des 22-jährigen Wieners aus. Wer glaubt Yung Hurn (inklusive seiner Love Hotel Band) sei vielfältig, sollte sich unbedingt mal näher mit Bibiza auseinandersetzen. Dessen Musik ist nicht nur nachhaltiger, sie ist auch einfach viel lässiger. Er jongliert mit diversen Hip-Hop-Styles und bewegt sich dabei irgendwo zwischen Old School, Trap und Grime, serviert mit einem Indie-Rock-Sahnehäubchen obendrauf. Seine Texte sind authentisch und sein Flow scheinbar mühelos. Vor Kurzem hat er – übrigens bis heute ganz ohne Management – einen fetten Deal bei Columbia Deutschland unterschrieben. Nach Bibu kommt jetzt Bibi.

Bibiza (Facebook)


#2 Esther Graf

(c) Rob Luethje

Wenn schon deutschsprachiger Mainstream-Pop, dann bitte genau so, wie Esther Graf das macht. Die 23-jährige Kärntnerin lebt seit einem Jahr in Berlin, sie modelt, sie moderiert (bei Radio Fritz), aber vor allem singt sie und schreibt Songs. Für sich selbst und zusammen mit namhaften Acts wie Bausa oder Katja Krasavice. Ihr Deutsch-Pop hat einen starken R&B- und Hip-Hop-Vibe und ist durchaus leichte Kost – dennoch hat der Sound einen sehr eigenen Charme. Keine Ahnung, wann ich das letzte Mal so unverschämt naiven Bubblegum-Pop wie »Bum Bum Eis« aus Österreich gehört habe, die 80er-Jahre-Synthies sorgen jedenfalls sofort für gute Laune und sogar das Saxofon am Ende macht Spaß. Sie ist in Deutschland bei RCA unter Vertrag und hat mit Feature-Artists wie Alligatoah (»Mit dir schlafen«) oder Olexesh (»Weck mich auf«) bereits starke Supporter an ihrer Seite. Esther Grafs wohl größter bisheriger Erfolg ist ihr Beitrag zur aktuellen, internationalen Weihnachtskampagne von Apple, einer exklusiven Coverversion des Shakin’-Stevens-Klassikers »Merry Christmas Everyone«. In Österreich wird sie bis jetzt leider kaum wahrgenommen, aber das wird sich nächstes Jahr definitiv ändern.

Esther Graf (Facebook)


#3 Eli Preiss

(c) Viktoria Zoe

Platz 1 und 2 gehen dieses Jahr zwar an Sony Music Deutschland (bzw. Columbia und RCA), aber Universal Music Österreich lässt nicht locker und hat mit der 22-jährigen Elisabeth Preiss alias Eli Preiss viel vor. Und sie hinterlässt tatsächlich ziemlich viel Eindruck im R&B- und Hip-Hop-Game: empowering und emotional, unverstellt und ursympathisch. Anfangs hat sie noch englisch gesungen, doch mit der Zeit hat sich die deutsche Sprache bei ihr durchgesetzt. Der künstlerische Austausch mit diversen Artists aus dem Rap-Underground in Österreich (und immer mehr auch in Deutschland) ist ihr wichtig – was sie verbindet ist nicht die Hood, sondern die Mood. Selbst die Mutter wird supportet – in »Danke Mami« bedankt sie sich »für die Grübchen, meine Locken und den Body / Dank dir bin ich kein Dummy« und zeigt ihren allerersten Fan im dazugehörigen Video stolz her. Die kommenden Singles sind jedenfalls musikalisch noch mal stärker und textlich noch mal ausgefeilter. Eli Preiss springt von Level zu Level zu Level und ich bin schon sehr gespannt, wie das Debütalbum nächstes Jahr einschlagen wird. Denn einschlagen wird es um jeden Preiss.

Eli Preiss (Instagram)


#4 Ness

(c) Fabian Holoubek

Die 16-jährige Niederösterreicherin Vanessa Dulhofer alias Ness hat bei der letzten Staffel von Österreichs größter Castingshow »Starmania« zwar »nur« den dritten Platz gemacht, aber spätestens seit dem überragenden Erfolg der Zweitplatzierten aus der ersten Staffel wissen wir, dass das nicht allzu viel heißen muss. Die Streaming-Plattformen (vor allem Spotify) unterstützten den Publikumsliebling von Anfang an mit starken Editorial-Platzierungen und auch Ö3 hat ihre ersten beiden gefühlvollen Deutsch-Pop-Singles »Deine Richtung« (mittlerweile insgesamt mehr als eine Million Streams) und »Isso« gespielt. Überhaupt hat Ness bereits eine beachtliche Fanbase – nicht nur auf den Socials, sondern auch in der LGBTIQ+-Community. Das haben auch die Majors mitbekommen, die sie entsprechend umwerben. Die neue Single »Schuhe« erscheint demnächst und das Debütalbum ist für den Herbst 2022 anvisiert. Mit ihrer markanten Stimme, ihrem Talent und ihrer klaren Haltung ist Ness – neben dem »Starmania«-Zweitplatzierten Fred Owusu – eindeutig der interessanteste Act aus der diesjährigen TV-Show.

Ness (Facebook)


#5 Oskar Haag

(c) Michelle Rassnitzer

Der Kärntner Oskar Haag ist seit Kurzem 16 Jahre alt und damit der jüngste Act in diesen Top Ten (knapp gefolgt von Ness). Angeblich hat er erst im ersten Corona-Lockdown angefangen Gitarre zu spielen, Lieder zu schreiben und diese dann im Kinderzimmer am Computer aufzunehmen – und auf Soundcloud hochgeladen. Das ist relativ schwer zu glauben, wenn man sich die durchdachten Indie-Songs anhört. Das Talent hat er wohl von seinem Vater Oliver Welter geerbt, seines Zeichens Sänger und Frontmann der Indie-Helden Naked Lunch. Klingt natürlich klischeehaft, ist aber die einzig mögliche Erklärung. Sein erstes Konzert hat der Liedermacher beim Wiener Popfest gegeben und ausnahmslos alle, die ihn da live erlebt haben, wussten sofort: Da sitzt ein junges Popwunder mit Gitarre und Laptop vor ihnen. Label macht er selber, Sony Music Österreich macht den Vertrieb, Management sucht er noch, da stehen aber eh schon einige Schlange. Seine Debütsingle »Stargazing« wird leider erst kurz nach Erscheinen dieser Top Ten veröffentlicht, das Album kommt dann nächstes Jahr. Er wird uns jedenfalls noch lange erhalten bleiben, so viel steht fest.

Oskar Haag (Instagram)


#6 Verifiziert

(c) Kayra Aslan

Die Songs der 24-jährigen Wienerin Verena alias Verifiziert klingen so, wie sie ist: jung, heartbroken und on the run. Ihre deskriptiven Alltagsbeobachtungen sind so einfach wie charmant und lassen direkt an ihrem Leben teilhaben. Sie findet die richtige Balance irgendwo zwischen treibend und melancholisch und unterscheidet sich mit ihrem eigenständigen Cloud-Pop so von vielen anderen in diesem Genre. Die Releases werden über Columbia Deutschland vertrieben und ihr bis dato größter Hit »Rotkäppchen« – eine Kollabo mit Florida Juicy und Longus Mongus – hat vor Kurzem die 1,5 Millionen Streams auf Spotify geknackt. Mit ihrer vorletzten Single »Tschick« war sie zum ersten (aber sicherlich nicht zum letzten) Mal in den FM4-Charts vertreten. Nach ihrer ersten EP »Sonntag 17:00« ist kürzlich das neue Tape »40100« erschienen und für nächstes Jahr ist auch schon ihr Debütalbum geplant. Würde mich nicht wundern, wenn ich mich schon bald ärgere, dass ich Verifiziert nicht noch weiter oben in der Bestenliste platziert habe.

Verifiziert (Instagram)


#7 Sophia Blenda

(c) Michael Würmer

Sophie Löw alias Sophia Blenda hat nicht nur das Artwork für das kommende Debütalbum von Nummer 10 in dieser Liste gemacht, vor allem machte sie in den letzten Jahren bereits als Culk-Frontfrau von sich Reden. Musikalisch präsentiert sich die Multiinstrumentalistin solo etwas reduzierter und düsterer, aber ihre betörende Stimme bleibt natürlich. Ich musste beim Hören des Albums oft an zwei wunderbare Musikerinnen aus Österreich denken: Gustav (Sprache, poetische Texte, Gesellschaftskritik) und Soap & Skin (Klavier, Synthesizer, knarzige Beats). Sehr speziell und spannend was die 26-jährige Niederösterreicherin da macht. So spannend, dass PIAS Deutschland – dessen Chef Stefan Strüver übrigens als Erster kommentiert hat, als ich letztes Jahr die Bestenliste auf Facebook geteilt habe (»Wer noch keinen Deal hat, bitte bei mir lang schicken ;)«) – auf sie aufmerksam wurde und ihr Album nächstes Jahr veröffentlichen wird. Ihre Debütsingle »Wie laut es war« erscheint erst kurz nach Erscheinen dieser Top Ten, es gibt also leider noch nichts zu Hören. Zur zweiten Single »Wo bleib ich« wird es im Frühjahr dann die ersten Konzerte geben. Und Sophia Blenda wird auch auf den Bühnen einen blendenden Eindruck machen.

Sophia Blenda (Instagram)


#8 Nenda

(c) Yuki Gaderer

Mit Nenda Neururer alias Nenda ist der musikalisch vielleicht stärkste Act auf dem achten Platz, obwohl sie eigentlich meine persönliche Number One ist. Die 26-jährige Tirolerin mit Wohnsitz in London ist einfach unpackbar cool: Wie sie die Songs locker aus dem Ärmel schüttelt, die englische Sprache mit der deutschen (bzw. Tirolerisch) kombiniert und gesellschaftspolitische Themen in ihren funky Hip-Hop-Tracks anspricht, fasziniert mich jedes Mal aufs Neue. Und das beeindruckende Video zur Debütsingle »Mixed Feelings« muss man sowieso gesehen haben. Das alles hat durchaus internationales Potenzial. Leider konzentriert sich das Multitalent aktuell auf ihre vielversprechende Schauspielkarriere – nächstes Jahr ist sie beispielsweise in einer Hauptrolle in der Serie »The Rising« auf Sky zu sehen. Das ist natürlich ebenso außergewöhnlich, spielt hier aber keine große Rolle (darum auch der achte Platz). Sie hat ihr eigenes Label, kein Management und ist noch nie live aufgetreten (das wird sich 2022 hoffentlich ändern). Es gibt bisher nur zwei Singles und ich kann es kaum erwarten, dass Anfang nächsten Jahres endlich wieder eine neue Nummer von Nenda erscheint.

Nenda (Instagram)


#9 Apollo Sissi

(c) David Daub

Der 23-jährige Oberösterreicher Christoph alias Apollo Sissi wird nächstes Jahr mit seinem Sound Aufmerksamkeit erregen. Der Leftfield-Rapper arbeitet größtenteils mit dem Produzenten Alex The Flipper (u. a. Mavi Phoenix) zusammen und das hört man auch: eigenständig und edgy, aber momentan vielleicht nicht besonders trendy. Damit tanzt er etwas aus der Reihe – was ich durchaus sympathisch finde. Nach einer flockigen Debütsingle wie »Partner in Crime« einen fast schon dramatischen Song wie »Augen rot« nachzulegen muss man sich mal trauen. Sein Album »Shady & schön« erscheint im Mai nächsten Jahres, bis dahin kommen aber noch fünf Singles (up next: »Maradona«) und das Livedebüt steht für 2022 auch an. Sein Indie-Label Vienna Hollywood wird von A Million vertrieben, der bekannteste Partner im Vertriebs-Crime ist damit kein Geringerer als Apache 207. Wie der Apollo Sissi findet, konnte ich zwar leider nicht herausfinden, die Voraussetzungen für einen guten Start sind dennoch gegeben: Das Management von Bilderbuch kümmert sich mittlerweile um ihn.

Apollo Sissi (Instagram)


#10 Doppelfinger

(c) Alex Gotter

Wenn man Richtung Übersee schaut ist die Art von Folkmusik, die Clemens Bäre alias Doppelfinger macht, aktuell ziemlich angesagt und es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis der Trend auch zu uns überschwappt. Acts wie Phoebe Bridgers, Big Thief und Bon Iver (mit oder ohne Taylor Swift) zählen zu seinen musikalischen Einflüssen. Speziell unter den Musiker*innen wird der 24-jährige Oberösterreicher für sein Songwriting und sein Mundharmonika-Spiel gelobt und Sophie Lindinger (My Ugly Clementine, Leyya) hat sich so sehr in seine Musik verliebt, dass sie das Mixing für sein Album übernehmen wird. Außerdem spielt er in der Liveband von Oska (letztes Jahr Platz 2 in dieser Liste), die wiederum gerne mal die Backing Vocals übernimmt. Bei FM4 und Radio eins ist er bereits auf Rotation, das Debütalbum wird voraussichtlich im zweiten Quartal nächsten Jahres bei Ink Music erscheinen und ich traue mich zu wetten, dass er von allen zehn Acts derjenige ist, der 2022 am öftesten live spielen wird. Auch wenn der Name Doppelfinger vielleicht nicht die ideale Wahl ist, um die Welt zu erobern, seine Musik ist absolut zeitlos und hat internationalen Anspruch.

Doppelfinger (Facebook)