mica-Interview mit Hüseyin Evirgen (CASSEGRAIN)

Hüseyin Evirgen ist ein Teil des Produzenten-Duos CASSEGRAIN, das dieser Tage ihr erstes Album „Tiamat“ auf dem Berliner Label Prologue Music veröffentlicht hat. Gemeinsam mit seinem Kollegen Alex Tsiridis ist Hüseyin ein komplexes Werk gelungen, das seit seiner Veröffentlichung im März schon regen Anklang bei Kritikern und Produzentenkollegen gefunden hat. Tiamat pulsiert, die Strukturen werden mal auf- und umgebrochen, die Basslinien rollen und die Beats ächzen. Techno in all seiner Vielschichtigkeit auf höchstem Niveau. Die musikalische Reise hat für CASSEGRAIN erst jetzt richtig begonnen. Darüber hat sich Peter Balon mit Hüseyin Evirgen ausführlich unterhalten.

Hüseyin, kannst du mir kurz etwas zu deinem musikalischen Werdegang erzählen?

Mein musikalischer Werdegang ist eigentlich total klassisch. Ich habe als kleines Kind mit einer Klavierausbildung angefangen. Wie ich ca 15-16 Jahre alt war, ist es mir klar geworden dass mich das Schreiben von Musik mehr interessiert, als Klavier zu spielen. Mich hat die schräge und dissonante Musik immer mehr interessiert. Deswegen studierte ich von 1995 bis 2005 Komposition an der Universität Istanbul und am Mozarteum Salzburg.

Du hast ja schon einige Stationen hinter dir. Von der Türkei, in der du ja geboren und aufgewachsen bist, nach Salzburg ins Mozarteum, dann Wien bis nach Berlin. Man redet ja oft davon, dass eine Stadt einen gewissen Sound hat, mit welchen Sound würdest du die einzelnen musikalischen Stationen in deinem Leben verbinden? Und wie ist es überhaupt um die Techno/Elektronik-Szene in der Türkei bestellt? Kannst du uns da einen kleinen Einblick geben?

Die Klavierausbildung, die ich in Istanbul hatte, war extrem streng. Deswegen war es für mich immer sehr befreiend, mich mit anderer Musik, außer Klassik, beschäftigen zu können. Bei uns zu Hause war auch meistens keine türkische Musik zu hören. Z.b. als ich klein war, durfte eine von jeden 3-4 Kassetten nicht-klassische Musik sein. Die waren dann meistens die kommerzielleren Beispiele von m Acid-House. Da haben mir vor allem die 303 und alle Drum-Machine Sounds sehr imponiert. In der Pubertät war ich eher auf Rock und Metal, und später – aufgrund meines Studiums – fing ich an, mich für Neue Musik, also Schönberg, Stockhausen, Ligeti, Lachenmann usw. zu interessieren. Istanbul ist auch eher eine Rock-Stadt. Techno war vielleicht stark in den 90ern. Es gab einige Raves, aber ich hatte nie wirklich etwas damit zu tun. Ich meine, ich hatte auch ein Klavier zu Hause und keine Synths, das hat wahrscheinlich auch dazu beigetragen, dass ich mir lieber viele Jazzkonzerte angehört habe, statt in die Clubs zu gehen. Erst viel später, so gegen 2000, bin ich aufgrund meiner Beschäftigung mit der zeitgenössischen Musikwegen auf IDM gestossen. Das war der Link warum ich heute Techno produziere.

Ich bin leider nicht mehr wirklich so oft in Istanbul. Ich versuche von außerhalb zu verfolgen, was wirklich dort passiert. In so einer Stadt ändert sich auch alles ständig, wobei die Leute die dort leben, selber nicht wirklich mitkommen können. Ich habe aber eher das Gefühl, dass die Musikszene früher besser und offener war. Es werden dauernd neue Galerien, Clubs und Konzerträume aufgemacht, aber gleichzeitig verliert die Gesellschaft das Interesse für die Kultur im Allgemeinen. Es gibt viele Gründe dafür. Ich denke die neoliberale/konservative Regierung, Medien und der spät gekommene Konsumwahnsinn sind die stärksten Gründe dafür. Die Menschen finden immer weniger Zugang für das, was ausserhalb der Türkei passiert. In den Clubs hört man öfter die kommerziellere Clubmusik. Ich schätze in den letzten Jahren war das eher Filter House, Psytrance und jetzt wahrscheinlich mehr Techhouse. Für qualitativen Techno gibt es nicht wirklich Platz. Dafür gibt´s einige gute Leute, die experimentellere Sounds produzieren, aber das spielt sich dann eher im kleinen Rahmen ab und so viel ich weiss, leiden die Künstler auch sehr viel darunter.

Welchen Vorteil hat eine kompositorische Vorbildung für einen Techno-Produzenten?

Es gibt natürlich Vor- und Nachteile. Vorteile sind, dass ich mit den Produktionen qualitativ und technisch sehr gut umgehen kann. Das heisst aber nicht dass man gleich super geniale Musik macht. Wie ich im Jahr 2005 von der sogenannten E-Musik erst auf IDM und danach auf Techno umgestiegen bin, habe ich mir gedacht, das wird sehr leicht sein. Aber das war absolut nicht der Fall. Ich habe dann einige Jahre gebraucht, bis ich halbwegs hinter meinen Produktionen stehen konnte. Es war schwierig für mich, bis ich mir ein Gesamtbild machen konnte. Wenn man Kompostion studiert, wird man von eine gewissen Fetischismus sehr stark beeinflusst. Alles muss komplex sein, eine Partitur die einfach ausschaut, gewinnt meistens keinen Preis in einem Kompositionswettbewerb. Ich denke, dass macht dann die neue Musikszene so elitär. Wenn man Jahre lang davon beeinflusst ist, hat man immer wieder das Problem, dass die Musik sehr kopflastig wird. Spontanität und das Gefühl im Bauch geht manchmal verloren. Deswegen bin ich auch sehr froh, dass ich mich mein ganzes Leben immer wieder mit anderen Genres beschäftigt habe.

Cassegrain gibt es seit 2008, wenn ich richtig informiert bin, also nach dem du bei der Red Bull Music Academy in Barcelona mit Alex Tsiridis zusammengetroffen bist. Warum gerade mit ihm? Ich schätze mal, ihr ergänzt euch bei der Arbeit gut?

Ja, wir haben uns gleich am Anfang freundschaftlich sehr gut verstanden. Die RBMA Zeit war auch sehr, sehr lustig. Wir haben dort eine Nummer zusammen produziert (Cotton). Danach haben wir uns ziemlich lange nicht getroffen, sind aber immer im Kontakt geblieben. Cotton ist dann ein Jahr später auf Mikrowave erschienen. Gleich danach haben wir uns in Berlin für eine Woche im Studio getroffen und es hat alles wieder sehr gut funktioniert.

Alex hat auch keine musikalische Ausbildung. Der ist aber extrem begabt und viel genauer im Detail als ich. Deswegen ist das auch ein guter Ausgleich zu den kompositorischen Nachteilen, die ich vorher gemeint habe.

Wie sieht eure Arbeitsteilung aus?

Wir wohnen in verschiedenen Ländern. Ich bin dauernd unterwegs zwischen Wien, Berlin und Salzburg. Er lebt in Thessaloniki. Deswegen arbeiten wir meistens über Internet. Also immer Files hin und her schicken. Wir treffen uns aber auch öfter in Berlin und manchmal in Thessaloniki, wo wir dann gemeinsam prodzieren können. Wir benutzen jede Chance, um zusammen arbeiten zu können. Aber es gibt auch Cassegrain Tracks die nur von mir oder nur von ihm entstanden sind.

Ist die Clubtauglichkeit eines Tracks bei euch ein vorrangiges Thema?

Natürlich ist das ein Thema bei uns. Wir wollen schliesslich auch, dass die DJs unsere Platten in den Clubs spielen. Aber Techno ist eine Art von Musik, bei der man einen sehr klar definierten Rahmen hat, aber zwischen diesen Rahmen kann man unglaublich frei und abstrakt sein. Eine Techno-Nummer zu produzieren,  ist ähnlich einer soziologischen oder psychologischen Studie. Und das macht es für uns sehr interessant. Vor allem: wie bringt man Menschen in einem Club zum Tanzen. Ich finde auch, dass der Begriff „Experimentell“  öfter sehr falsch im Club Kontext benutzt ist. Von einem „experimentellen Track“ wird ja oft gesprochen, wenn ein Track sphärisch ist, oder einfach nur bisschen langsamer, deeper oder rhytmisch kompolex strukturiert ist. Ich finde das ganz gefährlich. Funktionalität und Innovation müssen sich ja nicht unbedingt widersprechen.

Unsere Hauptlabel Prologue ist für so etwas sehr aufgeschlossen. Das Label ist so mutig, dass wir im 2012 auf Coptic EP ein Track mit 9/8 rhytmus (was für ein Dj fast unmischbar ist) auf Vinyl veröffentlichen durften.

Verfolgt ihre eine musikalische Idee, eine Vision? Habt ihr ein Konzept, dass Euer Arbeit zu Grunde liegt?

Für uns ist es wichtig, dass Techno sich weiter entwickelt. Es heisst natürlich nicht gleich dass wir da etwas unbedingt beitragen können, aber wir bemühen uns zumindestens alles in einer unorthodoxen Art zu machen. Die ersten Technokünstler in den 80er Jahren haben das auch so gemeint. Nachdem Minimal und Techhouse Mainstream wurden, wollten alle Techno so „old school“ wie möglich haben, was für mich ein bisschen der Techno-Seele widerspricht.

Würdet ihr euch eher als Sounddesigner oder als klassische Produzenten bezeichnen?

Natürlich steht für uns Sounddesign ziemlich im Mittelpunkt. Wir sind aber auch nicht die Leute, die zu Hause die ganze Zeit Patches auf MAX/MSP programmieren. Ich glaube, Sounddesign ist für uns eher ein Mittel, womit wir in unserer Musik eine gewisse Stimmung und Authentizität zu schaffen versuchen.

Spielst du persönlich lieber live oder ein DJ-Set?

Beides sehr gerne. Ich spiele nur nicht so gerne mit dem Rechner auf der Bühne. Ich finde manchmal ist ein Laptopbildschirm wie eine Wand zwischen mir und die Zuhörer.

Bist du auch derzeit noch in andere Projekte, abseits von Cassegrain, involviert? Du hast ja in Salzburg Theaterstücke produziert und bist beim Taschenopernfestival involviert?

Ja, die ganze Zeit. Ich mache oft die Musik für Toihaus Theater in Salzburg. Ich habe dort auch in letzten 3 Jahren zwei mal bei meinen eigenen Tanzstücken (Unter dem Sonnenschein und Heliaden) selbst die Regie gemacht. Taschenopernfestival ist ein Festival für zeitgenössisches Musiktheater, dass wir (mit Thierry Bruehl und Cay Bubendorfer) jeden zweiten Sommer in der Arge Kultur in Salzburg veranstalten. Heuer ist es das 5. Mal und ich bin dieses mal nicht der einzige Komponist ,der Techno macht, Cio D´Or schreibt auch ein Stück.

Sonst arbeite ich öfter mit ChoreografInnen und bildenden KünstlerInnen zusammen. Ich komponiere auch gelegentlich neue Musik, falls ich ich einen Kompositionsauftrag bekomme.

Wenn ich nochmal kurz auf die so oft strapazierte Städtefrage zurückkommen darf. Ab wann ist deiner Meinung nach eine Stadt eine Clubstadt?

Das ist für mich wirklich schwer zu beantworten. Ich gehe selber nicht sehr oft in die Clubs. Also es kommt bei mir immer aufs Line-Up an. In Berlin gibt´s nur ein paar Clubs, wo mich die Musik wirklich interessiert. Aber nach Berlin kommen jedes Wochenende Tausende von Partytouristen und kümmern sich wahrscheinlich nicht wirklich um die Musik. Aber man hat trotzdem einen riesige Auswahl.  Man kann jeden Tag wohin gehen und etwas Interessantes finden.

In Wien hat sich in den letzten Jahren die Clublandschaft sehr geändert. Es gibt einige gute neue Clubs, aber ich hab das Gefühl, dass man fast überall das Gleiche hört. Das Alternative in Wien fehlt mir ein wenig. Techno ist sowieso kaum mehr zu hören, aber es geht ja nicht nur um Techno. Zum Beispiel solche Line ups wie beim Donaufestival sollte man öfter in den Wiener Clubs zu sehen bekommen.

Mit welchem Produzenten würdet ihr gerne einmal zusammenarbeiten? Gäbe es da Wunschkandidaten?  

Oh, da gibt´s viele. Aber Rrose und Donato Dozzy wären die ersten Namen, die mir jetzt spontan einfallen.

Was hältst du davon, Klassik und Techno zusammenzuführen, Stichwort Electronic Opera?

Das mache ich eigentlich die ganze Zeit. Meine letzten 3 Stücke bei Taschenopernfestival hatten klare technoide Strukturen. Aber alles mit akustischen Instrumenten gespielt. Die Tanzstücke, die ich am Toihaus gemacht habe, gingen auch in die gleiche Richtung aber  doch mit reiner elektronischen Musik.

TIAMAT findet ja bis jetzt sehr großen Anklang quer durch die Kritikerwelt. Schon wird von den Techno-Newcomern 2013 gesprochen. Wie geht ihr damit um? Eine Belastung oder doch eine Genugtuung für die Arbeit der letzten Jahre? Bemerkt ihr auch schon die positiven Nebeneffekte, wie zB Anstieg bei den Bookinganfragen?

Wir bekommen jeden Tag unglaublich tolles Feedback. Wir freuen uns auch extrem darauf und lesen alles sehr genau. Jedoch sind die Bookinganfragen leider immer noch zu wenig.

Ich möchte jetzt noch kurz auf die unvermeidlichen Schubladisierungen zu sprechen kommen. Deep, Trippy, Dark, Dubbig, Experimentell. So oder so ähnlich wird euer musikalischer Output etikettiert. Zufrieden damit?

Nein, natürlich nicht. Wir finden die Schubladisierungen grundsätzlich sehr blöd. Ich denke, aufgrund der einzelnen Elemente, die man in unserer Musik hören kann sind das einfach die psychologischen Assoziationen. Z.B. wenn man in den Produktionen ein bisschen grössere Hallräume benutzt, wird man gleich als „deep“ oder „düster“ wahrgenommen. Wir schauen aber trotzdem, dass unsere Live- und Dj Sets viel tanzbarer als die Produktionen sind.

Warum eigentlich TIAMAT? Sollte der Titel die Hörer schon im Vorhinein auf die „düstere“ Fährte locken, ihnen eine Vorstellung davon geben, was auf Sie zukommt?

Ich glaube die Titel, die wir für unsere Tracks aussuchen, sind als erstes ein klanglicher Teil von den Tracks selber. Natürlich haben die auch inhaltlich viel mit unseren persönlichen Interessen zu tun. Ich interessiere mich sehr viel für Altertum, Mythologie und Science Fiction (die auch bei meinen Tanzstücken das Hauptthemen waren) und der Alex ist eher auf der poetische und philosophische Seite. Wir mögen beide einfach archaisch klingende Wörter sehr.

Amelie Ravalec hat im vergangenem Jahr eine Doku „20 Years Of Underground Techno, Paris/Berlin“ gemacht. Als sogenannte Vertreter einer aktuellen Underground-Techno Bewegung – wenn man das überhaupt so sagen kann – kommen dort Leute wie Regis, Function, Lucy, Milton Bradley, das Ancient Methods Kollektiv bis hin Henning Baer zu Wort. Meine Fragen dazu: Gehst du damit konform? Ist diese Entwicklung in Berlin zu spüren?

Ja, auf jeden Fall ist diese Entwicklung zu spüren. Ich finde es auch ganz toll. Ich habe mir selber die Doku angeschaut und ich muss sagen, es gibt da noch viel mehr Leute als in der Doku. Immer mehr Leute von überall ziehen nach Berlin, auch viele britische ProduzentInnen sind da. Ich hab auch das Gefühl, dass die meisten KünstlerInnen miteinander ziemlich lieb umgehen. Eine destruktive Konkurrenz spüre ich gar nicht.

Und zu guter Letzt: gibt es zwischen den in Berlin ansässigen Produzenten, derer es ja einige gibt, regen (musikalischen) Austausch? Kann ich mir da so vorstellen, dass man vormittags Marcel Dettmann auf einen Kaffee trifft, nachmittags mit Henning Baer neue Platten anhört und Abends mit Norman Nodge ins Berghain geht?

Also ich kenne den Marcel Dettmann nicht persönlich und ich schätze, dass er zu sehr beschäftigt ist, als sich mit mir auf einen Kaffee zu treffen.:) Aber es stimmt natürlich, dass man sehr oft die Leute trifft und kennenlernt. Ich würde sagen, das passiert auch dann am Meisten im Berghain.

 

http://prologuemusic.bandcamp.com/album/prg030-cassegrain-tiamat
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