mica-Interview mit Heinrich von Kalnein und Horst Michael Schaffer (Jazz Big Band Graz)

Die beiden Leiter der Jazz Big Band Graz (JBBG), Heinrich von Kalnein und Horst Michael Schaffer, über die Geschichte des Ensembles, künstlerische Kompromisse und über den Begriff Jazz. Das Interview führte Otmar Klammer.

Im Herbst 2013 waren es 15 Jahre, dass die JBBG in Graz gegründet wurde. Ist die Luft noch drinnen?

Heinrich von Kalnein: Ich finde schon. Wir haben einen langen Weg hinter uns. Für uns gibt es dabei zwei Zeitrechnungen. Es gibt – mit allem Respekt – eine Zeitrechnung vor uns, als wir noch in anderer Funktion in der Band waren und die Band aufgebaut wurde. Und eine Zeitrechnung danach, als Horst und ich begannen, für das künstlerische Programm der Band verantwortlich zu zeichnen, was jetzt gute zehn Jahre her ist. Ich finde, dass wir es in den zehn Jahren geschafft haben, einen unverwechselbaren Sound zu schaffen, was ja von Anfang an unser Ziel war. Wir sind nach wie vor neugierig und glauben, dass wir nach wie vor noch nicht den Plafond erreicht haben. Es gibt eine ganze Reihe an  Ideen, wo´s musikalisch hingehen kann. Wir haben aber auch festgestellt, dass bei unserer Arbeitsweise und unserer Auffassung von orchestralem Jazz die Vorlaufzeiten dafür durchaus längere sind. Das haben wir auch bei unseren letzten beiden Produktionen gesehen, die doch jeweils ein paar Jahre in Anspruch genommen haben. Ich sehe also durchaus noch Entwicklungspotenzial. Und deshalb machen wir das auch noch.

Es ist ja nicht gerade gewöhnlich, dass eine Band von zwei Personen geleitet wird. Seid Ihr inhaltlich so kongruent oder sind die Kompetenzen so strikt geteilt, dass das nun schon zehn Jahre als Duo so gut funktioniert?


Horst Michael Schaffer:
Die Basis ist sicher die, dass wir musikalisch in die gleiche Richtung schauen. Wir ticken sehr ähnlich. Wir können sehr selbständig arbeiten, aber auch sehr viel gemeinsam machen, ohne persönliche Eitelkeiten ins Spiel zu bringen. Das ist schon einmal ein wichtiges Fundament, abgesehen davon, dass wir uns gegenseitig gut verstehen, schätzen und mögen. Manches spielt sich über die Jahre aber auch ganz einfach ein. Wir haben uns damals nicht überlegt, wer was macht, sondern wir haben oft hin und her getauscht. Es hat sich über die Jahre nun so eingespielt, dass ich mich eher um die Zahlen kümmere und wir wirtschaftlich klar kommen. Das ist eh schwer genug in Zeiten wie diesen. Das heißt aber nicht, dass dahingehend nicht auch Ideen von Heinrich kommen.
Jeder weiß im Prinzip alles, und jeder macht seine Vorschläge.
Heinrich macht etwa sehr viel im Bereich der Tournee-Organisation, den Bürokram teilen wir uns mehr oder weniger, und in musikalischen Belangen gibt es oft eigene Sitzungen, wo auch Ideen der Bandmitglieder berücksichtigt werden. Und da wir zu zweit sind, ist auch bei einem Ausfall eines der beiden immer wer da, der als Ansprechpartner der JBBG zur Verfügung steht. Und das funktioniert eigentlich sehr gut.

Heinrich von Kalnein: Am Anfang haben wir auch so etwas wie Büroorganisation gelernt und haben immer jede auch noch so kleine Entscheidung gemeinsam abgesegnet. Über die Jahre haben wir dann einfach praktikablere Zuteilungen gefunden.

Wenn man zu zweit ist, muss man aber auch Kompromisse machen. Kann man sich über Kompromisse noch künstlerisch profilieren?

Heinrich von Kalnein:
Das ist eine gute Frage und ein guter Punkt, mit dem wir uns viel beschäftigt haben. Wie in jeder künstlerischen Zusammenarbeit gab´s und gibt´s auch bei uns Momente, wo wir rangeln mussten, rangeln um Details eigentlich. Ich stimme mit Horst vollkommen überein, dass unsere generelle Ausrichtung, nämlich das, was Musik tun kann, was wir glauben, mit Musik erreichen zu können, dass wir dort komplett d´accord gehen. Sonst wären wir auch nicht zusammengekommen. Trotzdem gibt es in unserer musikalischen Biografie sehr unterschiedliche Aspekte. Wir haben aber wie in einer Paarbeziehung nie den Respekt voreinander verloren, wir haben sozusagen immer geschaut, wo die Schnittmenge ist. Ich glaube, dass es für beide Seiten dabei immer wieder einmal Momente gab, wo es durchaus schmerzhaft war. Und noch ist. Wo man sich fragt, ob man dass jetzt wirklich so machen muss, weil eigentlich würde ich es gern anders machen. Ich finde, dass bei unseren beiden letzten Produktionen – und da haben wir auch schon gemeinsam zurückgeschaut – das Gesamtergebnis trotzdem ein positives war. Es hat der Sache letztlich gut getan, obwohl es nicht leicht war und durchaus auch Energie kostete. Wir haben abseits davon beide ja auch andere Produktionen bzw. Formate. Ich etwa habe ein Trio, was sich ganz bewusst absetzt von der Größe her und wofür ich ganz alleine verantwortlich bin. Und so bin ich im Nachhinein auch zufrieden und sage, dass es sich doch gelohnt hat auf der anderen Seite. Und mit Horst scheint das eine gut funktionierende Plattform zu sein, die zu etwas führt.

Wenn man sich die gesamte Geschichte der JBBG anschaut, gibt es stilistisch einen großen Bruch zwischen der Zeit vor und der Zeit mit Euch als Führungsgespann. Irgendwo stand in einer Zeitung sogar einmal ziemlich radikal formuliert: „Verabschiebung vom Big Band-Mief“. Ist das erste Drittel der JBBG-Geschichte daher vielleicht eine Art von Last?

Horst Michael Schaffer: Ganz im Gegenteil. Als Last empfinde ich eher, dass es heißt JAZZ Big Band Graz. Wir waren ja beide schon als Gründungsmitglieder dabei, als wir von Sigi Feigl eingeladen wurden, bei der JBBG mitzumachen. Und schon damals dachte ich mir bei dem Namen, das ist nicht gerade meins. Obwohl ich natürlich nichts gegen die einzelnen Teile des Namens habe und gegen Jazz schon überhaupt nicht. Nur die Kombination ist marketingtechnisch jetzt schwierig. Damals hat es noch eher das getroffen, was es war. Wenn man das aber in einer Zeit sieht, wo Kulturen und Stile verschmelzen und man andere Einflüsse einbinden will, da haben wir eben festgestellt, dass es marketingtechnisch recht schwierig ist, das umzusetzen. Und so gesehen ist das ein  Klotz am Bein.

Warum habt Ihr dann mit Eurer Übernahme nicht auch den Namen verändert?

Horst Michael Schaffer: Das Problem dabei war, dass das zeitlich ein wenig auseinanderfiel. Die erste Produktion nach der Ära Feigl – A Life Affair, 2003 – war meiner Meinung nach gar nicht so sehr radikal neu im Sound, weil das sind Big Band-Stücke, sehr konventionelle sogar, wenn man so will. Wir haben dem Ganzen einfach eine übergeordnete Form und ein Gesicht gegeben, das wir in Plätzen des Lebens eingeteilt und mit Sounds und Sample-Ästhetik hinterlegt haben. Das war ein wenig eine programmatische Produktion. Aber die Musik an sich war nicht so radikal bei dieser ersten Produktion. Und da hätte für mich der Name JBBG auch noch funktioniert.
Als wir dann die Platte Joys & Desires mit John Hollenbeck und Theo Bleckmann gemacht haben, war es schon nicht mehr ganz so, weil da sehr viele Einflüsse drinnen waren wie etwa ein bisschen Elektronik, sehr viel Minimal Music oder Unisono aus der klassischen Komposition. Und dann gingen wir mit Electric Poetry und jetzt Urban Folktales jeweils noch einen Schritt weiter, und dann heißt das Ding immer noch Jazz Big Band Graz. Da stelle ich mir rückblickend die Frage, wenn man da vielleicht doch etwas anders reagiert hätte und eben einen anderen Namen genommen hätte, wäre es heute vielleicht leichter.

Könnte man den Namensteil Jazz aber nicht auch als eine Grundeinstellung geltend machen? Heinrich hat ja einmal gesagt, dass er Jazz eher als eine Lebensanschauung für eine generelle musikalische Einstellung und Offenheit, die aus dem Jazz kommt, betrachte.

Schaffer: Das unterschreibe ich vollkommen und hängt auch damit zusammen, dass wir unser Fähnchen nicht immer nach dem Wind richten, sondern einfach auf Kontinuität bauen. Und das war schließlich auch der Grund, warum wir das dann mit der Namensänderung nicht gemacht haben. Aber Jazz ist für mich grundsätzlich eine offene Haltung gegenüber allem Möglichen. Das ist irgendwie auch so eine Lebenseinstellung. Wenn ich aber eine Band jetzt als Jazz BBG definiere, dann muss es unweigerlich Schranken geben, die wir, die wir involviert sind, gar nicht so verstehen. Wenn wir jetzt aber unseren Markt expandieren wollen und kommen dabei zum Beispiel nach Bonn und spielen dort – ich kann mich erinnern – als Big Band-Konzert angekündigt vor einem Publikum mit 70 plus unser Programm Electric Poetry, dann wird´s heikel. Die Leute sind zwar alle geblieben und es war alles super, aber es ist halt schwierig, wenn man einen Namen hat, der einengt. Wenn man schon eine freigeistige Haltung hat, sollte es sich auch im Namen widerspiegeln.

Heinrich von Kalnein: Ich möchte noch ergänzen, dass es einen Grund gab, warum wir den Namen nicht gewechselt haben. Wir haben uns im Jahr 2003 oder spätestens 2004 intensiv mit dem Thema beschäftigt und haben dann, nicht zuletzt auch wegen einiger Gespräche mit Marketingexperten und ähnlichen, davon Abstand genommen. Zum einen, weil wir mittlerweile wussten, es gibt eine Fan-Base, die genau auf den Namen reagiert. Und zum anderen, weil diese Menschen sagen, ein Brand, also eine Marke, ist unabhängig von der tatsächlichen Qualität des Namens. Und mittlerweile ist es so, dass wir witzigerweise vor allem in Deutschland, mehr als hier im Heimatland, ein unglaubliches Standing haben und der Name für die Leute kein Problem ist, weil sie uns nur mit jenen Produktionen wahrnehmen, mit denen wir auf die internationale Bühne gestiegen sind. Und trotzdem unterschreibe ich auch das, was Horst gerade gesagt hat. Nach wie vor denke ich, wenn ich damals können hätte, hätte ich auch einen anderen Namen gesucht.

Horst Michael Schaffer: Ich für meinen Teil erhebe dabei auch gar nicht den Anspruch, dass es neu oder hip sein muss, sondern dass einfach meine Einflüsse und Gedanken, die wir in der Musik packen, zum Ausdruck kommen. Es soll natürlich nicht ganz oldtime sein. Ich steh´ genauso auf Sinatra und auf alle möglichen anderen Dinge. Wenn mir einmal ein guter Gedanke kommt, wo man alte Stile mischt oder einbaut – warum nicht?

Steht sich heute der Begriff Jazz im Allgemeinen manchmal nicht für zu vieles selbst im Weg?

Heinrich von Kalnein: Es hat sich ja seinerzeit schon Duke Ellington davon distanziert und gesagt: „Ich möchte meine Musik als meine Musik bezeichnen und nicht als Jazz“. Das Problem des Labels scheint aber immer schon ein Problem gewesen zu sein. Ich persönlich bin mittlerweile der Meinung, dass man die Musik eigentlich eher nach den Personalstilen der Musiker beurteilen sollte als nach einer chronologisch geordneten Stilisierung. Ich glaube, dass das eher ein Nebenprodukt der Jazzkritik und Jazzwissenschaft ist, um irgendwie ein Ordnungsprinzip zu schaffen. Es wird aber der Sache nie ganz gerecht. Jazz ist eben eine sehr individuelle Musik, und natürlich gibt es dabei künstlerische Strömungen und auch Moden, und Künstler sind sehr oft beeinflusst von Leitfiguren in bestimmten Epochen. Trotzdem werden wir dabei der Musik nicht ganz gerecht.
Und – jetzt komm ich da noch einmal zurück – ist es überhaupt der einzige Grund, warum wir unseren Namen noch so akzeptieren können, indem wir sagen: Jazz ist eine innere Haltung, ein Spielen mit Musik, ein Improvisieren mit musikalischen Elementen. Und wenn wir das im 21. Jahrhundert glaubwürdig machen wollen, müssen wir auch mit der Musik arbeiten, die um uns herum passiert.

Beim ersten Interview mit einem Vertreter der JBBG im Herbst 98, also unmittelbar nach der Gründung, hat mir ihr damaliger Leiter Sigi Feigl auf die Frage, welche Band er so als Vorbild hat oder in welche Klangrichtung es gehen soll, geantwortet: Wenn es so in Richtung Thad Jones/Mel Lewis Orchestra geht, wäre ich schon sehr froh. Wenn ich nun an Euch dieselbe Frage stelle, welche Maßstäbe kämen als Antwort?

Heinrich von Kalnein: Ich glaube, die Antwort würde ich verweigern. Ich kann nicht guten Gewissens eine seriöse Antwort geben, weil ich nicht mehr so denke. Es gibt Produktionen, die mich sehr beeindrucken. So finde ich etwa die Arbeit von John Hollenbeck sehr wegweisend – ich weiß jetzt nicht, wie Horst das sieht –  , vor allem die fantastische neue Produktion, die zeigt, dass er einer der kreativsten Köpfe ist, der unter anderem auch die Traditionen der Technik des Schreibens für Big Bands einfach ignoriert und von einer anderen Seite herangeht. Er hat da zum Beispiel den Freddy Mercury-Song Bicycle Race genommen und hat ein Bicycle-Solo gemacht, ein Solo mit seinem Fahrrad auf einer Platte. Solche Ideen muss man einmal haben. Für mich ist aber auch Mike Westbrook so ein ähnlicher Kopf, und für mich ist natürlich Gil Evans so ein Kopf. Es gibt einige gewisse Köpfe, wo ich hinhöre, was die tun, aber soundmäßig als Vorbild habe ich keinen mehr. Das wäre auch schlimm für mich. Ich bin aber natürlich begeistert von manchen Sachen und auch beeinflusst davon.

Horst Michael Schaffer: Ich höre mir so viel wie möglich an, und es gibt drei- bis viermal im Jahr ein echtes Aha-Erlebnis, wo ich davor sitze und mir sage, der bombt mich jetzt komplett weg. Das passiert in irgendeiner Latin-Musik genauso wie in der elektronischen Musik. Das heißt nicht, dass es jetzt passiert sein muss, sondern ich rede vom Moment meiner Entdeckung. Und das setzt dann auch meine Gehirnhebel in Bewegung. Das ist glaube ich bei jedem Komponisten so: ein Sammelsurium von bereits Gehörtem und die Verbindung untereinander. Das muss nicht unbedingt neu sein – ich glaube auch nicht, dass man neue Musik heute so richtig erfinden kann –, trotzdem gelingt es einigen Leuten immer wieder, etwas so frisch zu präsentieren, wo ich wirklich nur den Hut davor ziehen kann. Das ist auch eher der bodenständige Ansatz, sich nicht auf die Suche nach etwas anderen zu begeben, sondern das, was einen anspringt und eine innere Assoziationskette in Gang setzt – das ist das Wichtige, und das bringt mich auch weiter.

Heinrich von Kalnein: Ich möchte dazu ergänzen: Was ich sehr wohl im Kopf habe, ist das künstlerische Profile von einigen Band-Mitgliedern. Zum Beispiel hat Gregor Hilbe eine fantastische Produktion – unter anderem mit Uli Rennert – vor zwei Jahren gemacht. Diese heißt Boww, und da sind einige musikalische Elemente drin, die ich wirklich wegweisend finde. Und Gregor haben wir auch für unsere beiden letzten Produktionen hineingenommen – deshalb ist er auch als Co-Produzent genannt – , denn ein Großteil des rhythmischen Klangbildes basiert auch auf seiner jahrzehntelangen Entwicklungsarbeit. Und nicht zuletzt auch die Arbeit mit Uli Rennert. Wir hatten ihn schon damals unter Sigi Feigl ab und zu einmal hineingenommen, und nachdem wir die Band dann übernommen hatten, war er sehr bald auch in der Band, aber nicht deswegen, weil er ein langjähriger Partner ist – wir kennen uns ja schon ewig lange, gehen aber zum Teil in ganz andere Richtungen -, sondern weil Uli einen ganz eigenen Sound am Instrument und ein eigenes Profil hat und damit die Band auch mitprägt. Sein Sound definiert den der Band sehr maßgeblich. Das war aber keine Strategie, sondern weil halt manchmal einfach das eine zum anderen führt. Und wenn mich heute jemand fragte, wie ich mir den Klang der Band irgendwann vorstelle, dann sind das so Schlüsselelemente, die die Band so machen, wie sie ist.

Wenn diese Band nun so viele Stilelemente, Sounds, Elektronik sowie Afro und Minimalmusic und auch Pop verbindet, führt das nicht auch zu einer harmonischen Ausdünnung?

Horst Michael Schaffer:
Auch das ist eigentlich nicht geplant. Meine Affinität zu afrikanischer Musik etwa ist riesengroß – da gibt´s für mich sehr viele Schallplatten – und ich höre tagtäglich einfach sehr viele afrikanische Patterns in meinem Kopf. Ob jetzt in dieser Musik, der Popmusik, ob jetzt ungerade oder nicht, es ist wie es ist. Und manchmal singe ich eine Melodie und dann kommt mir unten dieser afrikanische Groove und dann steht ein Großteil des Stückes schon da. Das passiert sozusagen aus meinem Leben heraus. Das Gleiche passiert interessanterweise aber auch bei Minimalmusic. Das hängt halt einfach alles damit zusammen, dass wenn man viel Musik hört und rezipiert und diese Aha-Erlebnisse hat, bleibt halt einfach viel gespeichert. Und dann kommt ein bunter Strauß heraus, der aber organisch gewachsen ist, wo alles mit allem zu tun hat. Wenn ich jetzt aber eine richtig afrikanische Platte machen müsste, tät ich mir echt schwer dabei.

Heinrich von Kalnein: Das heißt aber auch, dass konventionelle Big Band-Techniken wie Tutti-Chords, klassische Big Band-Harmonisierungen nicht mehr richtig funktionieren.

Horst Michael Schaffer:
Ich würde aber selbst das per se nicht ausschließen, weil ja zum Beispiel sogar einmal ein Tutti-Chorus in einer charmanten Art und Weise daherkommen kann. Wenn man das akkordisch betrachtet, ist das sehr oft so, dass die Akkorde sehr kompliziert sind, komplizierter – in meinem Sinne von technischem Anspruch – als zum Beispiel Jazz-Akkorde und die der Funktionsharmonik.

Aber wenn ich mich ganz konzentriert in einem musikalischen Bereich bewege, im Jazz Big Band-Sound, und kaum andere Elemente einfließen lasse, dann kann die Musik doch nur von der harmonischen Verdichtung profitieren.

Horst Michael Schaffer: Ja, die harmonische Verdichtung und vor allem die Art und Weise der Technik, mit der es geschrieben ist, also die Arrangiertechnik sozusagen. Und in der Arrangiertechnik gibt es gewissermaßen zwei verschiedene Wege. Entweder nehme ich eine Arrangiertechnik her, die heutzutage noch von vielen Arrangeuren verwendet wird, und schreibe dann das Big Band-Stück fertig. Das wird aber immer konventionell klingen, weil diese Technik gibt es schon siebzig Jahre im Jazz. Wenn ich jetzt in mich hineinhöre und ein bisschen neugierig bin, und wenn ich jetzt eine zweite Stimme dazu finden will, was aber unmöglich scheint – was mach ich jetzt? Dann bring ich mich zwar selber in die Bredouille, aber das bringt wieder etwas anderes hervor. Ich könnte mich einfach hinsetzen und irgendeine Arrangiertechnik nehmen, die ich dann in zwei Stunden abgehandelt habe. Aber das klingt dann eben auch so. Wenn man aber in sich hineinhört und einen Sound im Kopf hat, dann ist es völlig irrelevant, wie harmonisch dicht etwas wird. Aber ich gebe Dir recht, es kommt auch nur das heraus, was herauskommen soll, was man denkt. Manchmal ertappe ich mich dabei, dass die Akkorde von einem Popsong herkommen und manchmal von ganz woanders. Oder vom Jazz. Mit dieser linearen Denkweise komme ich persönlich also viel leichter voran und ist es viel spannender zu komponieren.

Heinrich von Kalnein: Wir führen im Verlauf des Kompositionsprozesses auch oft Diskurse, wobei es natürlich auch um die harmonische Dichte geht. Da gibt es schon Unterschiede. Ich finde, dass der Ursprung der melodischen Ideen von Horst oft im Volksmusikalischen liegen, also sehr gesangliche Melodien, die eine erstaunliche Kraft entwickeln. Wir haben auch oft darum gerungen, wie viel Dichte etwas haben soll.
Wir haben auf Tourneen auch festgestellt, dass wenn wir linear zu einfach unterwegs sind, dann haben die dreizehn, vierzehn Bläser zum Teil so ein gewisses Frustrationserlebnis. Man muss ihnen also – so im alten Big Band-Sinne, wo jeder seine Stimme spielt – auch ein paar erhebende Gefühle geben. Das war für uns auch ein ganz interessanter Lernprozess.

Horst Michael Schaffer: Auch ich habe dabei gelernt, dass man die Musiker sozusagen auch beschäftigen muss, aber ich bin jetzt rückblickend der Meinung, davon wird die Musik nicht besser. Dass man sich als Bandleader darum kümmern muss, dass die Musiker auch ihren Spaß haben, ist schon richtig, aber das macht die Musik im kompositorischen Sinne nicht besser. Man muss aber auch jeden Musiker einzelnen bei der Hand nehmen und ihm zeigen, dass auch in der Einfachheit eine Kraft liegen kann. Meine Musik ist eher rhythmisch schwer, weil sie sehr polyrhythmisch unterwegs ist. Ich bin ein melodiöser Typ, und meine Sichtweise ist eine starke Melodie.

In den Promotion-Infos ist neben den allgemeinen musikalischen Einflüssen auch immer wieder von Euren jeweils eigenen Wurzeln die Rede. Heinrich, wo liegen denn Deine Wurzeln bzw. mit welcher Musik wurdest Du sozialisiert?

Heinrich von Kalnein: Also ich bin ja aus der Generation der europäischen Baby-Boomer, ich bin Jahrgang 1960,  und ich bin aufgewachsen mit der Popmusik meiner Zeit, also jener der späten Sechziger und frühen Siebziger. Ich habe nicht umsonst im Jahr 2001 für mich eine Standard-Produktion gemacht, nämlich Lennon/McCartney, über das also, was mich einst tatsächlich begleitet hat. Das ist eine sehr gesangliche Musik, und wenn man die Welt damals unterteilt hat in Rolling Stones und Beatles, muss ich sagen, ich bin nach wie vor auf der Beatles-Seite. Auch unter anderem deshalb, weil George Martin ein fantastischer Produzent war. Im Laufe meiner professionellen musikalischen Zeit habe ich mich dann – auch als Kind dieser Zeit – sehr mit dem Thema Weltmusik zu beschäftigen begonnen, weil ich merkte, dass das eine Wurzel meines jazzmusikalischen Improvisierens ist und weil ich gesehen habe, dass es da für mich auch noch Neuland gibt und auch Platz für mich da ist. Ich war auch deshalb zweimal in Indien, was mich nachhaltig sehr geprägt hat. Deshalb finde ich, dass meine eigene Musik so eine Mischung aus globaler Populärfolklore ist. Aber auch die klassischen Komponisten des frühen 20. Jahrhunderts spielen für mich daneben eine große Rolle, vor allem Paul Hindemith ist dabei für mich eine zentrale Figur. Und dann gibt es da noch ein bisschen die elektronische Musik, die vor allem mit der Entwicklung der MIDI-Technologie in den frühen Achtzigern zusammenhängt. Und Uli Rennert und ich zählten auch zu den ersten, die sich damit beschäftigt hatten.

Und wie sieht das bei Dir aus, Horst?

Horst Michael Schaffer: Ich habe immer wieder darüber nachgedacht, warum Afrika bei mir so ein großes Thema ist, obwohl ich noch gar nicht so oft dort war. Ich habe ja auch einmal eine Zeitlang in England gewohnt, wo ich mir mit einem sehr guten indischen Perkussionisten eine Wohnung geteilt habe. Und wir haben natürlich jeden Tag gejammt. Die indische Musik hat mich vergleichsweise aber nur zum Teil angesprochen, und auch nur wegen ihm. Als ich aber einmal eine seiner indischen Trommeln probierte, sagte er: „You´re drumming like an African“. Ich hab das zwar nicht verstanden, aber der Satz ist immer noch sehr tief in mir drinnen, weil mich auch damals schon afrikanische Musik sehr interessiert hat. Das versprüht für mich einfach Natürlichkeit. Aber ich bin kein Afrikaner, ich bin in der Obersteiermark mit Blasmusik aufgewachsen – eigentlich wollte ich Schlagzeuger werden -, wo ich dann bei der Trompete hängen geblieben bin. Für mich war dabei aber immer das Auswendigspielen sehr wichtig – das „Brateln“, wie man am Land sagt – . Und in mir wächst auch immer mehr der Drang zu einem eigenen Album mit Countryblues. Schon als kleiner Bub habe ich zu Hause die ganzen Hits mitgesungen, die mein Vater und Großvater hörten, Dolly Parton und so. Das ist aber auch ein Einfluss, den ich in meiner Studienzeit zwar nicht gerade verleugnet, aber vielleicht verdrängt habe. Das ist halt so, wenn man Jazz studiert und spielt und sich sehr für freie Musik interessiert, da kommt Country dann nicht gerade gut. Jetzt ist mir das natürlich vollkommen egal und ich hoffe, dass in dieser Richtung auch einmal etwas passieren wird, weil dieser Stil, diese Einfachheit und Unmittelbarkeit mich sehr reizen. Also bin ich mit Afrika, Country und der europäischen Musik sozialisiert.

Noch eine sehr spezielle Frage zum Abschluss. Jetzt (März 2013, Anmerkg.) ist es ungefähr ein Jahr her, dass sich das Vienna Art Orchestra aufgelöst hat. Könnte die JBBG irgendwann den Platz des VAO für Österreich nach außen hin einnehmen, weil auch das VAO sehr projektorientiert gearbeitet hat? Und vor allem auch, weil es keine konventionelle Jazz Big Band war. Kann man diesen Platz also irgendwie beanspruchen?

Heinrich von Kalnein: Also uneingeschränkt: ja! Dazu muss ich natürlich sagen, dass ich zum VAO und zu Matthias Rüegg natürlich ein sehr langes und enges Verhältnis habe, mit ihm auch privat sehr viel zusammen war und viel von ihm gelernt habe, nicht zuletzt auch in organisatorischer Hinsicht. Und auch vom Anspruch her, wo man stehen kann.
Es war aber nie unser Thema. Als wir mit der JBBG begonnen haben und das VAO noch sehr erfolgreich existierte, ich sogar noch eine kurze Zeit damit unterwegs war, habe ich mir immer gedacht, wir müssten einen Kontrapunkt zum VAO liefern. Und ich glaube, das hat mit unserer Musik auch gut funktioniert, und dennoch habe ich uns irgendwo auf derselben Ebene gesehen.
Ich glaube also, die Frage mit ja beantworten zu können. Die Rahmenbedingungen haben sich allerdings geändert, und Matthias Rüegg hat ja nicht aufgehört, weil er keine Lust mehr hatte zu arbeiten. Die ökonomischen Bedingungen für Jazz-Orchester sind einfach unglaublich schwierig geworden. Wir haben nun immerhin seit gut fünf Jahren eine der größten ökonomischen Krisen unseres wirtschaftlichen Systems, und wir fragen uns heute alle, wie wird das denn überhaupt in fünf Jahren noch ausschauen. Und wie wird es der Kultur in fünf oder zehn Jahren gehen? Wir leben in einem gigantischen Paradigmenwechsel, und wer weiß, möglicherweise sind wir in ein paar Jahren entsorgt. So lange wir aber die ökonomischen Möglichkeiten haben und auch das Publikum finden – was schwierig genug ist – , so lange sehe ich mich eindeutig als österreichischer orchestraler Botschafter des Jazz.

Horst Schaffer, wie siehst Du die Zukunft der Finanzierung der JBBG im Besonderen und die von Big Bands im Allgemeinen?

Horst Michael Schaffer: Das wirtschaftliche Umfeld ist zur Zeit natürlich ein sehr schwieriges, und wir strecken uns immer nach der Decke. Wir bemühen uns immer – auch mit Hilfe anderer Sponsoren – ein Budget zusammenzustellen. Das gelingt uns einmal besser, einmal schlechter und hängt auch davon ab, ob eine Produktion etwa von einem österreichischen Musikfond gefördert wird. Beides hat aber auch immer mit einem sehr großen bürokratischen Aufwand zu tun. Im Fall der JBBG bin ich es, der das macht, und das kostet mich enorm viel Zeit, das alles immer up to date zu halten. Entgegen kommt mir dabei vielleicht, dass ich auch einmal in einer Bank gearbeitet und die Handelsakademie gemacht habe. Denn während meines Studiums hat mir nie jemand gesagt, dass man als Musiker eigentlich noch zahlreiche andere Berufe mit dabei hat. Und wenn man jetzt in so ein großes Boot wie die JBBG steigt, muss man das eben auch lernen. Es genügen also nicht nur inhaltliche Super-Ideen, sondern es gilt auch, jemanden zu finden, der das wirtschaftlich betreut. Ein großes Orchester hat halt einmal das grundsätzliche Problem, dass es viele Leute ernähren muss, wenn  man so will. Eine zentrale künstlerische Idee muss aber an vorderster Front stehen, weil sonst würden wir uns das Ganze überhaupt nicht antun. Und da sehe ich einige spannende Initiativen bzw. Big Bands, die sicher bestehen werde, weil die Idee stark genug ist. Für alle Liebhaber konventioneller Big Band-Musik, die keine eigene Vision hat, stehen dagegen die Zeiten eher schlecht.

Foto Schaffer/Kalnein © Wolfgang Großebner
Foto JBBG 1 © Erich Reismann
Foto JBBG 2 © Erich Reismann

 

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