In Fortsetzung zu mica-focus-Veranstaltungen der Jahre 2009 und 2010, die verschiedene Aspekte zum Thema Musik und Öffentlichkeit bzw. Ästhetik zum Inhalt hatten, stellte auch diese Podiumsdikussion im Rahmen von Wien Modern 2011 das Auseinanderdriften zwischen musiktheoretischen Überlegungen, Gewichtungen in den Fachmedien und der Rezeption neuen Musikschaffens in der Öffentlichkeit ins Zentrum ihrer Betrachtung.
Es diskutierten:
Gertraud Cerha (Musikwissenschaftlerin, Wien), Hannes Dufek (Komponist, Wien), Šimon Voseček (Komponist, Wien – Prag),
Marino Formenti (Pianist, Dirigent, Wien – Italien), Leah Muir (Komponistin, USA – Wien – Berlin)
und Gerald Resch (Komponist, Konzertorganisator, Wien). Die Diskussion wurde von Christian Heindl (Musikwisenschaftler, Wien) geleitet.
Gesellschaftliche Akzeptanz
Gertraud Cerha gewährte, auf die gesellschaftliche Akzeptanz Neuer Musik angesprochen, eingangs Einblicke in ihren reichen Erfahrungsschatz: In den 1950er Jahren, so Cerha, seien die Zeiten sehr konservativ, noch konservativer sogar als in den 1940er Jahren, gewesen. Das habe vor allem daran gelegen, dass die Besatzungsmächte ein reges Interesse daran hatten, Musik ihrer eigenen zeitgenössischen Komponisten aufzuführen. Nach Abzug der Besatzungsmächte aber und dem Einläuten des kalten Krieges begann dann eine sehr konservative Zeit, was die Akzeptanz neuer musikalischer Strömungen betraf. In Österreich, so Cerha, habe sich damals jene Gruppe der ÖVP durchgesetzt, die ein fast schon am Ständestaat und dem Austrofaschismus orientiertes Programm verkörperte. Jungen Komponisten seien die Podien verwehrt gewesen. Gleichzeitig aber sei man gerade deshalb, aus einer beinahe im Untergrund stattfindenden Tätigkeit heraus, außergewöhnlich gut miteinander vernetzt gewesen. Gleichzeitig seien damals die ersten Stipendien in Darmstadt vergeben worden. Das unmittelbar Zeitgenössische stand dabei im Vordergrund. Cerha erinnerte sich an Konzerte von Webern, Varese, Satie und Hindemith. Ein wesentliche Aufgabe sei in dieser Aufbruchstimmung, was Neue Musik anbelangte, auch der Jeunesse zugekommen.
Das Publikum sei damals eher intellektuell, die Konzerte seien durchwegs voll gewesen. So voll sogar, dass man ab 1959 vom Schubert- in den Mozartsaal übersiedeln musste. In der Presse aber sei man eher verdammt worden. „Das hat sich verändert“, sagte Cerha. „Heute gibt es keine Verdammung mehr, sondern überhaupt keine Resonanz.“
Zuschüsse habe es keine wesentlichen gegeben. Vielmehr sei über Jahre hinweg klar gewesen, dass es keine ausreichende Finanzierung geben würde. Geringe Künstlergagen und Selbstausbeutung hätten die Konzerte trotzdem garantiert.
Wie stelle sich nun im Vergleich dazu die Situation im Prag des Jahres 2011 dar?, wollte Diskussionsleiter Christian Heindl von Šimon Voseček wissen. Schwierig, meinte dieser. Die Presse sei inexistent, das Publikum ebenso. Und an Förderungen zu kommen sei quasi unmöglich, so der Komponist. Man sei aber relativ genügsam geworden. Und Erfolg und Misserfolg seien durchaus relative Größen. So habe er sich neulich anlässlich des Konzertes eines Prager Ensembles im Rahmen von Europe Calling im Casino Baumgarten geschämt, als dort nur 30 Leute im Publikum saßen. Die Musiker hingegen waren positiv überrascht: Sie hatten nicht einmal mit so vielen Besuchern gerechnet.
Was Förderungen kompositorischen Schaffens anbelangt, befände man sich in Österreich, ebenso wie in Deutschland und der Schweiz, auf einer Insel der Seeligen. Die Frage aber sei natürlich, ob daran das in Aussicht gestellte Sparpaket – und zwar hin zum Negativen – etwas ändern würde. Davon sei wohl auszugehen…
Marino Formenti meinte, dass er sich grundsätzlich einmal gar nichts erwarte, ob er nun Beethoven spiele oder es sich bei seiner Darbietung um eine Uraufführung handle. Die Frage nach dem Publikum, ob nun 40 Leute oder 2.500 kämen, sei ihm vielmehr unangenehm und auch vollkommen nachrangig. Denn aus seiner Sicht sei weniger das Publikum das Problem als vielmehr die Veranstalter, die wesentlich Mehr Mut beweisen müssten. „Mut, wie man das am Leben erhält, was wir machen“, sagte er. Die Strukturen seien leider zu fest, zu unveränderlich. Die Frage, ob das Publikum das zweite Stück ebenso zu schätzen wissen würde wie das erste, sei schon die falsche Frage. Diese, so Formenti, dürfe man gar nicht erst stellen. Außerdem leide ja lange nicht jede zeitgenössische Musik an Publikumsmangel. Konkret führte er die ausverkauften Nono-Opernvorstellungen bei den Salzburger Festspielen an.
Utopisches Potenzial
Gerald Resch meinte auf die Frage, welche Realität man denn bei den von ihm veranstalteten Konzerten vorfände, er wolle sich auch weiterhin ein gewisses Maß an Blauäugigkeit – vielleicht besser auch utopisches Potenzial genannt – bewahren. Die Möglichkeit, einen wirklich schönen Abend zu erleben, gebe es auch für „nur“ 15 Menschen im Publikum. Und 15 Interessierte seinen ihm persönlich auch lieber als 15.000 nicht Interessierte, so der Komponist und Veranstalter.
Er, so Resch, befände sich in der privilegierten Situation, gänzlich ohne Quotendruck programmieren zu können und er wisse dieses Privileg auch sehr zu schätzen. Dennoch sei man natürlich durchaus bemüht, etwa eine Euphorie, wie sie bei einem Festival Wien Modern anzutreffen sei, „rüber zu bringen“, d.h. also auch für die eigene Konzertreihe zu nutzen, um fortan satt 15 vielleicht 50 Menschen begrüßen zu können.
Leah Muir gab zu bedenken, dass junge Komponisten in den USA überhaupt nicht wüssten, dass sie als Komponisten überleben könnten. In dieser Hinsicht sei der Horizont, dort, wo sie herkomme sehr begrenzt. In jeder US-amerikanischen Stadt gebe es zwar ein, zwei prominente Komponisten, oft wisse man aber von diesen Prominenten schon in der nächsten Stadt nichts mehr. Die Prominenz sei also regional durchaus begrenzt. Ihr Statement, dass man in den USA im Gegensatz zu Deutschland und Österreich auch wenig Ahnung davon habe, was Neue Musik überhaupt sei, führte zu einer Kontroverse über die Darmstädter Ästhetik.
Gertraud Cerha meinte, sie glaube nicht, dass diese Ästhetik, die alle Traditionen ablehnte, so beherrschend war. Die meisten waren geradezu süchtig danach, sich davon zu lösen und trotzdem gehört zu werden.
Marino Formenti wies auch daran darauf hin, das man sich nicht zu sehr von einer bestimmten ästhetischen Auffassung wie etwa der Darmstädter leiten lassen sollte. Es gäbe genug andere Realitäten, mit denen er als Pianist zu leben gelernt hätte, etwa jene der Musik eines Steve Reich oder eines Terry Riley, der vor vollen Hallen spielen. Gertraud Cerha wandte demgegenüber ein, dass die Genannten aber auch genau jene seien, die in der europäischen Szene besondere Geltung erlangt hätten. Die gleiche Meinung vertrat auch Leah Muir: Vor allem jene Komponisten, so die US-Amerikanerin, die in Europa Bekanntheit erlangt hätten oder solche, die in ihre Musik neue Medien integrieren würde, seien auch die in den USA bekannten.
Who cares, if you listen?
Für wen schafft man? Für sich, sein Umfeld? Oder will man mehr erreichen?, wollte Moderator Christian Heindl im Anschluss daran von den anwesenden Komponisten wissen. Hannes Dufek, der jüngste unter den anwesenden Diskutanten, meinte, dass es für ihn als Komponisten in erster Linie nicht darum gehe, für ein Publikum zu schaffen. In erster Linie sei das unwichtig und unerheblich. In weiterer Folge aber sei es natürlich schon wichtig, mit seinen Kompositionen auch nach außen zu gehen und dort Resonanz zu finden. Ihn beschleiche allerdings immer wieder der Eindruck, die Neue Musik wäre zu selbstbezüglich. Und eine gesamtgesellschaftliche Relevanz würde er ihr schlichtweg in Abrede stellen.
In Anspielung auf Ligeti meinte Cerha daraufhin, man befinde sich, was Neue Musik, anbelange, immer schon in der Nische innerhalb der Nische. Aber, so Šimon Voseček, wenn nicht einmal die eigene Familie mehr kommen wolle, müsse man sich schon Fragen stellen.
Auch in den USA habe es in Anlehnung an das berühmte Zitat „Who cares if you listen?“ von Milton-Babbitt lange Zeit die Haltung, wonach Publikum grundsätzlich einmal egal sei, vorgeherrscht, so Muir. Die Konsequenz daraus sei aber, dass man nicht mehr als 18, 20 Personen auf einem Konzert erwarten dürfe.
Formenti meinte, Publikum und Kunst würden sich immer bedingen. „Wir sollten daher bereit sein, dass wir auf ein Publikum, auch wenn es nicht oder vermeintlich nicht existent ist, reagiere müssen.“
Cerha vertrat daraufhin die Auffassung, dass ein Komponist aus sich heraus agiere. Friedrich Cerha etwa habe immer aus dem sicheren Wissen heraus agiert, dass seine Musik nie jemand hören würde. Er habe es aber trotzdem getan, aus einer inneren Verpflichtung heraus.
Bedeutung der Musik, Lebendigkeit der Atmosphäre
Lothar Knessl wollte eingangs der für das Publikum geöffneten Diskussion etwas richtig gestellt wissen. Es sei ein Fehler, so der Wiener Doyen zeitgenössischer Musik, immer von der Darmstädter Ästhetik zu sprechen, als habe es tatsächlich nur eine gegeben. In Wahrheit aber habe es dort mehrere Ästhetiken gegeben als von den Medien gemeinhin angenommen. Die Künstler seien liberaler gewesen als die Medien. Erst die mediale Resonanz habe die aus Darmstadt kommende Musik auf eine bestimmte Ästhetik festgelegt.
Anschließend kam das Problem mangelnden Interesses bei der Jugend zur Sprache. „Woran liege es, dass sich die Jugend zu wenig für Neue Musik interessiert?“, wollte ein junger Besucher wissen. „Werden die falschen Kanäle angezapft. Wirken die traditionellen Spielstätten zu abschreckend und sollte man daher neue Spielorte etablieren?“ Eine wirkliche Antwort wusste man darauf nicht.
Entgegnet wurde zum einen, dass zum einen das Abo-Publikum den Altersschnitt deutlich hebe. Andererseits habe gerade, so jemand aus dem Publikum, am Vortag des mica focus, eine andere Diskussion – unter anderem mit Martin Grubinger – im Konservatorium Wien stattgefunden, die so positiv gewesen sein, dass man sich fragen müsse, wo überhaupt das Problem liege.
Formenti wollte für den oft hohen Alterschnitt auch die oft konservative Ausrichtung Neuer Musik verantwortlich machen. „Wenn man Abstand nimmt, ist es oft erstaunlich, wie konservativ, doch vieles innerhalb dieser Musik ist“, meinte er.
Es habe sich innerhalb der Musik nicht viel getan, während sich die Gesellschaft rasend weiter entwickelt habe. „Während wir hier reden, findet die Revolution in Wahrheit woanders statt“, so der Pianist pragmatisch. Man müsse über die Bedeutung der Musik nachdenken. Alles, was der Musik helfe, sei willkommen.
Abschließend kam man noch einmal auf die unterschiedlichen Realitäten innerhalb der Neuen Musik zu sprechen. Während ein und dasselbe Stück in einer Woche vor begeistertem Publikum und in vollem Saal gespielt werde, finde das gleiche Stück in der Woche darauf fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Das sei die in Wien gelebte Realität Neuer Musik.
Daran, dass die Schwellen, die Leute oft daran hindern würden, zur Neuen Musik zu finden, gemeinsam und mit vereinten Kräften gesenkt werden müssten, waren sich alle Diskutierenden einig. Muir meinte, dass dabei auch neue Technologien helfen könnten. Zusätzlich, so Dufek, gelte es das Publikum ernst zu nehmen, es willkommen zu heißen und für eine Lebendigkeit der Atmosphäre zu sorgen.