mica-Interview mit Beat Furrer

Beat Furrer hat es längst geschafft. Wenn er eine neue Komposition schreibt, kann er stets gewiss sein, dass das Stück unter den besten Bedingungen zur Uraufführung kommt, die der Betrieb bietet. Sein jüngstes Musiktheater zum Beispiel, „Wüstenbuch“, entstand im Auftrag des Theaters Basel und der Vontobel-Stiftung, wurde gefördert von so potenten Partnern wie der Ernst von Siemens Musikstiftung, der Kulturstiftung des Bundes, Pro Helvetia. Das schafft ideale Voraussetzungen für die Produktion: Vor der Premiere in Basel (im März 2010) standen dem prominent besetzten Ensemble luxuriöse sechs Wochen Probenzeit mit dem Regisseur Christoph Marthaler zur Verfügung. Nach einem Gastspiel in Berlin kommt „Wüstenbuch“ nun auch nach Wien, wo der 1954 in Schaffhausen geborene Furrer seit 1975 lebt. Am Pult steht wiederum der Komponist persönlich und leitet das Klangforum Wien – das er vor 26 Jahren selbst gegründet hat, auch, um seine Musik unter den besten Bedingungen zur Aufführung bringen zu können. Das Interview führte Carsten Fastner.

Was stand denn am Beginn vom „Wüstenbuch“: eine künstlerische Idee oder ein Produzentenwunsch?
Beat Furrer: Eine Anfrage von Jan Assmann, dem bekannten Ägyptologen. Er hat mich gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, Texte, die er gefunden und übersetzt hat, in einem theatralischen Rahmen zu präsentieren. Das hat mich natürlich wahnsinnig interessiert, denn ich hatte ohnehin schon einige seiner Bücher gelesen, „Tod und Jenseits im alten Ägypten“ etwa oder „Ägypten: eine Sinngeschichte“ und „Das kulturelle Gedächtnis“ – großartige Bücher, die mir wirklich Türen geöffnet haben, weit über das Interesse am alten Ägypten hinaus.

Kannten Sie einander schon zuvor?
Furrer: Nein, nein. Ich glaube, er kam über Empfehlung von Wolfgang Rihm an mich.

Was macht Ihre Faszination am alten Ägypten aus?
Furrer: Das war eine Gesellschaft, die 3000 Jahre lang stabil war. Und dabei muss die soziale Verantwortlichkeit eine große Rolle gespielt haben. Wir haben Ägypten ja immer als Sklavenhaltergesellschaft vor Augen. Durch Jan Assmann habe ich gelernt, dass dieses Bild durch unsere christliche Brille doch sehr verzerrt ist. Es war in Wahrheit sehr viel differenzierter, diese Gesellschaft kannte ein komplexes Rechtssystem, dem jeder, bis hin zum Pharao, unterworfen war.

Sie haben Assmann also zugesagt, und er hat Ihnen ein Libretto geschrieben?
Furrer: Naja, er hat mir aus den Texten, die er übersetzt hatte, ein Libretto zusammengestellt. Aber ich habe bald gemerkt, dass sich das so nicht in eine Dramaturgie einordnen lässt. Das waren Texte aus verschiedenen liturgischen und rituellen Kontexten, die man auch ihrer Fremdheit berauben würde, wenn man sie in einen herkömmlichen Theaterzusammenhang stellen würde. Da wäre die Gefahr sehr groß, einen Ägypten-Kitsch zu produzieren. Zweifel hatte ich auch wegen der Sprache: Das Altägyptische existiert nun einmal nicht mehr als klingende Sprache. Es gibt wohl eine gewisse Nähe zum Koptischen, und da kann man heute noch erahnen, wie das einst geklungen haben mag. Aber für mich wäre es doch wichtig gewesen, auch wirklich über den Klang der Sprache Zugang zum Thema zu finden.

Sie brauchten also einen anderen Zugang.
Furrer: Genau. Ich kann keine altägyptische Gottheit auf die Bühne stellen. Also brauchte ich einen anderen theatralischen Raum, musste Figuren entwickeln, die aus einem anderen Kontext stammen. So kam ich auf Ingeborg Bachmanns „Wüstenbuch“-Fragmente. Das sind drei Skizzen, die aus ihrem „Todesarten“-Projekt stammen. Skizzen von einer unglaublichen sprachlichen und dramatischen Kraft. Sie beschreiben im Wesentlichen eine Reise von Kairo in den Sudan. Ein paar Stationen daraus habe ich gewählt.

Gibt es darin Berührungspunkte mit dem alten Ägypten?
Furrer: Eigentlich nur Bachmanns Besuch des Ägyptischen Museum in Kairo, das ist ihre einzige Beschäftigung mit dem alten Ägypten. Es war für sie eine Reise aus der einen Wüste in die andere. Sie kommt aus der Zivilisationswüste Berlin, nach dem Scheitern ihrer Beziehung mit Max Frisch, und fragt sich nun, was sie in der Wüste Ägyptens sucht. Es geht um den Wunsch, etwas zu vergessen, tabula rasa zu machen, einen Neuanfang zu setzen. Und es geht immer wieder auch um das Thema der Gewalt.

Was ist schließlich von Assmanns ägyptischen Texten geblieben?
Furrer: Von denen ist wenig geblieben. Im Wesentlichen nur ein „Papyrus 3024“, der in Berlin liegt. Das ist ein Dialog eines Mannes mit seiner Seele. Er beklagt sich, dass die Werte verfallen, dass es keine Verantwortung, keine Freundschaft mehr gibt, kurz: Er will nicht mehr leben. Aber im Laufe des Dialogs akzeptiert er schließlich, dass er weiter leben muss, dass er nicht einfach davonlaufen kann. In diesem Text – wahrscheinlich eines der ältesten literarischen Zeugnisse, das wir überhaupt haben – gibt es eine wunderbare Aufzählung, so wie sie mich immer schon faszinieren: „Der Tod steht heute vor mir wie das Sitzen am Ufer nach dem Regen. Der Tod steht heute vor mir wie der Duft von Myrrhen. Der Tod steht heute vor mir wie das Heimkehren nach einer langen Reise …“, und so weiter. Das hat eine unglaubliche Kraft, und das habe ich im „Wüstenbuch“ als gesprochenen Text untergebracht.

Wie haben Sie diese so unterschiedlichen Texte dann zu einem dramaturgisch stringenten Libretto montiert?

Furrer: Das habe ich gemeinsam mit Händl Klaus gemacht. Es war wichtig für mich, mit einem Diskussionspartner arbeiten zu können, der über die sprachliche Sensibilität, aber auch über Erfahrung im Theater verfügt. Er hat mir schließlich einen Text geliefert, der als Bindeglied zwischen dem alten Ägypten und Bachmann funktioniert.

Das Ergebnis dürfte jedenfalls ganz anders sein, als Jan Assmann sich das vorgestellt hatte, oder?
Furrer: Das ist klar, ja. Aber er war da durchaus offen. Und ihm war bewusst, dass er mit dem Medium Theater wenig Erfahrung hat. Für ihn war es wesentlich zu zeigen, dass das, was uns von der ägyptischen Kultur geblieben ist, etwas mit unserem Leben zu tun hat, dass die Menschen damals dieselben Probleme hatten wie wir. Aber für mich war es wesentlich, diesen uralten Texten auch ihre Fremdheit zu belassen, und nicht zu behaupten, dass wir sie verstehen. Das konnte Assmann natürlich nachvollziehen.

Mussten Sie für das Stück schließlich noch einen Auftraggeber suchen?
Furrer: Es kam ziemlich am Anfang der Arbeit ohnehin eine Anfrage des Theaters Basel nach einer neuen Oper. Und so war schnell klar, dass ich das „Wüstenbuch“ für Basel schreiben werde.

Und wie kam der Regisseur Christoph Marthaler ins Boot?
Furrer: Ich hatte vorher schon zweimal mit ihm gearbeitet und sehr gute Erfahrungen mit ihm gemacht („Invocation“, 2003 in Zürich, und „Fama“, 2005 in Donaueschingen, Anm.) Er kommt einfach von der Musik und ist sich bewusst, dass Musiktheater ein sehr sensibles Gleichgewicht zwischen Sprache und Klang braucht. Er war also meine erste Wahl – auch wenn seine Sprache sehr verschieden ist von meiner. Aber das Musiktheater ist eben immer auch eine Sache der Zusammenarbeit und damit des Vertrauens. Die Partitur ist irgendwann fertig, und dann muss man sie aus der Hand geben.

Haben Sie beim Komponieren schon die Konkretisierung Ihrer Klänge durch Marthalers Inszenierung mitgedacht? Hatten Sie szenische Bilder vor Augen?
Furrer: Ja. Ich denke immer an eine Inszenierung, auch wenn ich – außer sehr grundlegenden szenischen Angaben – nichts davon in der Partitur fixiere. Aber ich habe ideale Vorstellungen von Räumen, von den Geschwindigkeiten der Abläufe. Das ist alles schon sehr konkret. Und dann ist es für mich sehr, sehr spannend, wenn meine Klänge plötzlich eine andere Form der Konkretisierung erfahren.

Wie war die Probenarbeit mit Marthaler?
Furrer: Ganz wunderbar, er nimmt sich ja auch wirklich viel Zeit. Er kommt ja nicht mit einem fertigen Konzept, sondern hört und sieht sich mal einzelne Szenen an, beobachtet genau, geht auf die Eigenheiten der Sänger und Schauspieler ein. Und das dauert natürlich. Aber das ist eben seine Arbeitsweise – das Gegenteil von Pragmatismus.

Foto Beat Furrer © 2005 Klaus Rudolph