„Man kann neue Kunst nie überschätzen!“ – mica-Interview mit Jorge Sánchez-Chiong zur impuls-Akademie 2017

Zu vielfältigen IMPULSen wird vom 10. bis zum 22. Februar 2017 wieder nach Graz geladen. Akademie, Kompositionswettbewerb und Festival vereinen im Rahmen ihrer Kurse und Konzerte hochkarätige Vertreter der österreichischen und internationalen Szene Neuer Musik.  Christian Heindl sprach mit dem Komponisten Jorge Sánchez-Chiong, der heuer als Tutor teilnimmt.

 

Komposition und Interpretation – Öffentliche Probe mit dem Klangforum Wien

impuls, mica – musicaustria und das Klangforum Wien laden am 08. Februar 2017 zur offenen Probe im Probenraum des Klangforums in der Diehlgasse 51 in Wien 1050 ein. Die GewinnerInnen des impuls Kompositionswettbewerbes 2015 diskutieren und debattieren mit MusikerInnen des Klangforum Wien und Enno Poppe ihre Werke. Mehr: www.impuls.cc/veranstaltungen-2017/82

 

„Man kann neue Kunst nie überschätzen!“ – mica-Interview mit Jorge Sánchez-Chiong zur IMPULS-Akademie 2017

Sie nehmen heuer zum ersten Mal als Tutor an der Grazer impuls-Akademie teil. Was hat Sie daran gereizt, diese Einladung anzunehmen?

Jorge Sánchez-Chiong: Ich hatte von impuls in den letzten Jahren viel gehört, konnte aber aus terminlichen Gründen nie die Veranstaltungen besuchen. Unter den Tutorinnen und Tutoren befinden sich viele Freunde, Freundinnen, Kollegen und Kolleginnen, die ich besonders schätze. Mit einigen arbeite ich seit Jahren zusammen. Vor allem ist mir das Gesamtprogramm des Festivals – die Konzerte, Aktivitäten, Vermittlungsansätze – immer wieder als besonders zeitgemäß und hochqualitativ aufgefallen. Ich unterrichte besonders gerne, vor allem in solchen Konstellationen.

Vergangenen Sommer, als ich zum vierten Mal als Kompositionsdozent an den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt unterrichtete, machten mich die Mitglieder des Ensembles Schallfeld auf impuls aufmerksam. Damals war ich Tutor von diesem jungen Grazer Ensemble. Heuer – ein halbes Jahr später – kann ich sie als Ensemble in Residence bei impuls erleben.

Können sich Veranstaltungen wie diese auch einem breiteren Publikum erschließen und die Bedeutung aktuellen Musikschaffens schlüssig vermitteln oder sind sie doch vor allem auf einen kleinen Kreis „Eingeweihter“ beschränkt, die sich damit im viel zitierten Elfenbeinturm befinden?

Jorge Sánchez-Chiong: „Elfenbeinturm“! – Dieser Begriff ist wirklich sehr alt und erinnert mich unweigerlich an den Diskurs von Politik und Subventionsgebern, die uns glauben machen wollen, dass aktuelle Kunst bloß eine „alternative Kunst“ sei, also nur eine almosenwürdige Ergänzung der etablierten altbürgerlichen Pflege der feinen Künste, und nicht eine treibende Kraft im gegenwärtigen kulturellen Leben. Ich glaube, die Kulturschaffenden, die in Elfenbeintürmen leben, werden dort auch vergessen, längst bevor sie gestorben sind.

Kommunikation als Anliegen gegenwärtiger Kultur

Die Kommunikation, die Vermittlung ist ein zentrales Anliegen der gegenwärtigen Kultur: Im Informationszeitalter ist die Isolierung eine Verschwendung und es genügt nicht Rapunzel zu sein, man muss aus dem Turm springen und sich draußen „schmutzig machen“.

Nicht nur die Buntheit und Lebendigkeit im Programm von impuls setzt darauf, sondern auch viele Schwerpunkte und Konstellationen, wie z. B. die impuls MinutenKonzerte, die den Konzertraum verlassen und durch die Stadt als Galerienrundgang aktuelle Musik in den Dialog mit zeitgenössischer bildender Kunst stellen; A Day on Campus and in the City, das sich auch für das breitere Publikum und die Stadt u. a. in Form von Improvisations- und Wandelkonzerten öffnet; das von Stefan Prins gecoachte Collaboratory, das Personen aus ganz unterschiedlichen Backgrounds kreativ vereint; Salon/Musik.Gespräch.Austausch, das schon im Titel alles sagt – und vieles mehr.

Bildet das Angebot an Kursen bei der Akademie und insbesondere auch das umrahmende Musikprogramm des Festivals für Sie selbst die Möglichkeit noch Neues zu lernen und Information über aktuelle Trends zu erhalten oder ist hier kaum ein Unterschied zu internationalen Veranstaltungen dieser Art – Stichwort etwa „Wien Modern“ – spürbar?

Jorge Sánchez-Chiong: Selbstverständlich! Es gibt gerade eine sehr umtriebige junge Generation, die im Bereich der Neuen Musik spannende und frische Ansätze hat. Ich rede von keinen etablierten Institutionen, sondern von jungen Komponistinnen und Komponisten, Improvisatorinnen und Improvisatoren, kleinen Kammermusikgruppen, die noch nicht in großen Festivals vertreten sind. Begegnungen, die man eher im Rahmen von internationalen Kursen erfährt.

Welche Schwerpunktsetzung haben Sie sich vorgenommen bzw. welche Aufgabe werden Sie im Rahmen der Akademie haben?

Jorge Sánchez-Chiong: Ich bin Tutor einer Kompositionsklasse und arbeite bei den Musikvermittlungsprogrammen mit. Natürlich wird der Schwerpunkt im Unterricht vom eigenen Schaffen gesetzt, daher melden sich bei mir überwiegend junge Komponistinnen und Komponisten sowie Instrumentalistinnen und Instrumentalisten, die sich für trans- und interdisziplinäre Arbeiten mit Neuen Medien, Performance, Elektronik etc. interessieren. – Der Unterricht geht weit über das Ästhetische und Handwerkliche hinaus und bezieht viele Diskussionen ein, wie z. B. über die Dynamik von Zusammenarbeit zwischen Kunstsparten und Musikern aus unterschiedlichen Musikgenres.

Film+Musik

Vier Jahre lang war ich zusammen mit Reinhard Fuchs künstlerischer Leiter von NeW_AiR (New Experimental Ways) an der Wiener Musikuniversität und unterrichtete dort Sound und Komposition in experimentellen Film, Video und visueller Kunst. In dieser Edition von impuls werde ich im Rahmen eines Symposions wieder sowohl als Lecturer, wie auch als Coach für Komponistinnen und Komponisten auf diesem Gebiet tätig sein. Es handelt sich um das Symposion Film+Musik, das heuer startet: eine mehrjährige  Kooperation von impuls mit dem Institut für Musik Darmstadt, IRCAM Paris und Gaudeamus Utrecht. Bei diesem von impuls initiierten EU-Projekt werden junge Komponistinnen und Komponisten Experimentalfilme von Peter Tscherkassky erforschen und für das Ensemble Nikel neu vertonen.

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Werden Sie auch mit eigenen Werken bei impuls vertreten sein bzw. waren Sie in früheren Jahren vertreten?

Jorge Sánchez-Chiong: Ich bin nicht nur als Tutor, sondern auch als Komponist ein Neuling bei impuls. Ich werde heuer zum ersten Mal aufgeführt. Die Klasse von Lars Mlekusch spielt gemeinsam mit mir das Stück salt water für 12 elektronisch verstärkte Saxophone und Turntables, das ich 2015 im Auftrag von Mlekusch‘ SaxFest Wien komponiert habe.

Überschätzen wir, die „Eingeweihten“, den Stellenwert Neuer Musik gelegentlich angesichts des großen Koffers der Tradition, den wir hinter uns herschleppen, oder kann man dem heutigen Kreativen gar nicht genug Platz einräumen?

Jorge Sánchez-Chiong: Man kann neue Kunst nie überschätzen! Wir setzen in Österreich auf Innovation und Kreativität in Industrie und Wirtschaft  und wissen um das Potential und die Wichtigkeit solcher Konzepte, wenn es um ökonomische Visionen geht, diese Einstellung ist ironischerweise im kulturellen Bereich zu wenig gefordert. Neue Musik ist Forschung, ist künstlerische Forschung im Gespräch mit Wissenschaft, Kultur, Neuen Medien. Neue Musik bedeutet mit Kunst und durch Kunst zu denken, sie ist Kommunikation, sie stellt Brücken zwischen Sparten und stilistischen Richtungen, Wege und Gleise für bestimmte (und noch unentdeckte, unbestimmte) Entwicklungen und braucht es daher, auch mit entsprechendem Stellenwert betrachtet und gefordert zu werden. Das gehört nicht nur zu einer vernünftigen Kunstförderung, sondern auch zum allgemeinen Bildungsauftrag. Sie soll nicht als – unverständliche – Unterhaltung eingestuft und der alten, repräsentativen Kunst gegenübergestellt werden, die die Werbung und mediale Präsenz der letzten Jahrhunderte genoss.

Worauf freuen Sie sich in Graz am meisten?

Jorge Sánchez-Chiong: … auf Begegnungen, Entdeckungen, auf die Musik und natürlich auf das gute steirische Essen!

 

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Christian Heindl

 

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