Mach doch einfach was du willst – Wien Modern 34 30.10.–30.11.2021

Die 34. Ausgabe von Wien Modern bietet an 32 Spieltagen im Oktober und November 2021 insgesamt 120 Veranstaltungen in 11 Wiener Gemeindebezirken. Unter dem Titel «Mach doch einfach was du willst» präsentiert Österreichs größtes Festival für neue Musik inspirierende, hemmungslos subjektive und ungewöhnliche Neuproduktionen eigenwilliger Charakterköpfe. 56 Produktionen und insgesamt rund 80 Ur- und 30 Erstaufführungen warten darauf, gehört, entdeckt und diskutiert zu werden. Werke von rund 60 Komponistinnen tragen dazu bei, das unzeitgemäße Bild der Musik als Männerdomäne ein klein wenig zu aktualisieren. Mit mehreren immersiven Projekten und begehbaren Installationen in mumok, Reaktor, Kunsthistorischem Museum und den unterirdischen Kasematten des Palais Coburg, zwei Tagen der offenen Tür in Ateliers für experimentellen Instrumentenbau, zwei Ausstellungen und acht Uraufführungsproduktionen im Bereich Oper / Musiktheater sind diesmal besonders viele Formate zu erleben, die den Konzertrahmen erweitern.

In diesem Jahr deuten 38 Spielstätten, die in Größe und Art sehr verschieden sind, vom Wiener Konzerthaus und Musikverein über Museen und Universitäten bis hin zu vielen kleinen Ateliers und Spielorten der freien Szene, die Vielfalt des Programms an.

Die große Oper „Poppaea“ im Odeon

Michael Hersch und Stephanie Fleischmann kommen mit ihrer ersten gemeinsamen Oper Poppaea (05.–07.11.) dem brutalen historischen Geschehen mitten im Machtzentrum Roms unter Kaiser Nero sehr viel näher als Monteverdis genreprägende Poppea-Barockoper mit ihrem trügerischen Happy End. Nach der fulminanten Uraufführung beim Festival ZeitRäume Basel erlebt Poppaea im Wiener Odeon die österreichische Erstaufführung.

Michael Hersch: “Poppaea”, Silke Gäng und An Young Hong (c) Susanne Drescher

«Michael Hersch setzt die Tradition der großen Einzelgänger in den USA fort: Charles Ives, Harry Partch, John Cage … Aber er sucht nicht nach neuartigen musikalischen Materialien. Er ist der Erforscher einer bedingungslosen, radikalen Expressivität, die unbeschönigt die menschlichen Abgründe aufzeigt. In Musik. In einer neuartigen, glasklaren Schönheit.» (Georg Friedrich Haas)

Außergewöhnliche Dichte an Musiktheateruraufführungsproduktionen

Elisabeth Schimana: “FUGEN” (c) netzzeit

Insgesamt stehen diesmal acht Uraufführungsproduktionen im Bereich Oper / Musiktheater / Tanz bei Wien Modern am Programm. Neben Poppaea zählt dazu Fugen von Elisabeth Schimana (06.–11.11. in den neuen SOHO STUDIOS im Sandleitenhof Ottakring): Die spektakuläre multimediale netzzeit-Produktion lädt in die Welt von William Gibsons legendärer Cyberpunk-Romantrilogie Idoru. In einer Welt voller Viren, Drogen, Waffen, Daten u.v.a. stellt sich die Frage nach Autonomie und der Erforschung der Zwischenräume, der Fugen. Eine weitere netzzeit-Produktion ist Alles kann passieren. Eine Chorprobe von Norbert Sterk / Doron Rabinovici (08.11. im ORF RadioKulturhaus): Der gesprochenen Rede von Politikern lauschend, als wäre sie eine Arie oder raffiniert gesetzte Musik, begann Norbert Sterk zu komponieren, beachtete deren rhythmische Eigenheiten, Ambitus, Farbe, Klang und Prosodie.

Weitere Musiktheaterproduktionen sind das Stationentheater Operan21 – Logoratorium von Bertl Mütter (18. / 19.11. Literaturmuseum), die Musiktheaterminiaturen Stand der Dinge von 20 jungen Komponist*innen, Autor*innen und Musiker*innen der MUK – _Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien und der Universität für angewandte Kunst Wien (17. / 18. / 19.11. MUK.theater) sowie die choreografische Komposition growing sideways von andother stage / Jorge Sánchez-Chiong / Brigitte Wilfing (13. / 14.11. Reaktor).

Speziell an junges Publikum ab sechs Jahren richten sich gleich zwei der acht Musiktheaterproduktionen: Jorinde von Maria Gstättner (10. /14. / 17.11. Taschenoper und Landestheater Linz im MuTh) und Der Besuch vom kleinen Tod von Klaus Lang (01.–06.11. netzzeit im Dschungel Wien): Eine Märchenoper nach dem gleichnamigen Bilderbuch von Kitty Crowther, Trägerin des Astrid-Lindgren-Gedächtnispreises, des renommiertesten Preises für Kinder- und Jugendliteratur weltweit. Hier ist der Tod klein, rücksichts- und liebevoll – und ein Kind. Er ist traurig, weil die Menschen immer so erschrecken, wenn er sie abholt. Bis er das Mädchen Elisewin holt.

Performatives, Multimedia und Bilder erweitern den Konzertrahmen

Neue Formate über die klassische Konzertform hinaus spielen bei Wien Modern eine immer größere Rolle. Zu den aufwändigsten Produktionen des Festivals zählt das vierstündige Klangbad-Erlebnis ceremony II von Georg Friedrich Haas mit 70 Musiker*innen an Instrumenten aus sechs Jahrhunderten (28.11. Kunsthistorisches Museum), das zum Museumsspaziergang lädt. Frei bewegen darf sich das Publikum auch im über mehrere Räume verteilten Streichorchesterwerk Seitenraum von Peter Jakober (23. / 24.11. Palais Mollard). Brice Pauset, das Multimedia-Team AROTIN & SERGHEI und das Klangforum Wien präsentieren die intermediale Komposition Vertigo / Infinite Screen nach Alfred Hitchcock (16.11. Wiener Konzerthaus). Marino Formenti konzipiert die 760 Minuten lange Performance Feldman 760‘ (24.11.) im Rahmen des gemeinsamen Baselitz-Schwerpunkts von Musikverein und Wien Modern für eine Baselitz-Werkschau in der Albertina. Die dominikanische Performerin Ligia Lewis arbeitet in Limina / Sensation 1 erstmals mit dem US-amerikanischen Komponisten Mark Barden zusammen an einer Verlangsamung der Zeitwahrnehmung (27. / 28.11. Tanzquartier Wien). Das Kollektiv Rdeča Raketa präsentiert gemeinsam mit Ö1 Kunstradio seinen neuesten Klangcomic Einsame Ameisen Amnesie (08.11. ORF RadioKulturhaus).

Immersive Projekte, begehbare Installationen und Ausstellungen zum Eintauchen

Ingrid Schmoliner (c) Elvira Faltermeier

Mehrere Installationen und immersive Projekte laden zum Begehen und Eintauchen ein. Ingrid Schmoliner schafft für Towering Silence gemeinsam mit Adam Pultz Melbye eine immersive Liegefläche in den Katakomben des Palais Coburg (01. / 02.11.): «Wo die Worte versagen, überwiegen die Bilder […]. Towering Silence lädt die Zuhörer*innen in die klangvollen und höhlenartigen Kasematten, ein mittelalterliches Munitionslager. Auf Futons sitzend oder liegend kann das Publikum während der beiden rund einstündigen Konzerte wie auch in der zwei Tage lang geöffneten Installation gedanklich zwischen visuellem und akustischem Eintauchen hin- und herwandern.» (Ingrid Schmoliner / Adam Pultz Melbye). Für Fennesz plays NOUS Sonic komponiert der Elektronikpionier mit dem in Wien entwickelten interaktiven 3D-Kopfhörersystem eine virtuelle Klanglandschaft im Foyer des Wiener Konzerthauses (30.10.–03.11.). Winfried Ritsch dekonstruiert für den Gesang der Orgel eine Kirchenorgel im Reaktor (10.–14.11.). Volkmar Klien zerschneidet für die Installation Im Sattel der Zeit im mumok live einen klingenden Raum aus Papier (11.–14.11.). Im Rahmen von Instrument Modern öffnet die überraschend vielseitig blühende Wiener Szene des experimentellen Musikinstrumentenbaus ein Wochenende lang ihre Ateliertüren (07.–08.11.). Und neben der Baselitz-Schau der Albertina zeigt das Polnische Institut die Fotoausstellung Anna Dąbrowska-Lyons: Polnischer Punk 1978–1984, beginnend mit einer Panel-Diskussion zum Thema Where have all the rebels gone? (25.11.)

Große Konzerte in Konzerthaus und Musikverein

Beim Eröffnungskonzert mit dem RSO Wien unter Leitung von Marin Alsop (30.10. Wiener Konzerthaus) kommt der Trompeterin Selina Ott eine besondere Rolle zu: Thomas Wally stellt in seinem neuen Konzert die Frage, was passiert, wenn die Solistin sich nicht in das Gesamtsystem fügt. Milica Djordjević, Trägerin des Claudio Abbado Kompositionspreises 2020 und bei Wien Modern sowohl im Eröffnungs- als auch im Abschlusskonzert zu hören, knüpft aus dem Nichts einen wunderschön widerborstigen Klangteppich. Christian Ofenbauer vollendet seinen Opernvierteiler mit einem radikalen Satyrspiel (ohne Worte), Andrea Sodomka zeigt die darin liegende Unschärfe. Kristallklar (ohne Töne).

Als Wandlerin zwischen zwei Welten kann die in Südkorea geborene große Komponistin Younghi Pagh-Paan bezeichnet werden. Kurz vor ihrem 76. Geburtstag kommt sie nach Wien für einen von ihr selbst gestalteten Portraitabend mit der MUK im Mozart-Saal des Wiener Konzerthauses (03.11.). Am Vorabend gibt es ein ungewöhnliches Solo unterwegs in der Stadt mit der Geigerin Nurit Stark (02.11. Start in der Votivkirche)

Beim Claudio Abbado Konzert im Goldenen Saal des Musikvereins (09.11.) interpretieren das Arditti Quartet, Sofia Jernberg und Holger Falk als Solist*innen im RSO-Debüt von Dirigent Christian Karlsen eine österreichische Erstaufführung von James Dillon und die Uraufführung des großen neuen Orchesterwerks von Chaya Czernowin: «Zu Beginn des Jahres 2020, also noch bevor die Covid-19-Pandemie zugeschlagen hat, hatte ich ein klares Konzept für das Orchesterstück: ein Stück, das große Blöcke orchestraler Massen zeigt, die durch gewaltige, unvorhersehbare Kräfte immer wieder zu- und auseinanderdriften. Das Stück sollte ein Lamento werden, ein Lamento über die Hybris von uns Menschen zu glauben, dass wir alles um uns herum kontrollieren können, und eine Erinnerung daran, dass es ungeahnte Kräfte gibt, die vielmehr uns und unsere Umwelt bewegen. Ich hatte keine Ahnung, dass im März 2020 unsere Welt zum Stillstand kommen und unser Kontrollverlust über die Natur so umwerfend zutage treten würde.» (Chaya Czernowin).

Das neue Oratorium von Elektronikpionier Thomas Kessler und dem markanten Erzähler, Essayisten und Dramatiker Lukas Bärfuss (Büchner-Preis 2019) erlebt am 14.11. seine Erstaufführung in der Jesuitenkirche. Das ensemble xx. jahrhundert feiert sein 50-jähriges Bestehen mit Uraufführungen von Tanja Elisa Glinsner und Johannes Maria Staud im Mozart-Saal des Wiener Konzerthauses (15.11.).

Das RSO Wien und Ingo Metzmacher laden nach der «stratosphärischen Gesamtleistung» (Donaukurier) bei den Salzburger Festspielen auch im Wiener Konzerthaus zu einer der raren Gesamtaufführungen von Friedrich Cerhas Spiegel (19.11.).

Der diesjährige Erste Bank Kompositionspreis wird beim Konzert des Klangforum Wien im Wiener Konzerthaus an den 1989 in Villach geborenen Komponisten, Arrangeur, Medienkünstler und Softwareentwickler Christof Ressi verliehen (24.11.).

Fraufeld (c) Markus Sepperer

16 Komponist*innen und Musiker*innen des Wiener Plattenlabels Fraufeld bieten im Mozart-Saal des Wiener Konzerthauses (27.11.) ein aktuelles Update zur rasant wachsenden Vielfalt von Frauen in Komposition und Improvisation.

Beat Furrer gibt ab dem 20.11. bei Wien Modern einen außergewöhnlichen Einblick in sein neuestes Schaffen: drei Uraufführungen, zwei österreichische Erstaufführungen, sämtliche Streichquartette mit dem Quatuor Diotima, zwei Abende mit Furrer als Dirigent, darunter zum Festivalabschluss sein Debüt am Pult der Wiener Symphoniker (30.11.): Neben eigenen Werken interpretiert er Milica Djordjevićs Quicksilver und Edgar Varèses Déserts. Das antiphonische Pionierwerk aus den 1950er- Jahren über die Vereinsamung des Menschen in der modernen Welt nimmt zum Festivalabschluss die Mobiltelefone des Publikums mit ins Spiel.

Zwei Festivals im Festival: Georg Baselitz + comprovise[#3]

Was hört Georg Baselitz persönlich am liebsten? Diese Frage beantwortet ein von ihm selbst, dem Musikverein und Wien Modern gemeinsam kuratiertes viertägiges Festival im Festival (22.–25.11.), bei dem der Künstler seine besonderen Leidenschaften mit dem Publikum teilt: zeitgenössische Musik, besonders Streichquartette, am liebsten fein dosierte, radikale. U.a. mit mehreren spektakulären Programmen des Quatuor Diotima, mit Beat Furrer als Komponist und Dirigent sowie mit Uraufführungen von Olga Neuwirth und Elisabeth Harnik nach einem Text von Georg Baselitz (20.–25.11.).

IGNM und Wien Modern präsentieren gemeinsam ein dreitägiges Festival im Festival zwischen Komposition und Improvisation (comprovise[#3], 26.–28.11.) mit viel Prominenz aus der österreichischen und internationalen Improvisationsszene.

Junger Zugang zu einem Pionier der grafischen Notation

Anesthis Logothetis (c) Cora Pongracz

Zum 100. Geburtstag von Anestis Logothetis stehen fünf Abende auf dem Programm, an denen zahlreiche junge Künstler*innen einen frischen Blick auf das eigenwillige Werk des Pioniers der grafischen Notation werfen (31.10., 04.11., 08.11., 12.11.+20.11.).

Programm für junges Publikum

Neben den Musiktheateruraufführungen Jorinde im MuTh (10., 14.+17.11.) und Der Besuch vom kleinen Tod im Dschungel Wien (01.–06.11.) (s. o.) bringen u.a. in Kooperation mit der IGNM und den Musikschulen Wien auch das erfolgreiche langjährige Projekt Junge Musik (25.11. im Reaktor) sowie die Matinée petite im mumok (07.11.) Kinder und Jugendliche mit neuer Musik in Berührung.

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