„Es ist etwas Genuines, das von den Frauen in die Kunst eingebracht wurde“ – MATTHIAS OSTERWOLD im mica-Interview

Das Motto der 24. Ausgabe des TIROLER FESTIVALS FÜR NEUE MUSIK – KLANGSPUREN SCHWAZ, welches vom 7. bis zum 24. September in Schwaz und Innsbruck stattfindet, lautet „NOCH FRAGEN? ANY QUESTIONS?“ Diese Fragen sind letztlich ein Zitat des eingeladenen Stimmkünstlers Chris Mann, der sich selbst als kompositionellen Linguisten bezeichnet und dessen Kernsatz zu Deutsch etwa lautet: „Sprache ist der Mechanismus, womit du besser verstehst als ich, was ich denke (wobei das Ich durch die Veränderungen, für die das Ich gebraucht wird, definiert ist).“ Michael Franz Woels sprach mit dem künstlerischen Leiter MATTHIAS OSTERWOLD über LAURIE ANDERSON und JOAN LA BARBARA, die zwei Pionierinnen avancierter Vokal-Performance. 

Können Sie uns kurz erklären, was es mit dem heurigen Festivalmotto „NOCH FRAGEN? ANY QUESTIONS“ auf sich hat? Der Australier Chris Mann, der mittlerweile schon lange in New York lebt, performt seine Texte in höchstverdichteter, polymetrischer Manier. Sie sind sowohl Inhalt als auch abstrakte Reflexionen des Inhalts zugleich. „ANY QUESTIONS?“ ist die Überschrift einer seiner typischen Satzaneinanderreihungen, die in der Sprachauswahl irgendwo zwischen australischem Straßen-Lingo und hoher Theorie angesiedelt sind.

Matthias Osterwold: Augenzwinkernd kann man natürlich sagen, dass das eine ganz übliche Formulierung ist. Wir haben es bei diesem Festival mit Musik und an verschiedensten Stellen mit Sprachklang zu tun, daher muss es hier in einer Art und Weise betont werden, als ob alle Fragen letztlich schon gegeben wären. „ANY QUESTIONS?“ im Sinne von man möchte lieber nicht, dass rückgefragt wird. Tongue-in-cheek ist das so gemeint, dass man es eigentlich umdrehen muss: Gibt es heute vielleicht mehr Fragen denn je an die Kunst und die Musik? Im allgemeinen gesellschaftlichen Kontext und wie sie sich ins Verhältnis zur Wirklichkeit setzt? Eine Reihe von Projekten, Konzerten, Performances bezieht sich mehr oder weniger mit den Mitteln der Kunst auf diese Frage. Wir werden heuer bei den KLANGSPUREN viel Musik von und mit Frauen präsentieren. Wir wollten aber kein Frauen-Musikfestival machen, sondern einfach einmal die Proportionen umkehren.

„Es gibt zwar keine offiziellen Schranken für Frauen, aber eine schludrige Praxis und eine doch ausgeprägte Herrengesellschaft.“

Bleiben wir kurz beim Thema Frauen in der Neuen Musik. 

Matthias Osterwold: Auf den Programmzetteln muss man die Frauen oft immer noch suchen. Aus meiner Sicht gilt das noch mehr für Komponistinnen als für Interpretinnen und Performerinnen. Und deshalb wollen wir das einmal umdrehen, denn es gibt ja ein reichliches und schönes Angebot von Frauen geschaffener Musik der Gegenwart. Ich weiß jedoch nicht, was eine weibliche Musik im ästhetischen Sinn sein könnte. Diese Frage ist, glaube ich, auch schwer sinnvoll zu beantworten und zu untersuchen. Der traditionelle und institutionelle Hintergrund des Betriebes – was ich immer ganz gerne das „Betriebssystem von Neuer Musik“ nenne – sollte jedoch untersucht werden. Es gibt zwar keine offiziellen Schranken für Frauen, aber eine schludrige Praxis und eine doch ausgeprägte Herrengesellschaft. Ich finde, es ist eine der Stärken von Frauen in der Musik und vielleicht auch in anderen Kunstgattungen, dass sie sehr eigenständige und spezifische Lösungen finden. Wir haben bei der Auswahl der Projekte versucht, genau solche Frauen zu präsentieren – also nicht so sehr Künstlerinnen, die sich leicht in übliche Schemen einordnen lassen, sondern jene, die mit sehr individuellen Entwürfen hervortreten und damit ihre Stärke zeigen.

Das bringt uns zu einem der Stargäste des heurigen Festivals, der legendären amerikanischen Performance-Künstlerin Laurie Anderson.  

Laurie Anderson (c) Brunilda Castejon

Matthias Osterwold: Laurie Anderson ist ja eine richtige Ikone, eine Pionierin, eine Gallionsfigur in mehrfacher Hinsicht. Performance-Art und Musikperformance-Art sind aus meiner Sicht vielleicht die ersten Gattungen in der Kunstgeschichte, die im Wesentlichen von Frauen geprägt wurden. Zumindest haben die Frauen an der Entstehung dieser Kunstgattungen in den 1960er-Jahren, rückgreifend auf die 1920er-Jahre in Form dieser freien Tanzperformances, einen ganz wesentlichen, prägenden Anteil, der auch damit zu tun hat, dass die Beschäftigung mit dem Körper bei der Ausübung der Kunst eine große Rolle spielt. Dies eröffnet sich integral im Sinne des Interdisziplinären und Intermedialen bei Laurie Anderson. Es ist etwas Genuines, das von den Frauen in die Kunst eingebracht wurde. Bei Laurie Anderson verbindet sich da ganz viel. In ihrer ganz frühen Phase war sie auf der Schiene von experimenteller Musik amerikanischer Prägung unterwegs. Als Beispiel nenne ich „Handphone Table“ aus dem Jahr 1978 – eine ihrer ersten skulpturalen Arbeiten. Menschliche Knochen werden als Überträger von Resonanzen benutzt, man kann „über Knochen hören“. Es handelt sich um eine Tischinstallation, auf die man sich mit dem Ellbogen aufstützt und dann die Resonanzen aus dem Tisch heraus in den Körper übertragen werden. Hier findet sich auch wieder dieser Körperaspekt, den ich als charakteristischen Aspekt weiblicher Kunst erwähnt habe. In den 1980er-Jahren kreierte Laurie Anderson dann nach aufmerksamer Beobachtung, was sich in der Popkultur tut, diesen sehr eigenständigen Ansatz, wie wir ihn noch heute von ihr kennen. Es ist eine spezielle Mischung von Erzählung, Reflexion des Wirklichen, Poesie und Musik. Die Musik ist technologisch verfremdet, inklusive ihrer eigenen Stimme, die dann keine Geschlechterzuordnung mehr zulässt. Ich habe das damals ja alles zeitnah mitbekommen, ihren sehr modernen Umgang mit Bild, diese ersten Musikvideos. Sie hat das auf ihre ganz eigene Weise sehr frühzeitig in ihrem Performance-Konzept mitgedacht.

Laurie Anderson ist am 5. Juni 70 Jahre alt geworden, wirkt aber trotzdem in Gesprächen oder auf der Bühne jung und frisch. 

Matthias Osterwold: Ich finde, sie ist fantastisch gealtert, denn sie verleugnet ihr Alter nicht. Sie hat etwas sehr Feines, wenn man sie kennenlernt und mit ihr spricht. Auch da changiert ihr Erscheinungsbild zwischen diesem ewig jungen Mädchen und einer Frau, die in Würde älter geworden ist. Ähnlich ist das auch mit ihrem Projekt „The Language Of The Future“, das sie 1984 als ein offenes, fortlaufendes Kunstwerk begonnen hat. Damals war das ja supermodern. Ich kann mich noch genau erinnern, wie wir alle als Fans des Video-Künstlers Nam June Paik furchtbar aufgeregt waren. Er gestaltete diese frühe Satelliten-TV-Show „Good Morning, Mr. Orwell“, die in ganz Amerika und von vielen Fernsehstationen auf der ganzen Welt gezeigt wurde. Da hat sie ihre erste Version von „The Language Of The Future“ präsentiert. Seitdem hat sie in der inneren Entwicklung und in dem, was in der äußeren Welt passiert, natürlich insbesondere im Rahmen des kulturellen Wandels der amerikanischen Kultur, viel aufgenommen, umgearbeitet und verarbeitet. Das finde ich bei ihr wirklich außerordentlich schön, diese Balance zwischen Poesie und Aktualität.

Laurie Anderson kann man ja durchaus eine gewisse Europhilie zuschreiben. Sie ist eine Halbschwedin, hat Europa oft besucht, und gerade durch diese Distanz scheint ihr die Beschreibung amerikanischer Zustände so gut zu gelingen. Ihr letztes Studioalbum „Homeland“ aus dem Jahr 2010 ist da nur eines von vielen Beispielen.  

Matthias Osterwold: Das ist eine gute Beobachtung. Sie stammt ja aus einer Kleinstadt in Illinois und von einer Großfamilie ab, repräsentiert also das typische Mittelklasse-Amerika als gesellschaftlich-familiären Hintergrund, und ist doch europaaffin. Sie hat auch eine Tiroler Vergangenheit. Sie war schon 2003 bei den KLANGSPUREN, dann war sie etwas später im Treibhaus in Innsbruck zu Gast. In der Kleinstadt Schwaz in Tirol, unserem Headquarter, hatte sie auch eine Freundin, die Malerin Martha Murphy, die leider nicht mehr lebt.

Neben „The Language Of The Future“, ihrer performativen Sammlung von Songs, Geschichten, Filmen und Fotos, die sie am 24. September als Abschlussveranstaltung des Festivals selbst performen wird, wird am 22. September im Rahmen der „SÉRIE ROSE – Neue Musik & Erotik“ auch „Langue d’amour“ aufgeführt.

Joan La Barbara (c) Brunilda Castejon

Matthias Osterwold: „Langue d’amour“ für Stimme und E-Piano von Laurie Anderson, das ist auch wieder etwas Universelles in Gestalt eines einfachen, aber vielschichtigen Songs. Dieses einfache und zugleich komplexe Stück wird von Małgorzata Walentynowicz am Klavier und am Sampler und mit der Stimme von Frauke Aulbert interpretiert. Vielleicht auch erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang Joan La Barbara, die ja auch 70 Jahre alt wurde. Sie ist eine weitere Pionierin, die eine ganze Stilrichtung, die heute noch wirkt, geprägt hat: „Extended Vocal Techniques“, die erweiterte Stimmtechnik im physiologischen Sinn, verbunden mit Live-Elektronik. Joan La Barbara war ganz eng mit der New Yorker Avantgarde-Szene wie John Cage oder Morton Feldman verbunden und sie hat auch in diesem Stil komponiert. Es gibt im Rahmen der „Pilgerwanderung“ am 17. September von ihr die Uraufführung von „The River Also Changes“ mit Claudia Cervenca und dem Schallfeld Ensemble aus Graz zu hören. Des Weiteren wird sie auch ältere Sachen performen und von der Stimmkünstlerin Claudia Cervenca performen lassen. Claudia Cervenca hat als Hommage noch drei weitere Komponistinnen – Elisabeth Harnik, Pia Palme und Anahita Abbasi – benannt, die neue Werke für die Stimme in diesem erweiterten Sinne komponiert haben.

Nochmal zurück zu Laurie Anderson. Laurie Anderson begann ihre künstlerische Laufbahn als Malerin und Bildhauerin. Bekannt wird sie in den 1970er-Jahren unter anderem durch ihre selbst gebauten Musikinstrumente wie den „Viophonographen“.

Matthias Osterwold: Berühmt ist der mit einem Stück Tonband bespannte Geigenbogen. Und diese Vinyl-Single, die auf einer Geige montiert ist. In dieser Phase hat sie noch typische Experimental-Performances gemacht hat, die sich als Genre in den 1970er-Jahren in New York entwickelt haben. Composer-Performer gab es damals viele, sie bespielten und verfremdeten Gebrauchsgegenstände, Alltagsgegenstände – Richard Lerman Materialien wie Geldscheine und Fahrräder, Ed Osborn Skier – und haben da Klang rausgeholt. Später wurde es einfacher und billiger, sich gewisse Technologien anzuschaffen. Am Anfang haben viele dieser Künstlerinnen und Künstler auch selbst die Technologien entworfen: Selbstmach-, Bastelinstrumente, Mutationen, Überarbeitungen, Präparationen. Es gab sogar einmal eine kurze Phase, als Künstler wie David Behrman und Jerry Hunt der Industrie voraus waren, als es um die Erfindung der Schaltkreise ging. Die ist aber dann schnell vorbeigegangen. Laurie Anderson wiederum ist dann relativ schnell digital geworden und hat an der Zusammenstellung ihrer Materialfragmente gebastelt. Das ganze kombiniert mit Ideen über Sounds, Soundverfremdung und damit, wie man dazu Bilder ordnen könnte.

„[…] diese frühen Arbeiten, die mich damals sehr faszinierten, sollen nicht in Vergessenheit geraten.“     

Laurie Anderson hat als junge Künstlerin auch ephemere Performances im öffentlichen Raum durchgeführt, zum Beispiel an verschiedenen Orten im Freien geschlafen und ihre Träume an diesen unterschiedlichen Orten verglichen.

Matthias Osterwold: Ich finde das ganz wichtig, dass Sie das hervorkehren, weil ja das Image von Laurie Anderson mit ihren Videoarbeiten und ihr Link zur Popmusik diese frühen Performance-Projekte überschatten. Es überschattet die experimentelle und sehr tief gehende Arbeit am Material und an sich selbst. In diesen Selbstbefragungen und -erforschungen steckt auch wieder dieser Personal- und Körperbezug, der sich vielleicht bei Frauen öfter als kreative Quelle äußert. Ja, diese frühen Arbeiten, die mich damals sehr faszinierten, sollen nicht in Vergessenheit geraten. Ich kannte Laurie Anderson ja schon, bevor sie weltberühmt wurde. Es gab 1980 in Berlin die Ausstellung „Für Augen und Ohren“ und da wurden diese Arbeiten vorgestellt. Ich habe mich überhaupt sehr für diese experimentelle New Yorker Kunst interessiert. New York war ja auch, mit den 1960er-Jahren beginnend, ein einziger Kreativ-Pol, wo sich Genres wie Tanz, Film, Medienkunst, Musik und Literatur sehr integral verbanden. Vor diesem Hintergrund haben sich Künstlerinnen wie Laurie Anderson und Joan La Barbara entwickelt.

Wie würden Sie die Art und Weise, wie Laurie Anderson performt, beschreiben?

Matthias Osterwold: In wenigen Worten charakterisiert: Laurie Andersons Performance ist auf der einen Seite cool, dann aber gleichzeitig auch sehr freundlich. Das ist so eine eigentümliche, schöne Ambivalenz, sehr distanziert und dabei doch human zugewandt. Sie verkörpert auf der Bühne sehr vorbildlich eine Erscheinungsform, wie sie auch bei John Cage zu finden war, diese heitere, gelassene Beschäftigung mit tiefen Themen der Kunst und des Lebens.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

Michael Franz Woels

 

Links:
KLANGSPUREN SCHWAZ – TIROLER FESTIVAL FÜR NEUE MUSIK (07.09.-24.09.2017)
Laurie Anderson
Joan La Barbara
Chris Mann